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Die Seifertsche Vermutung ist falsch

Es ist nicht einfach, einen Igel zu kämmen, vor allem dann nicht, wenn man ein Wurm ist. Aber das ist noch gar nichts gegen die Kunst, einen Stöpsel zu stöpseln.

Heiner Würmeling machte es sich gerade auf dem Sofa bequem und blätterte in dem neuen Sachbuch "Der Wurmbau zu Babel". Da ringelte sich seine Frau ins Zimmer.

"Oh, was für ein Tag!" stöhnte Amelia. "Heiner, bitte erinnere mich daran, nie mehr oberirdisch einkaufen zu gehen. Mit all den Vögeln, es ist wirklich gefährlich! Ich mußte einen zudringlichen Spatz mit dem Regenschirm wegprügeln." Sie holte kurz Luft. "Jetzt bin ich gerade noch rechtzeitig für die Wettervorhersage gekommen. Mach doch bitte den Fernseher an."

"Aber wir haben uns niemals um Oberirdisches gekümmert."

"Nächsten Dienstag veranstaltet der Ringelpietz-Verein ein Grillfest, und ich möchte sicher sein, daß es keinen Wind gibt, der das Feuer auslöschen könnte. Schau, Tante Helminthia hat ein hübsches Deckchen gestiftet, für den Wohltätigkeitsbasar." Sie zeigte ihm ein unscheinbares weißes Tuch mit ebenso unscheinbarer Spitzenborte.

"Sieht nicht gerade nach einer Wohltat aus", dachte Heiner im stillen.

"Nun mach schon", quengelte sie.

Er streckte sich und drückte den Einschaltknopf – mit unerwartetem Effekt: Der Bildschirm wurde heller und heller und dann, mit einem Knacks, wurde es wieder ganz dunkel.

Eine halbe Stunde später hatte Heiner herausgefunden, daß es wohl unumgänglich sei, den Reparaturdienst anzurufen. "Au weia", sagte die Stimme in der Leitung und holte übertrieben tief Luft. "Das kann teuer werden. Mal sehen – ja, ich kann Sie am Donnerstag dieser Woche einschieben. Wiederhören."

Amelia war überhaupt nicht begeistert. "Also", sagte Heiner, um sie zu beruhigen, "eines kann ich dir mit Sicherheit über das Wetter am Dienstag sagen, auch ohne Vorhersage."

"Was?"

"Irgendwo wird es unter Garantie ganz windstill sein."

"Wieso? Wo? Hier?"

"Keine Ahnung, mein Goldfädchen. Aber irgendwo. Sydney oder Buxtehude oder sonst irgendwo."

"Sei nicht so albern, Heiner. Du behauptest immer Dinge, mit denen du dich nicht richtig auskennst..."


Wie kämmt man einen Igel?

