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Die Überschwemmungswälder im Amazonasbecken

Teile der riesigen Regenwälder Brasiliens sind ebenso aquatische wie terrestrische Ökosysteme. Einzigartige Anpassungen ermöglichen es Pflanzen und Tieren, in diesen Überflutungsbereichen zu überleben.

Wer zur Regenzeit über die Wälder fliegt, die den Amazonas und seine Nebenflüsse säumen, erblickt bisweilen zu seiner Überraschung ein Spiegelbild des Flugzeugs unter sich zwischen den Bäumen. Der Spiegel ist eine ausgedehnte Wasserfläche, denn die Ströme des Tieflands treten für etwa sechs bis sieben Monate im Jahr über die Ufer und überfluten die angrenzenden Wälder bis zu zehn Meter hoch; das Unterholz und die Bodenpflanzen versinken völlig (Bild 1). Obgleich der amazonische Regenwald nur zu etwa 3 Prozent aus diesen Überschwemmungswäldern besteht, tragen sie doch wesentlich zu seiner immensen biologischen Vielfalt bei.

Unter den wissenschaftlichen Erklärungen, die in den letzten 20 Jahren für diesen weltweit unübertroffenen Artenreichtum vorgebracht wurden, wurde zunächst die Bildung ökologischer Inseln durch Trockenheit favorisiert: In niederschlagsarmen Klimaphasen, besonders als zu Zeiten starker Vergletscherung der Meeresspiegel tiefer lag, sei die Region in kleine, voneinander isolierte ökologische Refugien zerfallen; Populationen, die dadurch keinen Kontakt mehr zueinander hatten, hätten sich zu selbständigen Arten auseinanderentwickelt und diese sich dann in den feuchteren und wärmeren Zwischeneiszeiten mit dem expandierenden Regenwald ausgebreitet.

Dagegen argumentierte Paul A. Colinvaux von der Ohio State University in Columbus in jüngerer Zeit, die Biodiversität sei viel überzeugender dadurch zu erklären, daß der Wald sich zeitlich in permanentem Wandel befinde und räumlich alles andere als homogen sei (siehe seinen Beitrag „Der Amazonas-Regenwald“, Spektrum der Wissenschaft, Juli 1989, Seite 70). Viele verschiedene Ökosysteme existieren nebeneinander, weil es Kombinationen von Bodentypen, Kleinklimaten, Erosionsbecken und Flüssen in ungeheurer Anzahl gibt. Tier- und Pflanzengemeinschaften verändern sich mit diesen örtlichen Gegebenheiten, etwa wenn ein Fluß sich ein neues Bett gräbt, die Regenzeit zu einem anderen Zeitpunkt einsetzt oder Dauer und Menge des Regens variieren.

Ich halte die Überschwemmungswälder für ein Paradebeispiel von Lebensgemeinschaften unter unablässigem, intensivem Wechsel der Lebensbedingungen. Indem sie Pflanzen und Tiere zu besonderen Anpassungsleistungen zwingen, fördern sie deren Vielfalt. Viele der dort lebenden Arten sind in den nicht überschwemmten Arealen, der terra firme, nicht heimisch. Andererseits gibt es häufig von ein und derselben Gattung unterschiedliche Arten in beiden Sorten des Regenwaldes, was ausgezeichnete Möglichkeiten zu vergleichenden phylogenetischen Untersuchungen bietet.

Überschwemmungsgebiete nehmen mindestens 150000 der fünf Millionen Quadratkilometer des Amazonas-Regenwaldes ein (Bild 2). Der Wasserstand der Tieflandströme schwankt im Jahreslauf um durchschnittlich 7 bis 13 Meter, und im zentralen Teil des Amazonasbeckens kann das Hochwasser beiderseits der Trockenzeit-Ufer bis zu 20 Kilometer weit in das Gelände vordringen.

Die Wälder des Mündungsgebietes werden ebenfalls überschwemmt, aber – unter dem Einfluß der Gezeiten – in täglichem statt in jahreszeitlichem Wechsel. Wo durch Vermischung mit dem Wasser des Atlantik der Salzgehalt relativ hoch ist, finden sich Mangroven.

