Direkt zum Inhalt

Die Staatsverschuldung wächst - was sind die Ursachen?

Warum sollte eine Regierung in Finanzkrisen ihre Chancen auf Wiederwahl durch unpopuläre Einsparungen oder Steuererhöhungen verschlechtern|? In allen westlichen Industrieländern neigen die Politiker eher dazu, die Staatsverschuldung in die Höhe zu treiben – und so ihren persönlichen Nutzen zu maximieren. Solch provokative Thesen stehen im Mittelpunkt der Public-Choice-Theorie.

Seit der ersten Ölkrise im Jahre 1973 sind in nahezu allen Industrieländern die Schulden der öffentlichen Hand dramatisch gestiegen. Spitzenreiter auf der Negativskala 1993 ist Belgien, dessen Staatsverschuldung 129 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt (Bild 1); es dürfte allerdings bald von Italien überrundet werden, das sich jährlich mit 9,7 Prozent des BIP neu verschuldet. Vergleichsweise gut steht Japan mit sechs Prozent Gesamt- und einem Prozent Neuverschuldung da.

Für alle OECD-Staaten zusammen ergibt sich in diesen 20 Jahren ein Anstieg der Verschuldung von 35 auf 64 Prozent des BIP. Diese Entwicklung spiegelt im wesentlichen den langfristigen Trend der Haushaltspolitik wider, während die jährliche Neuverschuldung vor allem von konjunkturellen Einflüssen bestimmt wird.


"Naive Erklärungsansätze"

Weil Einnahmen und Ausgaben eines Staates immer wieder differieren, ist die Finanzierung eines Fehlbetrags über Kredite nicht unbedingt anrüchig. Denn die Alternative (von Einsparungen einmal abgesehen), die Steuersätze kurzfristig dem jeweiligen Finanzierungsbedarf anzupassen, brächte große Probleme mit sich – Angebot und Nachfrage würden sich dann nicht nach realwirtschaftlichen, sondern nach steuerlichen Erfordernissen regeln. Um die daraus resultierenden wirtschaftlichen Probleme zu vermeiden, fordern die Ökonomen Steuerglättung, also das Gleichbleiben der Steuereinnahmen unabhängig vom Konjunkturverlauf.

Ein weiteres Argument für eine Neuverschuldung ist das Deficit-Spending (im Prinzip die Finanzierung von Investitionen und Subventionen durch Vorgriff auf später eingehende Haushaltsmittel): Der Staat sucht in einem Konjunkturtief die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu beleben, indem er zum Beispiel mehr kreditfinanzierte öffentliche Aufträge vergibt.

Das Postulat der Steuerglättung und des DeficitSpending gehört zu den sogenannten naiven Erklärungsansätzen für die öffentliche Verschuldung. Die Wirksamkeit dieser Strategie ist inzwischen jedoch nicht unumstritten. So verweisen Ökonomen heute auf die großen zeitlichen Verzögerungen einer antizyklischen Finanzpolitik: Bis die Rezession erkannt ist und Gegenmaßnahmen wirksam geworden sind, kann das DeficitSpending sogar das Gegenteil von dem bewirken, was eigentlich beabsichtigt wurde.

Wie auch immer – beide Erklärungsansätze rechtfertigen eine Finanzierung über Kredite nur als vorübergehende Maßnahme. Für eine seriöse Haushaltsführung müßten also irgendwann wieder die Einnahmen die Ausgaben übersteigen. Offensichtlich verläuft aber die Staatsverschuldung nur in eine Richtung: nach oben.


Analyse der Public Choice

Die Public Choice – eine Theorie, die sich vor allem mit der Analyse politischer Prozesse in Demokratien beschäftigt – hat dafür eine plausible Erklärung: Für Politiker sei es einfacher, die Staatsschulden zu vergrößern, als unpopuläre Einsparungen oder Steuererhöhungen durchzusetzen.

Was auf den ersten Blick wie eine Demontage der Volksvertreter aussehen mag, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ökonomische Grundweisheit. Die Volkswirtschaftslehre setzt voraus, daß jeder private Haushalt und jedes Unternehmen rational handelt und versucht, seinen Nutzen zu maximieren – diese Motive werden nun auch auf die Politiker übertragen.

