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Die Symphonie des Denkens. Wie aus Neuronen Bewußtsein entsteht


Noch ein Buch über künstliche Intelligenz (KI) oder neuronale Netze? Diesen Eindruck könnte der Untertitel vermitteln, der im amerikanischen Original allerdings noch vorsichtiger "Seashore Reflections on the Origin of Consciousness" lautet – was Stil und Inhalt wesentlich näher kommt. Dem Autor geht es um eine eigentlich zentrale Frage, die jedoch einen mit kognitiven Problemen befaßten Wissenschaftler und Ingenieur höchstens am Rande zu interessieren pflegt: Was ist Bewußtsein, auf welchen Mechanismen beruht es, und wie könnte es sich im Laufe der Evolution entwickelt haben?

William Calvin, Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung an der Universität von Washington in Seattle, ist eigentlich Neurobiologe und betrachtet die jeweils neuesten Modeströmungen der KI und der Kognitionswissenschaft eher spöttisch, hat sich doch seine Disziplin seit langem den Themen gewidmet, die nun plötzlich im Mittelpunkt des Interesses stehen. Und er kann sich den Hinweis nicht verkneifen, daß die als "neuronale Netze" bezeichneten technischen Systeme kaum mehr als einen oberflächlichen Anschein mit jenen hochkomplexen Systemen von Nervenzellen gemein haben, die unsere Gehirne bilden.

Calvin steht solchen Entwicklungen eher skeptisch gegenüber, da er nach einfacheren Erklärungen kognitiver Phänomene als mit Hilfe von Regelwerken oder Algorithmen sucht. Er findet sie in den Prinzipien, die mit einigem Erfolg den Biologen zu einem Verständnis der Evolution des Lebens verholfen haben: Variation und Selektion sind für ihn die Grundlagen einer "Darwin-Maschine" in unseren Köpfen. Eine solche Theorie, die sich nahtlos an Evolutionstheorien anschließt, hat gegenüber anderen den wesentlichen Vorteil, daß sie eine Erklärung für das Entstehen ihrer Mechanismen gleich mitliefert. Dabei verklärt Calvin die Evolution keineswegs zu einem Wundermechanismus: "Vom evolutionären Fortschritt dürfen wir uns kaum etwas erhoffen, dafür ist er viel zu langwierig und ungewiß: Obwohl gutes Sehen für das Überleben ohne Zweifel von Vorteil ist, hat die Evolution des Menschen an der Kurzsichtigkeit eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung nichts geändert" (Seite 57).

Wie läßt sich überhaupt Bewußtsein erforschen? Im Grunde kann jeder – nach einer kurzen Einführung in die Problematik, zum Beispiel durch Peter Bieri ("Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel?", Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1992) – sofort damit beginnen. Wissenschaftlichen Methoden der Beobachtung scheint sich das Bewußtsein jedoch systematisch zu entziehen. Am besten noch lassen sich die Abwesenheit von Bewußtsein oder dessen vielfältige Störungen mit Funktionen des Gehirns in Zusammenhang bringen. Mit dieser Forschungsmethode seien Neurologen die "großen Naturgeschichtler unserer Zeit", die Fälle sammelten wie Charles Darwin in seiner Jugend Käfer (Seite 63).

So hat sich die Rolle des präfrontalen Cortex (eines Teils der Gehirnrinde im vorderen Bereich des Schädels) für das Bewußtsein einerseits durch das naturgeschichtliche Studium – in der Evolution tritt dieses Hirnareal zeitgleich mit dem Menschen auf –, andererseits durch Ausfälle infolge von Verletzungen enthüllt. Ein Beispiel ist der Verlust des Zusammenhangs beim Erzählen von Geschichten. Dies deute auf seine zentrale Bedeutung für das Bewußtsein hin, denn der "Erzähler" dessen, was wir bewußt erlebten, sei das von uns so "hoch geschätzte Selbst" (Seite 70).

Ein Teil des präfrontalen Cortex, der prämotorische Streifen, ist auf den Entwurf von Handlungssequenzen spezialisiert. Von hier aus wird etwa jene komplexe Folge von Aktionen gesteuert, mit der man eine Kaffeetasse zum Mund führt. Eine Gehirnaktivität läßt sich an dieser Stelle schon dann nachweisen, wenn man sich eine Bewegung nur vorstellt. Aber der Planungsaufwand ist dabei vergleichsweise gering, denn während die einzelnen Aktionen ablaufen, bleibt genügend Zeit, durch visuelle und taktile Rückkopplung korrigierend einzugreifen.

Bei einem gezielten Steinwurf ist das nicht möglich, denn die Zeit für den gesamten Bewegungsablauf vom Beginn der Muskelkontraktion bis zum Loslassen des Steins ist zu kurz. Maßgebend für den Erfolg des Wurfs ist ausschließlich seine Planung durch den prämotorischen Streifen.

