Die Suche nach seltsamer Materie
Im Massenbereich zwischen gewöhnlichen Atomkernen und superdichten Neutronensternen erstreckt sich gleichsam eine nukleare Wüste – ein Bereich ohne jede Form von Kernmaterie. Im Prinzip könnten strange-Quarks diese Kluft zwischen Mikro- und Makrokosmos schließen.
Seit einigen Jahren spekuliert man in der Physik über ein interessantes Phänomen: Protonen und Neutronen lagern sich einerseits bereitwillig zu mehreren bis einigen hundert zusammen, andererseits bilden sie astronomisch große Materieballungen. Zwischen den unsichtbar winzigen Atomkernen und den superdichten Neutronensternen – eigentlich gigantischen Atomkernen mit mehr als 10 Kilometern Durchmesser – hat man aber bisher keine Form nuklearer Materie entdeckt. Warum?
Verbieten die bekannten physikalischen Gesetze den Kernteilchen, sich zu Objekten mittlerer Masse zusammenzuschließen? Oder ist diese nukleare Wüste in Wirklichkeit von exotischen und nur noch nicht entdeckten Materieformen erfüllt?
Tatsächlich scheint das Standardmodell, das den derzeitigen Stand des Wissens über die Elementarteilchen umfaßt, die Existenz neuartiger Materie in diesem Zwischenbereich nicht zu verbieten. Ihre Entdeckung würde vielleicht eines der größten kosmologischen Rätsel erklären – das Fehlen von Masse: Hypothetische sogenannte dunkle (weil an irgendwelcher Strahlung nicht zu erkennende) Materie müßte eigentlich mehr als 80 Prozent der gesamten Masse im Universum ausmachen.
Sie nachzuweisen und ihre Natur zu klären wäre ein enormer Erfolg. Darum suchen derzeit viele Forscher unterschiedlicher Institute und Universitäten am Brookhaven-Nationallaboratorium der USA in Upton (New York) nach experimentellen Indizien für exotische Kernmaterie, die den riesigen Zwischenraum zwischen Mikro- und Makrokosmos zu füllen vermag (Bild 1).
Materie-Bausteine
Dem Standardmodell zufolge besteht die nukleare Materie aus Quarks. Davon gibt es sechs Varianten (englisch flavors), die sich in drei Paaren anordnen lassen: up und down, strange und charm sowie top und bottom (oder truth und beauty; mit diesen Namen ist keine Vorstellung entsprechender Eigenschaften verbunden). Bis auf das top-Quark hat man alle Typen nachgewiesen.
In der menschlichen Erfahrungswelt spielen praktisch nur Teilchen aus up- und down-Quarks eine Rolle. Beispielsweise besteht ein Proton aus zwei up-Quarks (deren jedes eine gebrochene Elementarladung von +2/3 trägt) und einem down-Quark (mit einer Ladung von -1/3, so daß die Gesamtladung ganzzahlig ist, nämlich +1). Zwei down-Quarks und ein up-Quark bilden ein Neutron.
Die anderen vier Quark-Flavors wurden bisher nur in äußerst kurzlebigen Elementarteilchen gefunden. Doch eröffnen neuere theoretische Kalkulationen die Möglichkeit, daß die zwei in gewöhnlicher Materie vorkommenden Quark-Varianten zusammen mit einer dritten Art, dem seltsamen oder strange-Quark, stabile Formen bilden. Diese seltsame Quark-Materie könnte sich durchaus zu Objekten zusammensetzen, deren Masse im Bereich zwischen Atomkernen und Neutronensternen liegt (Bild 2).
Um das zu verstehen, müssen wir das Standardmodell genauer betrachten. Protonen, Neutronen und andere aus Quarks zusammengesetzte Teilchen nennt man Hadronen (nach griechisch hadros, stark, weil sie der starken Kernkraft unterliegen; alle übrigen Teilchen sind die "leichten" Leptonen, zu denen auch das Elektron und die Neutrinos gehören). Die Elementarteilchenphysiker stellen sich die Hadronen oft vereinfacht als winzige Beutel vor, in denen sich die Quarks zwar mehr oder weniger frei bewegen, aus denen sie aber nicht entkommen können. Alle bekannten Hadronen interpretiert man heute als Beutel, die entweder – im Falle der Baryonen wie Proton und Neutron – drei Quarks enthalten oder als Mesonen ein Quark und ein Anti-Quark; wie bei Elementarteilchen üblich, gibt es zu jedem Quark ein Antiteilchen (Bild 3).