Geschichte

Die Verbreitung der Flora der Überschwemmungswälder hängt eng mit der Geschichte der Flüsse zusammen. Vor der Hebung der Anden floß der Amazonas westwärts und ergoß sich – wahrscheinlich im Golf von Guayaquil im heutigen Ecuador – in den Pazifik. Als sich im Miozän vor ungefähr 15 Millionen Jahren die Anden auffalteten, mußten die sich im zentralen Becken sammelnden Wassermassen einen Abfluß in Richtung Osten graben, durch das Tiefland zwischen dem guayanischen Bergland und dem des heutigen nordbrasilianischen Bundesstaates Pará hindurch. Wahrscheinlich entstand erst im Gefolge dieser Umlenkung die enorme Landfläche, die gegenwärtig im Gezeitenrhythmus überschwemmt wird, indem Feinsediment aus den Anden sich im Mündungsgebiet ablagerte und Bäume dort Wurzeln schlagen konnten; auch heute finden sich im Amazonas-Delta zahlreiche Schwemmlandinseln.

Durch seinen veränderten Lauf hat der Amazonas wahrscheinlich zur Steigerung der Artenvielfalt und gleichzeitig zur Verbreitung von Pflanzen beigetragen. Die Bäume der Überschwemmungswälder fruchten hauptsächlich während der Hochwasserperioden, so daß die Strömung Samen verfrachtet. Arten, die zuvor auf den Westen der Region beschränkt waren, konnten nach der Umkehrung des Flußlaufs ostwärts vordringen. Das mag erklären, warum viele Arten, darunter einige Kautschukbäume der Gattung Hevea, heute im Tiefland so weiträumig verbreitet sind.

Schwankungen des Meeresspiegels seit dem frühen Pleistozän vor 1,8 Millionen Jahren veränderten ebenfalls die Zusammensetzung der Überschwemmungswald-Flora erheblich. Stand das Meer niedrig, schnitten sich die Flüsse tiefer in ihr Bett, und die Auenflächen trockneten aus; bei hohem Meeresspiegel traten die Flüsse häufiger über die Ufer. Entsprechend waren die Wälder an ihren Ufern wechselnden Bedingungen ausgesetzt – ein evolutionärer Druck, der höchstwahrscheinlich der Ausbildung neuer daran angepaßter Artengemeinschaften Vorschub leistete.

Flüsse verschiedener Art

Eine weitere Ursache der Biodiversität liegt in der Chemie des Flußwassers. Von dem britischen Zoologen und Evolutionstheoretiker Alfred Russel Wallace (1823 bis 1913), der 1848 das Amazonasgebiet bereiste (am bekanntesten wurde er durch die Entdeckung der dann nach ihm benannten Grenzlinie der Tierausbreitung zwischen Asien und Australien), stammt eine Einteilung der Flüsse dieser Region in drei Gruppen (Bild 3):

– Weißwasserflüsse wie der Amazonas und der Madeira sind milchkaffeefarben bis weißlich, weil ihre Oberläufe große Mengen an Feinsediment aus den Anden transportieren; sie haben einen neutralen bis alkalischen pH-Wert und enthalten reichlich Nährstoffe.

– Klar- oder Blauwasserflüsse wie der Tapajós und der Xingu entspringen dem brasilianischen oder dem guayanischen Bergland; weil diese großenteils präkambrischen Schilde kaum mehr erodieren, führen diese Nebenflüsse wenig Sediment und sind leicht sauer.

– Die Schwarzwasserflüsse entspringen im Tiefland und sind durch gelöste Pflanzenbestandteile teeähnlich gefärbt, transportieren aber kaum mineralische Partikel, sind also meist sehr sauer und nährstoffarm. Schwarzwasser entsteht, wenn die durch Photosynthese gebildeten Kohlenstoffverbindungen bei der Verwesung der Pflanzen nicht vollständig zu Kohlendioxid, sondern teilweise nur bis zu löslichen organischen Säuren abgebaut werden. Beim Rio Negro (dem „schwarzen Fluß“), einem der wasserreichsten Flüsse der Welt, stammen diese Huminsäuren aus Beständen niedrigwüchsiger Vegetation (caatinga, campina oder campinarana genannt), die in Sandböden des Einzuggebietes gedeiht. Diese können im Gegensatz zu den Tonböden im überwiegenden Teil des Amazonasbeckens große Mengen sekundärer pflanzlicher Substanzen weder abbauen noch absorbieren.