"Aber dies weiß ich, daß es an jedem beliebigen Tag irgendwo auf der Erdoberfläche keinen Wind gibt. Na ja, jedenfalls keine horizontale Komponente – allenfalls aufsteigende oder absinkende Luftmassen. Das folgt aus dem wohlbekannten Satz von der behaarten Kugel, auch Igel-Satz genannt." "Aus dem was?" "Stell dir eine Kugel vor, die rundherum behaart ist", sagte Heiner. "Und nun versuchst du, die Haare so zu kämmen, daß alle flach und glatt liegen. Genauer: Die Richtungen, in welche die Haare zeigen, verändern sich stetig, und es gibt keine abrupten Wechsel." "Aha", sagte Amelia verständnislos. "Der Punkt ist", sagte Heiner, "daß es nicht geht. Es muß entweder einen Scheitel geben, oder aber mindestens eines der Haare steht senkrecht in die Höhe" (Bild 1 oben). "Wie kannst du da so sicher sein?" "Das ist ein Satz aus der Topologie. Du weißt schon, das ist so eine Art Gummituch-Geometrie." "Heiner, ich dachte, wir reden über das Wetter. Und jetzt geht es auf einmal um irgendwelche seltsamen behaarten Kugeln und Gummitücher." "Verzeih mir, mein Bändelchen. Ich habe nur versucht, ein wichtiges Konzept zu erklären. Topologie beschäftigt sich mit den Eigenschaften von Figuren, die unter stetiger Deformation – Biegen, Strecken, Stauchen, aber nicht Zerschneiden oder Zusammenkleben – unverändert bleiben. Der Igel-Satz ist eine topologische Wahrheit." "Mmhh", brummelte sie ungläubig. "Im Gegensatz dazu ist es sehr wohl möglich, einen behaarten Torus – also eine Form wie einen Zuckerkringel – glattzukämmen", setzte Heiner unvorsichtigerweise hinzu (Bild 1 unten). "Du wirst kein Haar an irgendeinem Zuckerkringel in meinem Haus finden", sagte Amelia indigniert. "Natürlich ist das in höheren Dimensionen alles viel interessanter", fuhr Heiner verzweifelt fort, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. "Zum Beispiel ist es möglich, eine n-dimensionale behaarte Sphäre glatt zu kämmen, wenn n ungerade, aber nicht, wenn n gerade ist." "Was meinst du mit einer n-dimensionalen Sphäre? Eine Sphäre ist eine Kugel, nicht wahr? Und ich würde sagen, die ist dreidimensional." "Aber mein kleines Schnuckeschnürchen, eine Sphäre, wie du sie meinst, ist zweidimensional. Das heißt natürlich, die Oberfläche einer Kugel", setzte er schnell hinzu. "Man benötigt zum Beispiel auf der Erde nur zwei Koordinaten, – geographische Länge und Breite –, um einen Punkt darauf zu bestimmen. Die Topologen nennen sie deshalb 2-Sphäre. Das eindimensionale Analogon, die 1-Sphäre, ist der Kreis. Es gibt aber auch Sphären in jeder höheren Dimension." "Höhere Sphären?" "So ähnlich. Man kann eine 2-Sphäre darstellen als die Menge aller Punkte im dreidimensionalen Raum, die von dem Nullpunkt den Abstand 1 haben, oder – algebraisch ausgedrückt – die Menge aller Punkte mit den Koordinaten (x,y,z), so daß ist. Entsprechend ist die n-Sphäre gleich der Menge aller Punkte im (n+1)-dimensionalen Raum, die im Abstand 1 zum Nullpunkt liegen. In Formeln ausgedrückt, handelt es sich um die Menge aller Punkte mit den Koordinaten und der Eigenschaft, daß ist." "Und wie hat man sich nun diese ungewöhnliche Ausgeburt mathematischer Genialität vorzustellen?" "Ach, ganz einfach. Fangen wir mit einer 2-Sphäre an", sagte Heiner. "Wenn du einen Punkt wegnimmst und sie flach nach außen biegst, zum Beispiel durch eine Projektion, erhältst du eine Ebene (Bild 2). Der fehlende Punkt geht sozusagen nach