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Die Schmetterlinge Baden-Württembergs. Band 1: Tagfalter I Band 2: Tagfalter II


Eine zweibändige Monographie nur für die Tagfalter eines einzigen deutschen Bundeslandes? 137 Arten, langatmig abgehandelt auf weit mehr als 1000 Seiten Text? Was sich auf den ersten Blick ausnehmen mag wie die rührselige Reminiszenz an vergangene Jugendtage, in denen man mit Schmetterlingsnetz und Botanisiertrommel eine Faltersammlung zusammentrug, erweist sich beim näheren Hinsehen als eine der besten Dokumentationen einer einzigen Organismengruppe, die auf deutschem Boden in neuerer Zeit erarbeitet wurde.

Schmetterlinge – für die meisten Laien nicht sehr viel mehr als eine ästhetische Laune der Natur – sind längst zu wichtigen Werkzeugen des Naturschutzes geworden: Sie sind vor Ort mit relativ wenig Aufwand gut zu untersuchen, dem geübten Auge leicht zugänglich und wegen ihrer Auffälligkeit im Gelände geradezu für eingehende Populationsstudien prädestiniert. Wer über die Zerstörung der Natur klagt und sich für den Erhalt der wenigen Relikte naturnaher Standorte einsetzt, darf sich längst nicht mehr auf Augenschein und Hörensagen verlassen. Gebraucht werden harte Daten, die als anerkannte Ausgangsbasis für umweltanalytische Arbeiten dienen können.

Günter Ebert und Erwin Rennwald vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Karlsruhe legen mit den beiden Bänden eine detaillierte Dokumentation vor, die freilich in weiten Teilen bereits zum Fanal des Artensterbens wird: Vier Tagfalterarten sind hier bereits gänzlich ausgestorben (eine fünfte Art wurde in den achtziger Jahren in Nordbaden in kleinen Populationen wieder entdeckt).

Wie kritisch die Situation in Baden-Württemberg ist – das immerhin im Gegensatz zu Nord- und Nordwestdeutschland noch große Anteile naturnaher Flächen enthält –, sei am Beispiel des bekannten Apollofalters (Parnassius apollo) erläutert. Für diesen Bewohner freier Felsflächen, Geröllhalden und trocken-heißer Rasenhänge gab es Mitte des vergangenen Jahrhunderts 62 nachgewiesene Standorte im Ländle; 1930 waren es immerhin noch 30, deren Zahl bis 1970 auf zehn zusammenschmolz. Die letzte Schwarzwald-Population des Apollos erlosch 1983. Auf der Schwäbischen Alb, wo der Apollofalter noch in den sechziger Jahren außerordentlich häufig zu beobachten war, existiert heute nur noch eine gefährdete Restpopulation auf einem Bahndamm im Blautal, weil der natürliche Lebensraum durch Verbuschung den ökologischen Ansprüchen der Art nicht mehr entspricht.

Den beiden Autoren ist es gelungen, in rund fünfundzwanzigjähriger Arbeit so gut wie alle verfügbaren Daten zum Thema zusammenzutragen. Bis ins Detail werden alte Standortmeldungen auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft, so daß die resultierenden Verbreitungskarten wohl wirklich den aktuellen Kenntnisstand widerspiegeln. Auch für den interessierten Laien wird das Werk durch anschauliche Daten zur Lebensgeschichte der einzelnen Arten, mit zumeist geradezu exzellenten Farbphotos illustriert, zu einer lesenswerten Informationsquelle.

Dem professionellen Ökologen werden andererseits die Summendiagramme, die das Auftreten der fliegenden Insekten nach einzelnen Arten im jahreszeitlichen Verlauf dokumentieren, nur bedingt genügen, auch wenn sie nach Regionalräumen getrennt dargestellt sind. Tatsächlich zeigt sich hier eine generelle Schwäche heutiger ökologischer Forschungsansätze in Mitteleuropa: Eingehende populationsökologische Untersuchungen zur Individuenzahl, zum Verhalten, zur Lebensdauer, zum Ausmaß des Genaustauschs zwischen einzelnen Populationen gibt es in unseren Breiten so gut wie nicht. Derartige Freilanduntersuchungen (bis hin zu detaillierten Angaben zum Verhalten einzelner, individuell markierter Exemplare) haben in Großbritannnien, aber auch in den Niederlanden und in Skandinavien seit alters ihren Stammplatz in der professionellen, aber auch in der Amateurforschung. Bei uns hingegen wurde die Beschäftigung mit ganzen Organismen und ihrem ökologischen Umfeld lange Zeit für die Aufgabe leicht debiler Amateure gehalten. Forschungsmuseen und Universitäten haben – teilweise durch freiwillige Selbstisolierung oder durch geistige Klonierung – die Breite des organismischen Forschungsansatzes verloren, es zugleich aber auch nicht verstanden, ein entsprechend engagiertes Privatforschertum heranzubilden oder zu unterstützen.

Kein Zweifel: Die beiden Bände werden – und sei es nur wegen des geradezu sensationell günstigen Preises – zum Standardnachschlagewerk für Generationen werden. Die geschilderten Defizite der deutschen entomologischen Forschung gehen nicht zu Lasten der beiden Autoren. Sie sollten aber doch Anlaß sein, Forschungsansätze und ökologisches Selbstverständnis unserer Biologenschaft kritisch zu hinterfragen. Biologie spielt sich ebensowenig nur im Reagenzglas des Molekularbiologen ab, wie sie nicht in den Glaskästen des Schmetterlingssammlers ihren vollen Ausdruck findet. Was wir brauchen, ist eine Hinwendung zu ganzheitlichen Konzepten – in der biologischen Forschung ebenso wie in der Lehre.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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