In Überschwemmungswäldern hängt die Chemie des Bodens eng mit der des zugehörigen Flusses zusammen. Wie sich das wiederum im einzelnen auf die Zusammensetzung der Arten auswirkt, ist jedoch teilweise noch unklar. Botaniker wie Ghillean T. Prance von den Kew Gardens, dem britischen botanischen Institut, und João Murça Pires vom Goeldi-Museum in Belém (Brasilien) haben immerhin erhebliche Unterschiede in der Flora der einzelnen Flußtypen beschrieben. Im allgemeinen stehen in Weißwasser-Überflutungsgebieten die üppigsten und vielfältigsten Wälder; die der Schwarzwasser- und Klarwasserflüsse haben ein demgegenüber deutlich anderes Artenspektrum, während sie einander mehr ähneln.

Flora

Der Baumbestand der Überschwemmungswälder ist zwar verschieden von dem der terra firme; man findet jedoch vielfach zu einer bestimmten Art in dem einen Regenwaldtyp eine nahe verwandte im anderen. So ist Astrocaryum jauary wahrscheinlich die häufigste Palmenart der Überschwemmungswälder; auf dem Trockenen entspricht ihr Astrocaryum tucuma, die ihrerseits im überfluteten Gelände nicht vorkommt.

Die Existenz solcher Artenpaare läßt auf spezielle Adaptationen bis hin zur Biochemie des Stoffwechsels schließen, die aber im einzelnen noch nicht bekannt sind. Es gibt nicht einmal ein offensichtliches strukturelles Merkmal, das allen halbjährig tief im Wasser stehenden Bäumen gemeinsam wäre; auch Luftwurzeln, eigentlich ein ideales Mittel gegen Sauerstoffmangel im Bodenbereich, finden sich nur bei wenigen Arten. Trotzdem behalten sie in der Regel ihre Blätter – die überschwemmten Wälder bleiben oberhalb und sogar unterhalb der Wasserlinie so grün wie jene trockener Flächen.

Einige Spezialisten sind sogar an dauerhaft sumpfiges Gelände angepaßt. In diesen Gemeinschaften ist die Artenvielfalt allerdings stark reduziert, und oft dominieren eine oder einige wenige Palmen (insbesondere Mauritia flexuosa). Die meisten Überschwemmungswälder müssen zumindest für kurze Zeit trockenfallen, um überleben zu können; die Gezeitenwälder hingegen erholen sich täglich bei Niedrigwasser.

Arthropoden

Auch bei den Tieren gibt es Paare nah verwandter Arten, die jeweils in nur einem der Waldtypen leben. Die große Artenzahl in überschwemmten Wäldern ist ein starkes Indiz dafür, daß dieser Lebensraum mindestens seit der frühen Erdneuzeit besteht, das heißt seit 65 Millionen Jahren. Allein an Arthropoden oder Gliederfüßern – zu denen die Insekten, die Spinnen und die Krebse zählen – gibt es dort so viele, daß noch nicht einmal ein realistischer Schätzwert vorliegt; ihre Vielfalt übertrifft jedenfalls die der Wirbeltierarten bei weitem. Artenspektrum und Verhalten der Arthropoden unterscheiden sich erheblich in den beiden Regenwaldtypen.

Nach Joaquim Adis vom Max-Planck-Institut für Limnologie in Plön und Terry L. Erwin von der Smithsonian Institu-tion in Washington sind Überschwemmungswälder aus einer kurzfristigen Perspektive als Zufluchtsräume, aus einer langfristigen dagegen als Zentren evolutiver Vorgänge zu charakterisieren. Jeweils bei steigendem Wasser geraten boden- und baumbewohnende Tiere zusammen, die dann sechs Monate lang erhöhtem Druck durch Nahrungskonkurrenten und Freßfeinde ausgesetzt sind. Beispielsweise müssen bodenbewohnende Laufkäfer spezielle Anpassungen entwickeln, um im Wettbewerb mit den ganzjährig im Kronenbereich lebenden Käfern bestehen zu können; diese wiederum müssen sich darauf einstellen, daß ihre obdachlosen Verwandten zeitweise von dem Nahrungsangebot mitzehren. Solche verschärften Bedingungen, so Adis und Erwin, begünstigen möglicherweise die Evolution neuer Arten.