Aufgrund der schwachen Wechselwirkung, die auch für den Beta-Zerfall instabiler Atomkerne verantwortlich ist, können die Quarks im Beutel ihre Identität wechseln; zum Beispiel verwandelt sich dadurch ein down-Quark (Symbol d) in ein up-Quark (u). Aus einem Neutron (udd) kann auf diese Weise ein Proton (uud) entstehen; dabei werden außerdem ein Elektron und ein Anti-Neutrino freigesetzt. Hingegen ist umgekehrt der Zerfall eines Protons nicht möglich, weil das Neutron eine etwas höhere Masse hat und der Prozeß darum energetisch verboten ist.
Die schwache Kernkraft vermag auch ein seltsames Quark unter Energieabgabe in ein down-Quark zu verwandeln. Dieser Effekt erklärt, warum Elementarteilchen, die – wie etwa das Lambda-Teilchen (ein Baryon aus einem up-, einem down- und einem strange-Quark) oder das K-Meson (aus einem anti-strange-Quark mit einem up- oder down-Quark) – ein seltsames Quark enthalten, nicht stabil sind; sie zerfallen typischerweise in 10-10 Sekunden.
Nun spekulieren wir weiter: Sind stabile Beutel möglich, die mehr als drei Quarks enthalten? Bisher sind solche Konfigurationen nicht nachgewiesen worden, aber theoretisch scheint nichts gegen sie zu sprechen. (Die fundamentale Theorie ist freilich mathematisch derart komplex, daß eine vollständige Beschreibung der Hadronen damit noch nicht gelungen ist.) Klar ist jedenfalls: Falls solche nuklearen Objekte existieren, können sie nicht nur aus up- und down-Quarks aufgebaut sein.
Dazu betrachte man das Deuteron, den Atomkern des schweren Wasserstoffs, der sich aus einem Proton und einem Neutron zusammensetzt – beziehungsweise eben aus sechs Quarks. Wie aus frühen kernphysikalischen Experimenten bekannt, sind Proton und Neutron zwar zu einem Deuteron-Zustand verbunden, doch die sechs Quarks, die diese Teilchen bilden, teilen sich säuberlich getrennt auf zwei Beutel mit je drei Quarks auf: uud (Proton) und udd (Neutron). Das wäre unmöglich, falls es einen einzigen Sechs-Quark-Beutel mit geringerer Gesamtenergie als beim Zwei-Nukleonen-Zustand des Deuterons gäbe; dann würden sich nämlich die Quarks spontan zu diesem stabileren Zustand umgruppieren. Das Argument läßt sich nun leicht auf alle Atomkerne verallgemeinern: Falls es stabile Multiquark-Beutel mit mehr als drei up- oder down-Quarks geben würde, dann wäre Materie, wie wir sie unter gewöhnlichen irdischen Umständen kennen, nicht möglich – und wir auch nicht.
Aber was geschähe, wenn strange-Quarks zu den up- und down-Kombinationen hinzukämen? Diese seltsame Quark-Materie bestände aus jeweils etwa gleich vielen up-, down- und strange-Quarks in einem einzigen, größeren Beutel. Im Jahre 1971 betrachtete Arnold R. Bodmer von der Universität von Illinois in Urbana erstmals diesen hypothetischen Materiezustand. Er nahm an, seltsame Multiquark-Cluster könnten als langlebige, exotische Zustände hochkomprimierter Materie im Innern eines Neutronensterns existieren.
Sui Chin und Arthur K. Kerman vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge sowie unabhängig davon Larry D. McLerran von der Universität von Minnesota in Minneapolis und James D. Bjorken von der Stanford-Universität in Kalifornien griffen diese Idee auf. Sie nannten einige allgemeine Gründe, warum seltsame Quarkmaterie relativ stabil wäre. Wie die den Atomkern umgebenden Elektronen besetzen auch die Quarks in einem Hadron-Beutel wohldefinierte Energieniveaus oder Quantenzustände. Gemäß dem Paulischen Ausschließungsprinzip – gewissermaßen dem quantenmechanischen Analogon zum Archimedischen Prinzip, wonach zwei Körper niemals gleichzeitig am selben Ort sein können – darf ein Quantenzustand stets nur von einem Quark besetzt werden. Ein Grund für die Stabilität seltsamer Quark-Materie wäre somit, daß es keine freien Energiezustände gibt, in welche die down-Quarks, die aus einem schwachen Zerfall seltsamer Quarks entstehen, hineinspringen könnten: Die tieferliegenden Energiezustände sind schon mit down-Quarks aufgefüllt.