Die politökonomische Frage lautet: Warum ist Verschuldung politisch weniger riskant als eine erhöhte Besteuerung? Dabei meint riskant den Verlust von Wählerstimmen. Die Public Choice, mit der wir das Problem an unserem Institut untersucht haben, liefert dafür einige wichtige Gründe ("Staatsverschuldung – Ursachen und Begrenzung" von Friedrich Heinemann, Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Nummer 214, Deutscher Instituts-Verlag, Köln 1994):

- Unwissenheit. Umfragen in den USA wie auch in Deutschland haben ergeben, daß ein Großteil der Wähler sich zwar für den Abbau des Haushaltsdefizits ausspricht, zugleich aber Einsparungen oder Steuererhöhungen ablehnt. Als Grund dafür ist zu vermuten, daß mancher Bürger nicht weiß oder nicht versteht, daß die Schulden von heute mit den Steuern von morgen beglichen werden müssen.

Diese Illusion wird noch dadurch verschlimmert, daß die öffentliche Hand dazu neigt, ihr gesamtes Ausmaß an Schulden durch Nebenhaushalte und Sonderfonds zu verschleiern. Die im Zuge der Vereinigung beider deutscher Staaten eingerichteten Nebenhaushalte "Fonds Deutsche Einheit" und "Kreditabwicklungsfonds" sind geradezu klassische Beispiele dafür; immerhin umfaßt der ab 1995 daraus hervorgehende sogenannte Erblasttilgungsfonds gut 400 Milliarden Mark.

- Zeit. Ein Wähler, der damit rechnet, daß ihn der Ausgleich der Staatsschulden in Form einer irgendwann erforderlichen Steuererhöhung nicht mehr treffen werde, tendiert ebenfalls zu schuldenfinanzierten Staatsausgaben.

Entscheidend für ein solches "Nach mir die Sintflut"-Votum ist das Steuerzahlerleben, also die Anzahl der Jahre, die der einzelne den Fiskus wahrscheinlich noch bedienen muß. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig: Je älter der Wähler ist und je kürzer die Lebensarbeitszeit ausfällt, desto attraktiver scheint die Ver-schuldungsAlternative.

Eine gewisse Weitsicht ist zumeist nur bei einem Teil der Bevölkerung vorhanden. Insbesondere Eltern, die auf das Wohlergehen ihrer Kinder bedacht sind, betrachten die drohende Schuldenlast ihrer Nachkommen wie ihre eigene und können darum einer Kreditfinanzierung wenig Gutes abgewinnen. Allerdings scheinen diese persönlichen Bindungen zwischen den Generationen derzeit so schwach wie nie zuvor. Denn für alle Industrienationen gilt, daß die Geburtenraten sinken, der Anteil der kinderlosen Haushalte wächst und der Eigennutz zunimmt.

- Verfassung. Rasant steigende Verschuldungsquoten sind erst seit Anfang der siebziger Jahre zu beobachten. Vorher sah die Bevölkerung öffentliche Schulden offenbar als vorübergehendes Übel an. Es galt der ungeschriebene Verfassungssatz, Kreditfinanzierung allenfalls unter katastrophalen Bedingungen wie vor allem in Kriegszeiten zu akzeptieren. Erst der Keynesianismus – eine wirtschaftstheoretische Konzeption, die auf der Lehre des britischen Volkswirtschaftlers und Diplomaten John Maynard Keynes (1883 bis 1946) beruht und fordert, daß der Staat in einer wirtschaftlichen Rezession die Nachfrage durch zusätzliche Ausgaben oder Steuersenkungen erhöht – machte die Verschuldung auch in Friedenszeiten akzeptabel.

In Deutschland beispielsweise begrenzt der Artikel 115 des Grundgesetzes das Defizit im Bundeshaushalt auf die Höhe der Investitionsausgaben. Mehr ist nur zulässig, wenn damit eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abgewehrt werden kann.

Die durchaus hehre Absicht des Gesetzgebers zeigt jedoch wenig Wirkung – denn nirgends ist definiert, was genau unter gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht zu verstehen sei. Selbst die in der Wirtschaftssprache als magisches Viereck bekannten konjunkturpolitischen Ziele – stabiles Preisniveau, hoher Beschäftigungsstand, ausgeglichene Zahlungsbilanz und angemessenes Wirtschaftswachstum – helfen nicht weiter; denn sie konkurrieren zeitweilig miteinander, so daß Prioritäten oder Kompromisse gesetzt werden müssen. Es bleibt folglich genug Freiheit für politische Interpretationen.