Reptilien und Säugetiere

Bei Wirbeltieren (Bild 4) ist die Abhängigkeit vom Regenwaldtyp sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die großen Reptilien der amazonischen Flüsse und Wälder fallen eher durch große Individuenzahl als durch Artenvielfalt auf; besonders Kaimane und Wasserschildkröten waren sehr zahlreich, bevor sie in Massen gejagt wurden.

Alle sechs im Tiefland lebenden Arten von Pelomedusen-Schildkröten suchen die überfluteten Gebiete auf, um ins Wasser gefallene Früchte und Samen zu fressen. Die Arrau-Schildkröte (Podocnemis expansa) ist die größte Flußschildkröte der Welt. Möglicherweise haben diese Reptilien in den Überschwemmungswäldern gelebt, seit diese überhaupt existieren, das heißt seit rund 65 Millionen Jahren. Ihre Fähigkeit, durch überflutete Baumbestände zu schwimmen, um Nahrung zu suchen, könnte ihren großen Erfolg erklären.

Die einzigen weiteren großen Reptilien, die sich in größerer Zahl diesem Habitat angepaßt haben, sind meterlange Schienenechsen und Leguane. Sie springen aus den Baumkronen ins Wasser, sobald sich Greifvögel nähern. Die Schienenechsen können auch nach Mollusken und anderer Beute wie beispielsweise Garnelen tauchen.

An aquatischen Säugetieren finden sich eine Seekuh oder Manatis (Trichechus inunguis), die gelegentlich die Blätter einiger Baumarten frißt, obwohl ihre Hauptnahrung krautige Wasserpflanzen sind, und der Amazonasdelphin (Inia geoffrensis). Er gehört zur primitiven Walfamilie Platanistidae, von denen andere Vertreter in chinesischen und indischen Flüssen leben und eine weitere, meeresbewohnende Art an der Küste Argentiniens heimisch ist.

Anders als bei den Eigentlichen Delphinen (Delphinidae) sind bei ihnen die Halswirbel nicht verwachsen und somit Hals und Kopf beweglich. Wahrscheinlich benötigen sie diese Gelenkigkeit, um im dichten Gewirr der Baumstämme ungehindert schwimmen zu können.

Der amazonische Vertreter der Delphiniden, Sotalia fluviatilis, hat ebenfalls verwachsene Halswirbel, weshalb er wohl in Flüssen, Kanälen und Seen bleibt, während der Amazonasdelphin den Fischen in überflutete Wälder folgt. Was dieser Art im Vergleich zu ihren moderneren Verwandten an Geschwindigkeit fehlt, kompensiert sie mit einem hochentwickelten Orientierungssystem nach dem Echolotprinzip (Inia ist fast blind). Vielleicht konnten diese primitiven Delphine dank ihrer Fähigkeit, kleinräumig strukturierte Habitate zu nutzen, abseits des allgemeinen Entwicklungsstroms überleben.

Für drei Affenarten, die kaum jemals die Überschwemmungswälder verlassen, mögen wieder andere evolutive Anpassungszwänge geherrscht haben. Zwar ist bislang nicht klar, was das Zwergseidenäffchen (Cebuella pygmaea) und die beiden Uakari-Arten (Cacajao) eigentlich dort hält; aber denkbar ist, daß sie hier eine Zuflucht vor Krankheiten oder Parasiten gefunden haben.

Wie sich Epidemien in beiden Regenwaldtypen ausbreiten, ist noch nicht ausreichend verglichen worden. Jedoch erkranken Menschen je nach Aufenthaltsort unterschiedlich häufig; das könnte daran liegen, daß Überträgerorganismen an einen bestimmten Habitattyp gebunden sind. Jeffrey J. Shaw von der Wellcome-Forschungsstation für Parasitologie am Evandro-Chagas-Institut in Belém wies nach, daß die Südamerikanische Leishmaniase, eine Einzeller-Infektion der Haut und der Schleimhäute von Nase, Mund, Gaumen und Kehlkopf, die verstümmelnde Papeln und Geschwüre verursacht und durch Lungenkomplikationen tödlich sein kann, in den Überschwemmungsgebieten der Weißwasserströme selten ist, weil die übertragenden Sandmücken fehlen. Die Moskitos wiederum, die Malaria übertragen, kommen am Rande der Schwarzwasserflüsse kaum vor, da ihre Larven die niedrigen Nährstoffgehalte und die hohen Säuregrade nicht vertragen.