Dasselbe Prinzip erklärt auch die Stabilität gewöhnlicher Atomkerne. Zwar zerfällt ein freies Neutron binnen rund 11 Minuten in ein Proton, aber innerhalb stabiler Kerne können Neutronen praktisch ewig bestehen; denn für den Zerfall des Neutrons steht innerhalb solcher Kerne kein Quantenzustand zur Verfügung, der das neu entstehende Proton aufnehmen könnte. Kerne mit nicht besetzten Quantenzuständen für das Proton sind hingegen radioaktiv und unterliegen dem Beta-Zerfall.
Was aber erklärt die Fähigkeit seltsamer Quark-Materie, die riesige Lücke zwischen den größten Atomkernen und den Neutronensternen zu schließen? Kerne bestehen aus Protonen mit positiver Einheitsladung sowie etwa gleich vielen ungeladenen Neutronen. Mit der Anzahl der Protonen im Kern wächst die elektrostatische Abstoßung aufgrund der gleichnamigen Ladungen; schließlich übersteigt sie die starke Wechselwirkung, die den Kern zusammenhält. Darum gibt es eine obere Schranke für die Größe stabiler Atomkerne.
Doch in einem Cluster aus seltsamer Quark-Materie liegen die Dinge anders. Nach den Regeln der Quantenmechanik teilen die drei Quark-Sorten im Gleichgewichtsfall die verfügbaren Energiezustände gleichmäßig untereinander auf. Das strange-Quark hat eine größere Masse als das up- oder das down-Quark; darum sind – wegen der Äquivalenz von Masse und Energie – in einem Stück seltsamer Materie die strange-Quarks etwas unterrepräsentiert. Der elektrische Ladungsbeitrag aller up-Quarks mit je +2/3 der Elementarladung wird deshalb weitgehend (aber nicht vollständig) von sämtlichen down- und strange-Quarks mit jeweils -1/3 kompensiert. Aus diesem Grunde sollte die seltsame Quark-Materie nur sehr schwach positiv geladen sein; da positive und negative Ladungen einander fast neutralisieren, würde die für normale Nuklearsubstanz gültige Größenbeschränkung der Materietropfen wegfallen. Somit könnten vergleichsweise riesige Stücke stabiler Materie mit seltsamen Quarks existieren.
Fehlende Materie
Dies könnte zugleich die Lösung des erwähnten hartnäckigen astrophysikalischen Rätsels bedeuten. Aus detaillierten Beobachtungen von Galaxien schließt man, daß das Universum gewaltige Mengen unsichtbarer Materie enthalten muß. Die Gravitationsfelder aller sichtbaren Sterne und leuchtenden galaktischen Staubmassen reichen bei weitem nicht aus, die Bewegungen der Galaxien oder einzelner Sterne darin zu erklären. Die fehlende Masse muß demnach enorm sein: Mindestens 80 Prozent der Materie im Universum ist demnach kalt und dunkel, so daß kein optisches Fernrohr oder Radioteleskop sie zu entdecken vermag. Im Jahre 1984 stellte Edward Witten von der Princeton-Universität in New Jersey die interessante Hypothese auf, die fehlende Masse – und damit fast das gesamte Universum – bestände aus seltsamer Quark-Materie. Sein Szenario beginnt in der Frühphase des Universums kurz nach dem Urknall, aber noch vor der Bildung leichter Kerne. Damals war der Kosmos so heiß und dicht, daß die Quarks sich frei bewegen konnten und noch nicht zu Hadronen gebunden waren; auch waren die seltsamen Quarks so zahlreich wie die up- und down-Quarks. Witten nimmt nun an, daß aus dieser heißen Quark-Phase in den ersten Sekunden nach dem Urknall kompakte Gebilde aus seltsamer Quark-Materie entstanden. Der Durchmesser solcher Körner lag zwischen Bruchteilen von Millimetern und einigen Zentimetern; sie bestanden aus bis Quarks und wogen bis Tonnen. (Zum Vergleich: Die Erde hat einen Radius von etwa 6000 Kilometern und eine Masse von Tonnen). Ein Korn von der Größe eines Tennisballs würde mithin mehr als eine Billion Tonnen wiegen. Doch weil diese Objekte so klein wären, könnten sie – verglichen mit einem Mond oder Planeten – nur wenig Licht absorbieren und reflektieren; darum wären sie direkt nicht zu beobachten. Mit Methoden, die sich bereits beim Berechnen der Massen und Strukturen normaler Hadronen bewährt hatten, fanden Edward H. Farhi und Robert L. Jaffe vom MIT heraus, daß Klumpen aus seltsamer Materie – sogenannte Strangelets – sogar über einen viel größeren Massenbereich stabil sein könnten, als Witten annahm. Wenn Farhi und Jaffe recht haben, könnte die seltsame Quarkmaterie tatsächlich den gigantischen Bandbereich der nuklearen