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Die Schrittgeschwindigkeit des Lebens - nachgemessen

Der überraschende Befund, daß Menschen in größeren Orten schneller gehen als in kleineren, hat eine einfache Erklärung gefunden: Sie sind im Durchschnitt jünger.


Unter dem Titel "Die Schrittgeschwindigkeit des Lebens" veröffentlichten die amerikanischen Psychologen Mark und Helen Bornstein 1976 das aufsehenerregende Ergebnis einer Untersuchung, wonach die Menschen in einem Gemeinwesen um so schneller gehen, je größer dessen Einwohnerzahl ist (siehe auch Spektrum der Wissenschaft, März 1991, Seite 41). Ihre Daten hatten sie auf den Hauptstraßen von 15 Orten in Deutschland, Griechenland, Israel, der Tschechoslowakei und den USA erhoben, deren Größe vom Dorf mit 365 Einwohnern bis hin zur 2,6-MillionenStadt reichte. Eine Kontrolluntersuchung in sechs weiteren Städten im Jahre 1979 brachte das gleiche Ergebnis. Das Ehepaar Bornstein interpretierte die höhere Gehgeschwindigkeit in größeren Orten als Abwehrreaktion auf Reizüberflutung.

Auch eine Studie, bei der wir 1990 noch einmal die Gehgeschwindigkeit von Passanten an 14 Orten in Deutschland, der Schweiz und Italien (von Westberlin mit 2,1 Millionen bis Ponte Tresa mit nur 5200 Einwohnern) gemessen hatten, bestätigte den nunmehr bekannten Befund. Wir begnügten uns jedoch nicht mit dieser Feststellung, sondern wollten herausfinden, worauf der verblüffende Effekt beruht. Schließlich kann die Einwohnerzahl selbst die Gehgeschwindigkeit nicht unmittelbar beeinflussen – niemand fragt danach, ehe er sich in einer Stadt bewegt. Es muß einen anderen, mit ihr korrelierten Faktor geben, der das Lauftempo bestimmt.

Um diesen Faktor zu ermitteln, erfaßten wir in Freiburg für jeden Passanten zusätzliche Daten. So notierten wir unmittelbar im Anschluß an die Messung der Gehgeschwindigkeit eines Passanten das geschätzte Alter ( in Zehn-Jahres-Klassen), das Geschlecht, die Anzahl der Schritte auf der Meßstrecke von 20 Metern Länge und mehrere Maße für die momentane Personendichte, zum Beispiel die Anzahl der Personen auf der Meßstrecke.

Dadurch stellten wir nicht nur fest, daß in allen Altersklassen Männer im Schnitt schneller gehen als Frauen, sondern fanden auch den Grund dafür: Die im Mittel größeren Männer machen einfach längere Schritte, während deren Anzahl pro Zeit sogar etwas geringer ist als bei den Frauen. Erwartungsgemäß zeigte sich außerdem, daß die mittlere Gehgeschwindigkeit ab 30 Jahren mit zunehmendem Alter deutlich sinkt. Dagegen fand sich zu unserer Überraschung keine Korrelation zwischen der Gehgeschwindigkeit und einem der Maße für die momentane Personendichte. Was aber ist dann der unmittelbare Grund für die höhere Gehgeschwindigkeit in größeren Städten?

Auf Alters- und Geschlechtsunterschiede aufmerksam geworden, sahen wir uns die Populationsstruktur unserer zufällig gewonnenen Stichproben aus verschiedenen Städten genauer an. Dabei zeigte sich, daß der Anteil 20- bis 30jähriger Männer – das heißt der am schnellsten gehenden Komponente der Bevölkerung – positiv, der Anteil der am langsamsten gehenden über 60jährigen dagegen negativ mit der Einwohnerzahl korrelierte. In größeren Orten ist die Bevölkerung also im Durchschnitt jünger als in kleinen.

Aus den alters- und geschlechtstypischen Gehgeschwindigkeiten läßt sich für jede Stadt dasjenige Lauftempo berechnen, das nach ihrer Bevölkerungsstruktur zu erwarten wäre. Trägt man diese demographische Gehgeschwindigkeit nun gegen die Einwohnerzahl der Städte auf, zeigt sich eine positive Korrelation, die sich im Rahmen der Fehlergenauigkeit mit der ursprünglich gemessenen Beziehung zwischen Gehgeschwindigkeit und Einwohnerzahl deckt (Bild).

Unterschiede in der Altersstruktur der Städte vermögen den Befund, daß das mittlere Lauftempo mit der Einwohnerzahl steigt, somit hinreichend zu erklären. Eine weitergehende psychologische Erklärung erübrigt sich also.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 29
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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