Dies allein wäre nicht schlimm – problematisch ist jedoch, daß der Beurteilungsspielraum ausschließlich der Politik überlassen bleibt. Die Regierung kann nämlich mit ihrer parlamentarischen Mehrheit den Artikel 115 des Grundgesetzes faktisch außer Kraft setzen, indem sie selber – wie in Artikel 109 des Grundgesetzes ausdrücklich vorgesehen – eine wie auch immer definierte Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts feststellt.

- Regierungszeit. Das Handeln von Politikern wird auch – manche möchten sogar sagen: überwiegend – durch Wahltermine bestimmt. Ähnlich wie beim Wähler besteht bei ihnen zumindest die Tendenz, Neuverschuldung einer Steuererhöhung dann vorzuziehen, wenn das Nachfinanzieren durch Steuern nicht mehr in die Amtszeit der Verantwortlichen fällt (Bild 2).

- Wahlrecht. Je mehr Parteien in einer Regierung vertreten sind, desto wahrscheinlicher ist es, daß in Krisenzeiten die gebotenen Einsparungen nicht durchgesetzt werden können und Kredite zur Finanzierung der Ausgaben herhalten müssen.

Die Zersplittung der Parteienlandschaft und die damit oft verbundenen Koalitionsregierungen sind eine Folge der sehr unterschiedlichen Weltbilder in der Bevölkerung und des Wahlrechts. Beim uneingeschränkten Verhältniswahlrecht etwa, wie es bislang in Italien üblich war, errechnen sich die Sitze jeder Partei nach ihrem landesweiten Stimmenanteil – was ein Viel-Parteien-Parlament begünstigt. Hingegen wirkt ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster für kleine Parteien als nahezu unüberwindliche Hürde für den Einzug ins Regierungshaus. Unter diesen Umständen nimmt es nicht wunder, daß von 17 OECDStaaten 1989 die Länder mit Verhältniswahlrecht eine am BIP gemessene Staatsverschuldung von durchschnittlich mehr als 70 Prozent aufwiesen, die Staaten mit Mehrheitswahlrecht hingegen nur eine von etwa 40 Prozent.

- Zentralbank. Eine solche politisch unabhängige und auf das Ziel eines stabilen Preisniveaus verpflichtete Institution wie die Deutsche Bundesbank wirkt dem Hang zu hohen Defiziten entgegen. Sie wird versuchen, sich dem Wunsch der Budgetpolitiker nach einer lockeren Geldpolitik zu verschließen, indem sie die Inflation bekämpft. Denn über die Inflation ließen sich die realen Schulden senken und die Abgaben in einem progressiven Steuersystem nahezu unbemerkt steigern, auch ohne die Steuersätze zu erhöhen.


Vorschläge zur Reform

Um die Staatsschulden Deutschlands zu konsolidieren, wären nach Meinung der Public-Choice-Theoretiker folgende Maßnahmen erforderlich:

- Der öffentliche Sektor müßte vollständig bilanziert werden, um die politischen Kosten (Verlust von Wählerstimmen) der Verschuldung zu erhöhen;

- neue familienpolitische Akzente müßten gesetzt werden, denn eine kinderreiche, junge und verantwortungsbewußte Gesellschaft neigt weniger zur Verschuldung;

- der Artikel 115 des Grundgesetzes wäre zu novellieren, wobei nicht unbedingt auf eine Ausnahmeklausel verzichtet werden müßte. Wichtig wäre aber, die institutionellen Grenzen der Staatsverschuldung noch enger zu ziehen und den Begriff der öffentlichen Investitionen näher zu definieren, als es das Bundesverfassungsgericht 1989 und auch der wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums versucht haben.

Woher der Antrieb zu solchen Reformen kommen soll, wird auch gesagt: aus der Bevölkerung, die inzwischen wieder sehr sensibel auf Staatsschulden reagiert. Dies verwundert nicht, denn schließlich entfallen von der öffentlichen Schuldenlast auf jeden einzelnen der rund 80 Millionen Deutschen derzeit mehr als 21000 Mark – ein Betrag, vor dem so manche Wähler und Wählerinnen zurückschrecken würden, wären es ihre privaten Schulden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1995, Seite 107
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.