Wüste besetzen. Dieses zugegebenermaßen spekulative Bild widerspricht jedenfalls keinem bisher bekannten physikalischen Prinzip. Der aufmerksame Leser könnte freilich katastrophale Folgen der Existenz kleiner Strangelets befürchten, die im Bereich der Massenzahl üblicher Atomkerne liegen: Müßten diese nicht in die neuartige Form zerfallen, da die doch absolut stabil und somit energetisch günstiger ist? Doch dies wird durch die Eigenart der seltsamen Quarks verhindert. Wäre Quark-Materie auch ohne strange-Quarks stabil (was wir ja schon ausgeschlossen hatten), so würde der befürchtete Zerfall in der Tat spontan ablaufen. In Wirklichkeit müssen sich aber erst etwa die Hälfte aller down-Quarks im Kern spontan in strange-Quarks umwandeln, damit er sich zu seltsamer Materie umgruppieren kann. Dieser Prozeß ist zwar nicht prinzipiell unmöglich, würde allerdings eine Zeit brauchen, die die gesamte bisherige Dauer des Universums um viele Größenordnungen übersteigt.
Seltsame Meteorite
Falls seltsame Quark-Materie tatsächlich 80 Prozent der Masse im Universum ausmacht, müßten Objekte daraus gelegentlich durch das Sonnensystem schwirren und auch auf die Erde fallen. Alvaro de Rujula vom europäischen Physikforschungszentrum CERN bei Genf und Sheldon L. Glashow von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) haben die Folgen solcher Begegnungen abgeschätzt. Ein Strangelet aus weniger als Quarks würde demnach von der Erdkruste vollständig abgebremst. Solche Ereignisse könnten sich als ungewöhnliche Meteoriteneinschläge, charakteristische Beben oder eigentümliche Teilchenspuren in Gesteinsproben bemerkbar machen. Größere Körner mit mehr als Quarks würden sehr selten die Erde erreichen und sie wegen ihres enormen Impulses einfach durchschlagen. Körner der von Witten vorhergesagten Größe würden wahrscheinlich überhaupt nicht bemerkt. Vielleicht haben sich während einer derartigen Begegnung kleinere Strangelets mit weniger als Quarks aus ursprünglich größeren Clustern gelöst und in Meteoriten oder Krustenmaterial eingelagert; aufgrund ihrer nur leicht positiven Ladung würden sie sich dort fast wie gewöhnliche Atomkerne verhalten. Klaus Lützenkirchen von der Universität Mainz und seine deutschen und israelischen Mitarbeiter haben kürzlich mit einer raffinierten Methode eisenhaltige Meteoriten auf kleinere Strangelets untersucht. Die Methode beruht darauf, daß Strangelets viel schwerer sind als normale Kerne. Man bestrahlt die Probe mit Uran-Kernen und hofft auf Ereignisse, bei denen die schweren Kerne direkt reflektiert werden, als wären sie wie Bälle gegen eine Mauer geprallt. Dies setzt voraus, daß die Masse des Targets größer ist als die des Uran-Kerns. Bislang erbrachten solche Experimente zwar keine Indizien für ungewöhnlich schwere Objekte, doch lieferten sie wenigstens eine obere Schranke für die Konzentration seltsamer Materie auf der Erde. Man hat auch durch kosmologische Beobachtungen versucht, eine Obergrenze für die Menge der seltsamen Materie im Universum anzugeben. Wären aus der heißen Quark-Phase kurz nach dem Urknall seltsame Körner entstanden, so hätten sie in der kühleren Epoche vor der Nukleosynthese freie Neutronen absorbiert und dadurch das Verhältnis von freien Neutronen zu Protonen vermindert. Das wiederum hätte die Produktionsrate des Isotops Helium-4 (zwei Protonen und zwei Neutronen) gesenkt. Die Neutronenabsorption und somit die Heliumproduktion hängen sehr stark von der Gesamtoberfläche der seltsamen Materiekörner ab. Diese wiederum variiert für eine gegebene Gesamtmasse (zum Beispiel 80 Prozent der Masse des Universums) mit der Anzahl und Größe der seltsamen Körner – die gesamte Oberfläche zahlreicher kleiner Fragmente ist viel größer als die von wenigen großen Brocken bei gleicher Gesamtmasse. Darum gilt: Je kleiner – und zahlreicher – die Körner, desto größer die totale Neutronenabsorption. Karsten Riisager und Jes Madsen von der Universität Aarhus (Dänemark) haben diese Überlegung quantifiziert. Ihre Rechnung ergab, daß die ursprünglichen seltsamen Körner mehr als 1023 Quarks enthalten haben müßten, damit ihre Größe einerseits zu der fehlenden dunklen Materie und andererseits zur beobachteten Häufigkeit leichter Elemente paßt.