Unendlich. Umgekehrt kann man jede 2-Sphäre durch eine Ebene zusammen mit einem zusätzlichen Punkt darstellen. Der heißt unendlich ferner Punkt, und du kannst dir vorstellen, daß er am Ende jeder Geraden durch den Nullpunkt liegt. Analog kann man sich eine 3-Sphäre vorstellen als den gewöhnlichen dreidimensionalen Raum mit einem unendlich fernen Punkt, der auf jeder Geraden durch den Nullpunkt liegt." "Oh." "Es ist nun sehr leicht, die behaarte 3-Sphäre glattzukämmen", fuhr Heiner fort. "Das bedeutet nichts anderes, als die 3-Sphäre – beziehungsweise den gewöhnlichen Raum mit Zusatzpunkt – mit Haaren aufzufüllen, die nahezu parallel zu ihren Nachbarn liegen. Lege zum Beispiel eine Ebene in den Raum und stell dir in dieser Ebene eine Gerade vor, dazu einen Punkt außerhalb der Geraden und eine Menge von Spiralen, die sich aus diesem Punkt herauswinden und sich an die Gerade anschmiegen. Ich skizziere das mal", sagte er, und die verwirrte Amelia nahm gar nicht wahr, daß er auf Tante Helminthias Deckchen zu zeichnen begann (Bild 3a). "Dreh jetzt dieses Bild um die Gerade als Achse, dann wird aus dem Punkt ein Kreis und aus den Spiralen eine Schar spiralförmiger Flächen. Dann kämmst du entlang jeder dieser Flächen so, wie du einen Torus kämmen würdest, mit einer kleinen Variante: In der Nähe der Achse läßt du die Haare ziemlich vertikal stehen, aber je näher die Spiralfläche dem Kreis kommt, desto flacher legst du sie. Die Haare am Kreis liegen tangential. Dann paßt alles glatt zusammen, und kein Haar steht von der 3-Sphäre ab" (Bild 3b). "Wo sollen sie denn auch hinstehen? Ich denke, die 3-Sphäre ist der ganze dreidimensionale Raum." Heiner wollte gerade zu der Erklärung ansetzen, daß die 3-Sphäre in den vierdimensionalen Raum eingebettet sei, daß die Sache mit dem Kämmen darauf hinauslaufe, Tangentialvektoren an die Sphäre zu legen, und daß ja auf der Erde auch gelegentlich ein Haar zu Berge stehen könne, was dann sicherlich nicht tangential zur Erdoberfläche sei; aber er besann sich gerade noch rechtzeitig, daß Amelia schon etwas überfordert war. "Was ich meine, mein Älchen, ist, daß keines der Haare in der 3-Sphäre von der Länge null sein muß." "Aha". Amelia betrachtete die Zeichnung mißfällig. "Und was ist mit dem unendlich fernen Punkt?" "Das Haar am unendlich fernen Punkt steht genauso vertikal." "Und das obere Ende der Geraden?" "Schließt an das untere an. Eigentlich ist die Gerade nämlich nichts anderes als eine geschlossene Kreislinie." "Dann hast du zwei unendlich große, ineinanderliegende, kreisförmige, geschlossene Haarsträhnen." "Stimmt." "So eine Frisur hält niemals. Kannst du das denn auch ohne diese beiden geschlossenen Kreise?" "Ich weiß es nicht", sagte Heiner. "Ist es möglich, eine behaarte Sphäre so zu kämmen, daß es keine Haare der Länge null und keine Schleifen, also geschlossene Kurven, gibt? Das ist wirklich eine interessante Frage." "Gut", meinte Amelia scharf. "Du kannst darüber nachdenken, während du Tante Helminthias Deckchen wieder blütenweiß zu kriegen versuchst. Du hast es ganz vollgeschmiert." Zerknirscht schlängelte sich Heiner Würmeling zum benachbarten Waschsalon. Er warf Tante Helminthias Spen- de für den Wohltätigkeitsbasar in die Waschmaschine und schüttete eine Schachtel Waschpulver dazu. Er kritzelte auf der leeren Schachtel herum auf der Suche nach einer schleifenfreien Kämmung der 3-Sphäre – erfolglos.