"Wie genau mußte ich nun wirklich das Loslassen des Steins timen, wenn ich ihn aus verschiedenen Entfernungen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit warf?" fragt Calvin und erläutert: Für ein Ziel von der Größe eines Kaninchens in einer Entfernung von etwas mehr als acht Metern – charakteristische Größen in der Lebenswelt der Steinzeit-Jäger – müsse man beim Loslassen eine Genauigkeit von weniger als einer Millisekunde einhalten (Seite 248/249). Die für die Steuerung von Muskeln zuständigen Neuronen sind jedoch eine Größenordnung weniger genau. Wie schaffen wir es trotzdem, zielgenau zu werfen oder mit einem Hammer den Nagel richtig zu treffen?

Calvin vermutet die Lösung dieses Problems in der Überlagerung vieler identischer Planungssequenzen desselben Bewegungsablaufs, ebenso wie ein Chor ein wesentlich präziseres Klangbild hervorbringen kann als jedes seiner Mitglieder allein. Er kann sich dabei auch auf experimentelle Arbeiten berufen, die zeigen, wie durch die Kopplung von Herzmuskelzellen deren unregelmäßiges Zucken allmählich zu einem gleichmäßigen Schlagen wird. Mit hundert gekoppelten Zellen wird die Unregelmäßigkeit einer einzelnen Zelle auf ein Zehntel reduziert.

Voraussetzung dafür sind Mechanismen, die eine bestimmte Planungssequenz an andere Stellen des Cortex kopieren. Vor allem aber wird Platz für diese Kopien benötigt. Calvin schätzt, daß die Zahl der Zellen mit der sechsten Potenz der Entfernung zunehmen müsse, wenn die Treffgenauigkeit beim Werfen gleichbleiben soll. "Vielleicht brauchten die Hominiden deshalb ein größeres Gehirn...; schon um gut werfen zu können, brauchten sie viel mehr Zellen. Heureka?" (Seite 253)

Nun können solche Mechanismen, wenn sie schon vorhanden sind, auch für gänzlich andere Aufgaben eingesetzt werden; Calvin vermutet hierin den Ursprung von Sprache und Bewußtsein. Zum Beispiel könnten, wie beim Erbmaterial, durch nicht exaktes Kopieren einer Sequenz Variationen entstehen. Das ist genauso denkbar, wenn die Elemente einer Sequenz nicht einen Bewegungsablauf bilden, sondern eine komplexe Handlung, die Wörter eines Satzes oder abstrakte Begriffe. Damit ist es grundsätzlich möglich, Pläne zu machen, Alternativen zu entwickeln und zwischen ihnen für den nächsten Schritt eine Wahl zu treffen. Das sind die für Calvin wesentlichen Merkmale des Bewußtseins (Seite 95).

Zur Vervollständigung der Darwin-Maschine in unseren Köpfen muß zur Variation nun noch eine Selektion hinzukommen, das heißt eine Bewertung der verschiedenen Sequenzen mit anschließender Auswahl der besten. Schließlich, so die Vorstellung, taucht in unserem Bewußtsein diejenige Sequenz auf, die den Wettbewerb gewonnen hat. Wie dies im Rahmen der bisher eingeführten einfachen Mechanismen geschehen kann, ist allerdings nicht klar, und Calvin läßt diese Frage offen.

Mit dieser Auffassung bleibt er durchaus bei den Vorstellungen der Kognitionstheoretiker, für die Bewußtsein nur eine Randerscheinung der eigentlichen, dem Bewußtsein unzugänglichen kognitiven Prozesse ist. Bemerkenswert ist allerdings, daß er im Bewußtsein überhaupt ein erklärungsbedürftiges Problem sieht. Das wird nämlich bis auf wenige Ausnahmen – zum Beispiel Daniel Dennett, Marvin Minsky und Ray Jackendorff – von den Kognitionstheoretikern ignoriert, unbewußt, aber mit gutem Grund: Denn wären die kognitiven Prozesse in irgendeiner Weise der Introspektion zugänglich, dann wäre die ganze Kognitionswissenschaft überflüssig, zumindest in ihrer heutigen Form.

In jedem Falle gerät die Auffassung vom Bewußtsein als Randerscheinung der Kognition in Konflikte damit, daß wir uns als verantwortlich handelnde, mit einem freien Willen ausgestattete Wesen erfahren. Und es stellt sich die dringliche Frage nach einer Methode, mit der diese unzugänglichen kognitiven Prozesse erforscht werden sollen.

Daß hier völlig andere Sichtweisen möglich sind, zeigt etwa der Versuch von Francisco Varela und Evan Thompson ("Der mittlere Weg der Erkenntnis", rezensiert in Spektrum der Wissenschaft, August 1993, Seite 109), eine aus der Meditation gewonnene Introspektion mit Hirnforschung und Kognitionswissenschaft zu verknüpfen. Wesentlich ist dabei, daß diese Autoren eine isolierte Betrachtung von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt ablehnen und statt dessen von einem "Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit" sprechen.

"Die Symphonie des Denkens" ist nicht nur wissenschaftlich interessant, sondern auch eine unterhaltsame Lektüre, die den Leser an Entstehungsgeschichten und -orten der geschilderten Theorien teilnehmen läßt und ihn ganz nebenbei in die Neurobiologie des Gehirns und deren Geschichte einführt. Dieses sorgfältig übersetzte und herausgegebene Buch kann nur empfohlen werden.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1994, Seite 135
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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