Seltsame Sterne
Auch die Physik der superdichten Neutronensterne – der Überreste von Supernova-Explosionen massereicher Sterne – müßte durch seltsame Materie entscheidend beeinflußt werden. Ein Tropfen dieser Substanz würde in der Nachbarschaft eines Neutronensterns von dessen Gravitationsfeld angezogen, mitunter von der Oberfläche eingefangen und schließlich bis zum Mittelpunkt absinken. Dabei würde er den Stern wie ein gefräßiges Virus befallen und sukzessive alle erreichbaren Neutronen verschlingen. Da die Neutronen keine Ladung tragen, stoßen sie den schwach positiven Tropfen nicht ab, sondern geraten in unmittelbare Berührung mit ihm; sie werden vernichtet, indem der Tropfen ihre Quark-Bestandteile absorbiert und mittels schwacher Wechselwirkung allmählich in seltsame Quarks umwandelt.
Ein solches Virus fräße sich dann unter weiterem Neutroneneinfang bis zur Oberfläche des Sterns fort. Angela V. Olinto von der Universität Chicago hat berechnet, daß ein einziger Tropfen einen Neutronenstern in weniger als einer Minute in einen seltsamen Quark-Stern umzuwandeln vermag. Dieses Gebilde wäre noch kompakter als der ursprüngliche Stern, weil es nicht nur von seiner Gravitation, sondern auch von inneren Quarkkräften zusammengehalten würde.
Wie ein Eisläufer, der beim Pirouettendrehen die Arme anlegt, rotiert der geschrumpfte Quark-Stern noch viel schneller als ein Neutronenstern. Da man die Drehgeschwindigkeit rotierender Neutronensterne (sogenannter Pulsare) sehr genau beobachten kann, wäre der Nachweis eines Pulsars mit einer Frequenz von einer halben Millisekunde oder weniger (das entspräche mehr als 2000 Umdrehungen pro Sekunde) ein starkes Indiz für die Existenz eines seltsamen Sterns; denn herkömmliche Neutronensterne können gemäß überzeugender Modellsimulationen nicht so schnell rotieren, ohne durch die Fliehkraft zerrissen zu werden. Die Astrophysiker suchen derzeit lebhaft nach entsprechenden Kandidaten.
Urknall im Labor
Falls man keine besonders schnell rotierenden Quark-Sterne findet, wird sich seltsame Materie mit der heute verfügbaren astronomischen Beobachtungstechnik kaum entdecken lassen. Die Kern- und Elementarteilchenphysiker suchen deshalb seit kurzem mit Hilfe leistungsfähiger Beschleuniger nach direkteren Hinweisen.
Wenn man zwei schwere Atomkerne mit den größten heute möglichen Energien frontal aufeinander schießt, lassen sich viele Bedingungen des frühen Universums im Labor simulieren. Bei einem solchen kleinen Urknall entstehen derart enorme Temperaturen und Drücke, daß die Quarks sich auf interessante und unerwartete Weise neu anordnen (siehe "Komprimierte heiße Kernmaterie" von Walter Greiner und Horst Stöcker, Spektrum der Wissenschaft, März 1985, Seite 94, und "Nukleare Stoßwellen und Quark-Materie" von Horst Stöcker und Hans Gutbrod, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1992, Seite 46).