Die Seifertsche Vermutung

"Hast du Probleme, alter Junge?"

"Albert!" Das war die vertraute Stimme von Albert Wurmstein, einem Angestellten am örtlichen Patentamt, hoffnungslos zerstreut, aber ein Experte für solche Probleme. Heiner begann sofort zu berichten.

"Aber das ist eine wohlbekannte Frage, die Herbert Seifert von der Universität Heidelberg im Jahre 1950 aufgeworfen hat und die als Seifertsche Vermutung bekannt geworden ist", rief Albert aufgeregt. "Es ist dabei hilfreich, wenn du dir vorstellst, die 3-Sphäre wäre mit irgendeinem strömenden Medium gefüllt, und die Haare lägen alle in Stromrichtung. Die meisten Strömungslinien folgen einem komplizierten Verlauf, aber manchmal kann eine von ihnen eine geschlossene Schleife bilden. Wie du Amelia gesagt hast, ist es ziemlich leicht, einen Fluß mit zwei geschlossenen Schleifen zu finden – aber sie wollte einen ganz ohne Schleifen haben."

"Eben."

"Die Frage lautet also, ob jeder glatte Fluß auf der 3-Sphäre, der keine Fixpunkte hat, mindestens eine periodische Flußlinie besitzt."

"Ich glaube schon."

"Dann hast du Glück, mein Freund. Die Antwort heißt nein."

"Was du nicht sagst!"

"Krystyna Kuperberg von der Universität Auburn in Alabama hat kürzlich das neue Ergebnis angekündigt. Das erste Indiz gegen die Seifertsche Vermutung hatte Paul Schweitzer von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) 1974 gefunden. Sein Beispiel ist glatt in dem Sinne, daß die Richtungen der Flußlinien ganz gut zusammenpassen, aber es ist nicht sehr glatt: Die Richtungen variieren zwar stetig, aber manchmal sehr heftig. Sein System ist nur einmal differenzierbar, wie die Mathematiker sagen. Später hat Jenny Harrison von der Universität von Warwick in Coventry ein glatteres Beispiel gefunden, das dreimal differenzierbar ist. Doch Krystyna Kuperbergs Beispiel ist unendlich oft differenzierbar, glatter geht's nicht. Und ihr Beweis enthält eine geniale neue Idee, die möglicherweise die ganze höherdimensionale Dynamik verändern wird."

"Du erzählst mir das besser genauer", sagte Heiner, gebührend beeindruckt. "Sonst glaubt mir Amelia nicht, daß ich die Antwort kenne."

"Ich will mein Bestes versuchen", sagte Albert. "Sag mal, bist du sicher, daß du genug Waschpulver in die Maschine getan hast?"

"Gute Idee", sagte Heiner und füllte eine weitere Schachtel ein.

"Nun, du weißt, man kann sich die 3-Sphäre als gewöhnlichen Raum vorstellen, vorausgesetzt, man erinnert sich an den unendlich fernen Punkt. Hier hindert er dich daran, alle Flußlinien in die gleiche Richtung weisen zu lassen. Das liefert einen glatten Fluß im gewöhnlichen dreidimensionalen Raum ohne geschlossene Kurven; fügt man jedoch den unendlich fernen Punkt hinzu, schließen sich die Flußlinien."

"Das habe ich Amelia auch gesagt."

"Wenn du das im Hinterkopf behältst, dann vergiß vorübergehend den unendlich fernen Punkt und denke dir nur einen Fluß im gewöhnlichen dreidimensionalen Raum. Alle Lösungswege zu diesem Problem beruhen auf derselben grundlegenden Idee: Man ändert durch Einfügen eines Stöpsels einen gegebenen Fluß ab und eliminiert dadurch eine ausgewählte geschlossene Schleife. Jedes kleine Gebiet der 3-Sphäre enthält eine Schar annähernd paralleler Flußlinien (Bild 4a). Man kann ein Bündel dieser Flußlinien herausschneiden und durch etwas Komplizierteres ersetzen: einen Stöpsel" (Bild 4b).

Albert Wurmstein fuhr fort: "Der Querschnitt eines Bündels von Flußlinien kann kompliziert aussehen – typischerweise ist er ein Ring (das Gebiet zwischen zwei konzentrischen Kreisen) oder etwas Ähnliches; das Bündel bildet also eine kurze, dicke Röhre von Linien. Wir ersetzen jetzt ein solches Bündel durch einen Stöpsel (plug). Das ist ein komplizierterer Fluß, der erstens kompatibel sein muß: Verläuft eine Flußlinie direkt von einem Ende zum anderen, so müssen sein Ein- und Austrittspunkt durch genau eine Flußlinie des ursprünglichen Flusses miteinander verbunden gewesen sein. Zweitens muß es mindestens eine Flußlinie geben, die im Stöpsel gefangen wird – sie führt in den Stöpsel hinein, aber nicht mehr heraus. Sie muß sich in einer Art Zick-Zack wie ein unendlicher Faden im Innern des Stöpsels umherwinden" (Bild 4b).

