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Biologie: Die Sequenz

Der Wettlauf um das menschliche Genom
Aus dem Englischen von Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt. Hanser, München 2001. 416 Seiten, € 24,90


Mit einer Art von postmodernem Hofzeremoniell ging am 26. Juni 2000 ein Jahrhundert in der Geschichte der Biologie zu Ende. In Gegenwart des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und – über TV zugeschaltet – des britischen Premierministers Tony Blair traten die Kapitäne zweier rivalisierender Teams vor die Medien der Welt und verkündeten den Abschluss des Rennens um die Aufklärung des menschlichen Erbgutes. Große Worte waren wohlfeil zu haben: "wichtigste menschliche Errungenschaft seit Erfindung des Rades", "wichtiger als die Landung auf dem Mond", ja von einer "zweiten Schöpfung" war die Rede. Überhaupt hatte das Mythische und Religiöse eine Sternstunde: "Wir stehen vor dem Wunder von Gottes höchstem und heiligstem Geschenk", so Präsident Clinton; oder: "Es macht mich demütig und ehrfürchtig, dass wir einen ersten Blick auf unseren eigenen Bauplan werfen, den vorher nur Gott gekannt hat", so Francis Collins, einer der beide Kapitäne.

Was war geschehen?

Seit James Watson und Francis Crick 1953 die Struktur der DNA beschrieben, hat die Gentechnik ungeheure Fortschritte gemacht. Mit ihrer Hilfe sind Isolierung und Untersuchung jedes Gens möglich, jedenfalls von Genen, die man sich vorstellen kann. Die Erfolge gerade im Bereich der Humangenetik waren überwältigend: Einige tausend menschliche Gene wurden bekannt, darunter viele, die, wenn durch Mutation verändert, menschliche Erbkrankheiten verursachen. Aber die traditionelle Gentechnik hat ihre Grenzen, denn viele Krankheiten werden durch Störungen in einem Netzwerk von einander beeinflussenden Genen bestimmt, darunter von Genen, die man sich eben nicht so ohne weiteres vorstellen kann. Hier kann man nur weiter-kommen, wenn man möglichst alle Gene des Menschen kennt. Vor diesem Hintergrund wurde in den 1980er Jahren erstmals die Idee diskutiert, die Gesamtheit der menschlichen Gene aufzuklären, also das gesamte menschliche Genom mit seinen DNA-Strängen aus zusammen über drei Milliarden Bausteinen.

Von vornherein war klar, dass ein Human-Genom-Projekt einen gewaltigen Aufwand erfordern würde. Immerhin dauerte Anfang der 1980er Jahre selbst die Entzifferung eines vergleichsweise winzigen Bakteriengenoms noch viele Monate bis Jahre. Überdies wusste man, dass Gene nur wenige Prozent der gesamten DNA ausmachen. Der größte Teil der DNA besteht aus informationsleeren Strecken, die zudem noch die informationstragenden DNA-Stränge der meisten Gene unterbrechen.

Aus zweifelhaften Anfängen wurde dann doch ein erfolgreiches Unternehmen, zuerst geleitet vom charismatischen James Watson, der dann verärgert seinen Platz für Francis Collins freimachte. Der erfolgreiche, aber doch gemächliche Verlauf änderte sich jäh, als der Störenfried Craig Venter die Bühne betrat, der das ganze Vorhaben schneller, billiger und genauer durchführen wollte – und vorher in einer Art von Fingerübungen mit Bakterien- und Fliegengenomen gezeigt hatte, dass er dazu auch in der Lage ist. Diese Geschichte samt dem Motivationsgemisch aus wissenschaftlichem Ehrgeiz, persönlichem Geltungsbedürfnis und Geschäftssinn, das die Beteiligten trieb, beschreibt Kevin Davies in seinem Buch.

Er hat das alles aus der Nähe beobachten können, denn er war einer der Gründer der Zeitschrift "Nature Genetics" und leitet jetzt den Verlag Cell Press, wo einflussreiche wissenschaftliche Arbeiten auch im humangenetischen Bereich erscheinen. So kann er aus intimer Kenntnis die geradezu atemberaubende Entfaltung der molekularen Humangenetik beschreiben, die dramatischen Ereignisse bei der Entdeckung medizinisch wichtiger Gene, die zunehmende Rolle der molekularen Genetik für die Gerichtsmedizin und die Erforschung der menschlichen Vor- und Frühgeschichte, schließlich das aufregende Rennen um die Entzifferung des Humangenoms.

Davies ist ein aufmerksamer und kritischer Zeuge dieser Ereignisse und zugleich ein meisterhafter Erzähler, der Fachleuten wie Nichtfachleuten etwas zu sagen hat. Fachleute erhalten eine gute Zusammenfassung einer spannenden Periode in der Geschichte der Wissenschaften und lernen nebenher, wie sich komplizierte Sachverhalte in der Öffentlichkeit darstellen lassen, und zwar sowohl mit Leichtigkeit als auch mit Genauigkeit. Das Buch enthält ein ausführliches Personen- und Sachregister sowie 800 Hinweise auf Artikel in Fachzeitschriften und auf Zeitungs- und Fernsehinterviews, Informationsquellen, die selbst den fachlich Interessierten nicht ohne weiteres bekannt sind. Und die Nichtfachleute, für die dieses Buch geschrieben wurde, werden ihre Freude an der lockeren, weil personenbezogenen Darstellung haben.

Davies weiß auch die eingangs erwähnten Feierlichkeiten ins richtige Maß zu setzen, indem er einen Reporter zitiert: "Ich wundere mich ein wenig über den Zeitpunkt. Sie haben 97 Prozent des Genoms kartiert, 85 Prozent sequenziert und (gerade einmal) 24 Prozent fertig gestellt. Wieso wählen Sie diesen Zeitpunkt für die Bekanntgabe?" Michael Morgan, Direk-tor des Genetikprogramms beim britischen Wellcome Trust (einem Hauptfinancier des Human-Genom-Projektes), vermutet, es sei der einzige Zeitpunkt gewesen, an dem sowohl Clinton als auch Blair einen Platz im Terminkalender hatten.

Die wissenschaftliche Veröffentlichung kam dann auch erst im Februar 2001, diesmal getrennt: das durch öffentliche Mittel geförderte internationale Human-Genom-Projekt in der hochangesehenen Zeitschrift "Nature", Venters Privatfirma Celera Genomics in der ebenso hochgeschätzten Zeitschrift "Science". Über die fachlichen Details hinaus wird aus beiden Berichten deutlich, wie begrenzt das bisher gewonnene Wissen ist. Die vorliegende Sequenz hat noch viele, oft geradezu peinliche Lücken; selbst eine so nahe liegende Frage wie die nach der Zahl der menschlichen Gene kann noch lange nicht genau beantwortet werden: Sind es nur wenig über 30000 oder vielleicht doch eher 50000?

Immerhin: Mit dem Katalog des Humangenoms haben Forscher jetzt eine gute Ausgangsposition, um Ordnung und Verstehen in das Gewirr der Beziehungen zu bringen, vielleicht vergleichbar mit der Situation von Literaturwissenschaftlern, die einen langen Text in einer fremden Sprache verstehen möchten, aber erst jetzt in den Besitz eines geeigneten Wörterbuches gekommen sind.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2002, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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