Stoßen zwei schwere Atomkerne – zum Beispiel Gold oder Blei – bei höchsten Energien frontal zusammen, so entstehen durch abrupte Kompression der Kernmaterie Stoßwellen, die die Kernmaterie enorm aufheizen. Die hohe Bewegungsenergie und das Abstoppen der Kerne verursachen einen sehr dichten und heißen Feuerball, in dem sich eine Flut von exotischen Hadronen bildet (Bild 4).
Die beiden schweren Kerne kann man sich als zwei kalte Flüssigkeitströpfchen vorstellen, die extrem schnell aufeinander zu rasen. Während der Kollision steigt die Temperatur der vereinigten Flüssigkeit rapide. Dabei ändert sich ihr Aggregatzustand: Sie verwandelt sich in ein Gas aus Hadronen, wobei auch eine Vielfalt seltsamer Teilchen produziert wird. Durch Verbindung der darin enthaltenen seltsamen Baryonen mit den Nukleonen (Protonen und Neutronen) der Ausgangskerne könnten nun kleine multiseltsame Kerne entstehen; diese sogenannten Multihyperkerne wären gewöhnliche Kerne mit zusätzlichen seltsamen Nukleonen.
Jürgen Schaffner und Horst Stöcker von der Universität Frankfurt am Main sowie einer von uns (Greiner) haben erst kürzlich gezeigt, daß derartige metastabile, multiseltsame Objekte im Prinzip existieren sollten; sie würden von Kräften zusammengehalten, die denjenigen in gewöhnlichen Atomkernen ähneln. Schwerionen-Kollisionen bieten eine interessante Möglichkeit, solche neuartigen Kerne zu produzieren. Obwohl sie innerhalb von 10-10 Sekunden zerfallen würden, hofft man die kurzlebigen Objekte trotzdem nachweisen zu können.
Derart exotische Konfigurationen könnten zudem quasi als Eintrittstür für die Bildung kleinerer Gebilde aus seltsamer Quarkmaterie dienen. Denn falls Strangelets existieren, müßte die seltsame hadronische Materie sich in Quark-Materie umwandeln, weil die seltsamen Quarks nun schon vorhanden sind.
Ist die anfängliche Energie der Kollisionen genügend hoch, steigt die Anzahl der Hadronen in der Kompressionszone sogar derart an, daß die einzelnen Hadron-Beutel aufbrechen und die Quarks sich innerhalb des Feuerballs frei bewegen können. Die heiße Kernmaterie unterliegt damit einem Phasenübergang in ein Quark-Gluon-Plasma, das dem Zustand des frühen Universums kurz nach dem Urknall gleicht. (Gluonen – von englisch glue, Leim – sind die Teilchen, die normalerweise die Quarks in Beuteln zusammenhalten.) Das Plasma umfaßt die gesamten up- und down-Quarks der zwei schweren Kerne sowie je gleich viele seltsame Quarks und Anti-Quarks, die direkt aus der Kollisionsenergie erzeugt worden sind.
Wie in den Augenblicken unmittelbar nach dem Urknall expandiert das Quark-Gluon-Plasma und kühlt rasch ab. Dabei flocken die Quarks – in einem Prozeß, der als Hadronisation bezeichnet wird – wieder in individuelle Hadron-Beutel aus. Der direkte Nachweis des nur ganz kurz vorhandenen heißen Plasmas ist deswegen sehr schwierig. Allerdings könnten sich beim Übergang des Plasmas zum Hadronengas langlebige Quark-Tropfen seltsamer Materie bilden, die beobachtbar wären.
Einen Mechanismus für die Bildung von Strangelets aus einem abkühlenden Quark-Gluon-Plasma haben Peter Koch von der Universität Bremen, Stöcker und einer von uns (Greiner) sowie unabhängig davon Han-Chao Liu und Gordon L. Shaw von der Universität von Kalifornien in Irvine vorgeschlagen. Demnach strahlt das Plasma während der Hadronisation antiseltsame Quarks in Form von K-Mesonen ab und reichert sich dadurch mit den zurückbleibenden seltsamen Quarks an. Die antiseltsamen Quarks treten zwar zunächst in gleicher Anzahl wie die seltsamen Quarks auf (strange-Quarks und ihre Antiteilchen werden immer paarweise erzeugt); sie können sich aber im Gegensatz zu den seltsamen Quarks während der Hadronisation sofort mit den zahlreichen leichten up- und down-Quarks paaren, die aus den ursprünglichen Kernen stammen. Bei jeder dieser Rekombinationen entweicht ein seltsames Meson, das K-Meson, von der Oberfläche des Feuerballs.