"Ich denke, ich hab's", sagte Heiner. "Apropos, Albert, erinnerst du dich, ob ich wirklich genug von dem Waschpulver nachgefüllt habe?"

"Ich glaube nicht", sagte Albert. Heiner stoppte die Waschmaschine, kippte noch eine Schachtel "Hyperweiß" hinein und beobachtete fasziniert die geschlossenen Kurven, denen die Waschpulverteilchen in der Lauge folgten, bevor sie sich schließlich auflösten.

"Ach so, Albert. Wenn man einen Stöpsel bei einer geschlossenen Kurve einfügt, so daß die Kurve in den Stöpsel hineinführt und dort gefangen wird, hat man die Schleife eliminiert – die Flußlinie ist nicht mehr geschlossen, sondern zugestöpselt. Das würde reichen für den Fluß, den ich gefunden habe."

"Ja, genau."

"Mit zwei solchen Stöpseln kann man zwei geschlossene Kurven zum Verschwinden bringen."

"Schon, aber siehst du denn nicht, wo dabei das Problem liegt?"

"Nein."

"Vielleicht erzeugt man dabei eine neue geschlossene Kurve?"

"Oh. Na gut, aber aus der Kompatibilitätsbedingung folgt, daß es keine neuen Schleifen geben kann, die außerhalb des Stöpsels verlaufen."

"Sicher. Aber was ist, wenn du innerhalb des Stöpsels neue Schleifen erzeugst, Heiner? Das ist die Hauptschwierigkeit, an der alle früheren Beispiele gescheitert sind. Krystyna Kuperberg hat sie dadurch gemeistert, daß sie Stöpsel eingeführt hat, die sich gewissermaßen in den Schwanz beißen, wie eine Schlange, was dazu führt, daß die geschlossenen Kurven in einem unendlichen Regreß gefangen werden."

"Schlau. Aber wie geht das?"

"Nun, sie beginnt mit einem sogenannten Wilson-Stöpsel, der genau zwei Schleifen enthält" (Bild 5a). "F. Wensley Wilson von der Brown-Universität in Providence (Rhode Island) hat ihn 1966 ersonnen. Die Flußlinien innerhalb des Stöpsels sind in Bild 5b zu sehen. Sie sind gerade so konstruiert, daß der Wert der Radialkoordinate r konstant bleibt; r ist der Abstand von der Ringachse. Wenn der Stöpsel verbogen wird, um in den Fluß eingepaßt zu werden, werden die Koordinaten als gemeinsam mit dem Stöpsel verbogen angenommen – ein technischer Punkt, der später wichtig sein wird. Nehmen wir an, der äußere Radius sei 3 und der innere 1. Dann liegen die beiden Schleifen in dem Zylinder, der durch r=2 definiert ist. In Bild 5c sind Flüsse in Zylindern verschiedener Größe zu sehen. Alle Flußlinien, die bei r=2 eintreten, werden gefangen – sie lagern sich immer dichter an den unteren Kreis an. Alle anderen Flüsse entkommen wieder. Der Fluß ist so gemacht, daß er bezüglich der Mittelebene spiegelsymmetrisch ist; daraus folgt, daß die Kompatibilitätsbedingung automatisch erfüllt ist."


Stöpsel im Stöpsel im Stöpsel...