Nach den Berechnungen von Stöcker und Greiner ist eine Rekombination der übrigbleibenden seltsamen Quarks zu seltsamen Baryonen (etwa Lambda-Teilchen) mitunter energetisch ungünstiger als die Bildung von Strangelets. Diesem Szenario zufolge müßte sich stabile seltsame Quark-Materie – sofern sie bei niedrigen Temperaturen existiert – auch während der Abkühlung eines heißen Quark-Gluon-Plasmas entwickeln, ähnlich wie es das Szenario von Witten für die frühe Urzeit des gesamten Kosmos nahelegt.
Detektoren für seltsame Materie
Um winzige Körner aus seltsamer Materie nachweisen zu können, müssen die Experimentalphysiker Methoden finden, sie aus dem Schauer gewöhnlicher Hadronen herauszufiltern. Das Problem ist, daß es sich dabei nicht um einen spezifischen Partikeltyp handelt, sondern um eine neuartige Form von Materie. Normalerweise entwickelt man ein Experiment, das ein neues Teilchen mit einer ganz bestimmten Masse nachweisen soll. Doch Tropfen seltsamer Materie können je nach Größe so ziemlich jede Masse haben.
Der Schlüssel zum Nachweis seltsamer Materietropfen in einer Schwerionen-Kollision ist, daß bei ihnen – wie erwähnt – das Verhältnis von Ladung zu Masse ungewöhnlich klein ist. Bei gewöhnlicher Kernmaterie liegt dieses Verhältnis zwischen 1:3 für das schwere Wasserstoff-Isotop Tritium (ein Proton und zwei Neutronen) und 1:1 für den normalen Wasserstoffkern (ein Proton). Weil die meisten Kerne ungefähr gleich viele Protonen wie Neutronen enthalten, ist das typische Ladung-Masse-Verhältnis 1:2. Hingegen dürfte es bei seltsamer Materie nur 1:10 oder gar 1:20 betragen; darum sollte sie sich im Prinzip leicht von gewöhnlicher Materie unterscheiden lassen.
Am besten eignet sich dafür ein Magnetspektrometer. In diesem Instrument werden geladene Teilchen durch ein intensives Magnetfeld von ihrer sonst geraden Bahn abgelenkt, wobei der Ablenkungswinkel proportional zum Ladung-Masse-Verhältnis ist. Mißt man diesen Winkel sowie die Geschwindigkeit eines individuell betrachteten Teilchens, läßt sich daraus sehr leicht das gesuchte Verhältnis ableiten. In mehreren Experimenten fahndet man derzeit mit dieser Technik nach seltsamer Materie.
Die erste hochauflösende Suche nach seltsamer Materie und anderen Teilchen, die in sehr energiereichen Kernkollisionen erzeugt werden, unternehmen gegenwärtig einer von uns (Crawford) und seine amerikanischen und japanischen Mitarbeiter am Brookhaven-Nationallaboratorium. In diesem Experiment treffen Goldkerne nahezu mit Lichtgeschwindigkeit auf ein Target aus extrem dünner Goldfolie. Bei jeder Kollision werden mehrere hundert Hadronen produziert. Dieses spezielle Experiment erfaßt allerdings nur die wenigen Teilchen, die sich nach der Reaktion fast parallel zur Strahlachse weiterbewegen; sie werden durch eine Serie von Magneten fokussiert, damit man ihre Eigenschaften weiter untersuchen kann.
Die Teilchen passieren zunächst das Magnetspektrometer, in dem jeweils ihre Ablenkung elektronisch vermessen wird. Anschließend wird ihre Geschwindigkeit ermittelt, und zwar auf zweierlei Art. Die langsameren Teilchen mißt man durch hintereinander geschaltete Szintillationszähler aus dünnen Kunststoffblättchen, die beim Durchgang eines geladenen Teilchens einen kleinen Lichtblitz abgeben; die Geschwindigkeit ergibt sich einfach aus dem zwischen den Zählern zurückgelegten Weg dividiert durch die dafür benötigte Zeit. Die schnelleren Teilchen mißt man mit Tscherenkow-Zählern. Bei diesen Detektoren nutzt man den Umstand, daß ein geladenes Teilchen beim Durchqueren eines Mediums eine Stoßwelle elektromagnetischer Strahlung aussendet, wenn seine Geschwindigkeit größer ist als die des Lichtes in diesem Medium. Aus Ablenkungswinkel und Geschwindigkeit läßt sich schließlich für jedes betrachtete Teilchen das Ladung-Masse-Verhältnis bestimmen.
Das in Brookhaven entwickelte Spektrometer ist relativ einfach aufgebaut. Vor allem vermag es nur Teilchen zu entdecken, die in sehr kleinem Winkel zur Strahlachse austreten. Insofern ähnelt es einem Mikroskop mit sehr starker Vergrößerung: Das Bild mag zwar besonders scharf sein, aber die erfaßte Fläche ist so klein, daß ein winziges Objekt sich in einem großen Gebiet nur schwer finden läßt. Außerdem spricht das Gerät nur in einem schmalen Meßbereich an; seltsame Materie mit einem Ladung-Masse-Verhältnis unter 1:25 ist nicht nachweisbar.
Um die beschränkte Empfindlichkeit zu steigern, kann man entweder die Vergrößerung herabsetzen oder ein größeres Detektorsystem bauen. Beide Möglichkeiten werden von verschiedenen Teams erprobt. Den ersten Weg beschreiten P. Buford Price und seine Mitarbeiter an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Ihr Experiment ist speziell auf den Nachweis langsamer und schwerer Teilchen zugeschnitten, die von starken Magnetfeldern nur wenig abgelenkt werden.
Die zweite Methode haben Jack Sandweis von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) und seine Kollegen bei einem eigenen Experiment in Brookhaven aufgegriffen. Sie konstruieren derzeit ein riesiges nicht-fokussierendes Spektrometer mit sogenannter offener Geometrie, das den Nachweis fast aller produzierten Teilchen bezweckt. Die Apparatur erstreckt sich über dreißig Meter; die Detektoren sind wegen des Verzichts auf fokussierende Magnete etwa acht Meter breit und drei Meter hoch. Dehalb können bei jeder Kollision zwar zahlreiche Teilchen in das Spektrometer eindringen und identifiziert werden, doch wird dadurch die Auswertung entsprechend komplizierter.
Am CERN, dessen Beschleuniger viel energiereichere Teilchenstrahlen liefern als die in Brookhaven, beginnt man nun gleichfalls nach neuen Materieformen zu suchen. Klaus Pretzl von der Universität Bern und seine Mitarbeiter wollen Bleikerne – sie sind schwerer als das in Brookhaven verwendete Gold – frontal gegeneinander schießen und die Fragmente ähnlich wie in Brookhaven mit einem fokussierenden Spektrometer untersuchen. Der gesamte Aufbau ist allerdings wegen der höheren Energie der CERN-Beschleuniger mehr als 500 Meter lang, damit die einzelnen Teilchen sich mit entsprechend eindeutiger Auflösung nachweisen lassen. Dieses Experiment wird voraussichtlich noch in diesem Jahr erste Ergebnisse liefern.
Was zunächst nur Thema theoretischer Spekulationen war, ist heute bereits Gegenstand experimenteller Forschung. Der Nachweis seltsamer Quark-Materie – ob am Himmel, im Erdboden oder bei Kernkollisionen in mächtigen Teilchenbeschleunigern – würde das Wesen der Quarks, die Struktur der Materie und die Zusammensetzung des Universums erhellen. Ihre Entdeckung würde einmal mehr beweisen, daß unsere Welt wirklich so seltsam ist, wie manche Physiker sie sich vorstellen.
Literaturhinweise
- Introduction to High-Energy Physics. Von Donald H. Perkins. Addison-Wesley Publishing, 1987.
– Vom Quark zum Kosmos. Teilchenphysik als Schlüssel zum Universum. Von Leon M. Lederman und David N. Schramm. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1990.
– Strange Quark Matter in Physics and Astrophysics. Herausgegeben von Jes Madsen und Pawel Haensel. North-Holland Publishing, 1991.
– Simulating Hot Quark Matter. Von Jean Potvin in: American Scientist, Band 79, Heft 2, Seiten 116 bis 129, März-April 1991.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1994, Seite 38
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