"Krystyna Kuperberg nimmt so einen Wilson-Stöpsel", fuhr Albert fort, "aber sie ändert ihn ab, um die beiden Schleifen zu eliminieren, und zwar indem sie zwei Miniatur-Exemplare des Stöpsels in ihn selbst einfügt und diese dabei so deformiert, daß die Flußlinien zusammenpassen" (Bild 6).

"Der eingefügte Stöpsel enthält als verkleinerte Kopie des großen wieder zwei eingefügte Stöpsel, und so weiter – eine unendliche Folge immer kleiner werdender Stöpsel. Wenn man sorgfältig vorgeht, erreicht man, daß nicht nur die beiden Schleifen eliminiert sind, sondern auch keine neuen erzeugt werden. Der Trick besteht darin, die Flußlinien innerhalb des Stöpsels so zu wählen, daß die r-Koordinate jedesmal größer wird, wenn eine Flußlinie die Stelle zwischen Stöpsel und eingefügtem Stöpsel überschreitet, ausgenommen eine einzige Linie mit einem Eintrittspunkt bei r=2. Genauer: Die r-Koordinate im System des eingefügten Stöpsels ist größer als die im System des alten. Dadurch hat die Flußlinie beim Austritt aus dem eingefügten Stöpsel einen größeren Abstand von der Mittellinie als zuvor. Die r-Koordinate ist also konstant, solange die Flußlinie keine Übergangsstelle trifft, und kann ansonsten allenfalls anwachsen, aber nie abnehmen. Also kann die Flußlinie sich nicht selbst wiedertreffen, wenn sie an eine Übergangsstelle gerät. Diejenigen, die nicht durch einen eingefügten Stöpsel verlaufen, sind nach der Konstruktion ohnehin keine Schleifen. Die einzige Flußlinie, für welche dieses Argument nicht zutrifft, ist die eine bei dem einzelnen besonderen Eintrittspunkt r=2. Man vergewissert sich, daß diese gerade eine der beiden Schleifen im Wilson-Stöpsel ist. Mit sorgfältiger mathematischer Buchhaltung kann man sicherstellen, daß im Innern des Stöpsels keine neuen Schleifen erzeugt werden. Die so eingestöpselte Kurve windet sich in einer sehr komplizierten, ja chaotischen Weise – aber es paßt alles glatt zusammen."

"Albert, das ist toll! Aber wo kommt bloß all dieser Schaum her?" fragte Heiner, während sie beide langsam auf die Straße gespült wurden.

"Jemand hat wohl zuviel Waschpulver in die Maschine getan", sagte Albert.

"So ein Idiot."

Ein paar Stunden später berichtete Heiner der skeptischen Amelia ausführlich über Krystyna Kuperbergs negative Lösung des Seifertschen Problems.

"Warst du wohl wieder einen trinken mit diesem Wurmstein?"

"Nein, ich habe den alten Knaben zufällig im Waschsalon getroffen."

"Und hast du Tante Helminthias Deckchen richtig saubergekriegt?"

"Strahlendweiß!"

"Laß mal sehen." Heiner fummelte ein textiles Knäuel aus seiner Tasche.

"Aber das schöne Stück war doch größer als eine Briefmarke!"

"Sie ist eingegangen", meinte Heiner ganz unglücklich.

"Das sehe ich", sagte Amelia pikiert. "Offensichtlich hast du nicht genug Waschpulver in die Maschine getan."

Literaturhinweise

- On the Minimal Sets of Non-singular Vector Fields. Von F. W. Wilson in: Annals of Mathematics, Band 84, Seiten 529 bis 536, 1966.

– Counterexamples to the Seifert Conjecture and Opening Closed Leaves of Foliations. Von P. A. Schweitzer in: Annals of Mathematics, Band 100, Seiten 386 bis 400, 1974.

– A C‚ Counterexample to the Seifert Conjecture in Dimension Three. Von Krystyna Kuperberg. Preprint, Department of Mathematics, Auburn University AL 36849, USA. e-mail: kuperkm @mail.auburn.edu.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1994, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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