Frucht- und insektenfressende Fische

Die vielfältigste und individuenreichste Wirbeltiergruppe der Überschwemmungswälder sind ohne Zweifel die Fische: Das Amazonasbecken beherbergt die reichhaltigste Süßwasserfisch-Fauna der Erde – vermutlich an die 3000 Arten, obwohl bisher nur etwa 1800 beschrieben worden sind. Nach einer Untersuchung, die ich gemeinsam mit Mirian Leal Carvalho vom staatlichen Umweltamt in Brasília und Efrem G. Ferreira vom brasilianischen Nationalinstitut für Amazonasforschung (INPA) in Manaus durchführte, leben allein im Rio Negro wahrscheinlich 600 Fischarten, mehr als in ganz Nordamerika.

Die Existenz von mindestens 200 Arten frucht- und samenfressender Fische im Amazonasbecken zeigt an, daß Überschwemmungswälder als großflächige Habitate, obgleich stetem Wechsel unterworfen, schon sehr alt sein müssen – vielleicht sogar älter als die bedecktsamigen Blütenpflanzen, die erst in der mittleren Kreidezeit (vor rund 90 Millionen Jahren) massenhaft auftraten und heute die Regenwälder beherrschen. Andererseits können sich die fruchtfressenden Fische des Amazonasgebiets erst nach der Eroberung der Regenwälder durch die Bedecktsamer entwickelt haben. Interessanterweise fand Klaus Kubitzki vom Institut für Allgemeine Botanik der Universität Hamburg, daß Dornwelse die fleischigen Samen von Gnetum fressen, einer primitiven nacktsamigen Kletterpflanze, die in Überschwemmungswäldern häufig anzutreffen ist.

In Afrika sind fossile Schädel von Fischen gefunden worden, deren Gebisse denen bestimmter nußfressender Arten des Amazonasgebiets ähneln. Doch kennt man im Kongobecken bislang keine einzige lebende fruchtfressende Fischart, obgleich es dort Überschwemmungswälder gibt – vielleicht weil es höher liegt als das Amazonasbecken und im Eiszeitalter der Trockenheit stärker ausgesetzt war.

Die fruchtfressenden Fische der Amazonaswälder gehören hauptsächlich zu den Salmlern und den Welsen. Bei hohem Wasserstand warten sie unter Bäumen oder schwimmen auf der Suche nach Nahrung durchs Unterholz.

Nur die Salmler haben hinreichend starke Zähne, um Nüsse zu knacken. Welse verschlucken fast immer ganze Früchte, so daß die Samen den Darm unzerstört passieren und somit verbreitet werden. Es liegt nahe zu vermuten, daß Fisch und Baum zu gegenseitigem Nutzen evolvierten. Zwar verbreiten auch Vögel, Fledermäuse und Affen Baumsamen, aber das fällt wegen der großen Anzahl der Fische weniger ins Gewicht, die außerdem schnappen können, was den anderen Tieren unerreichbar vom Baum fällt.

Der Tambaqui oder Mühlsteinsalmler (Colossoma macropomum; Bild 5), der bis zu einem Meter lang und bis zu 30 Kilogramm schwer wird, ist der bekannteste frucht- und samenfressende Fisch des Amazonasbeckens und von jeher auch der wirtschaftlich wichtigste. Seine Lebensweise ist ein gutes Beispiel dafür, wie Fische die Überschwemmungswälder und verschiedenen Gewässertypen nutzen: Die Larven und Jungtiere bewohnen die Überflutungsgebiete jener Flüsse, die im Jahresrhythmus reichlich Nährstoffe aus den Anden transportieren, so daß krautige Pflanzen und pflanzliches Plankton relativ üppig gedeihen. Zooplankton vermehrt sich gelegentlich sogar so explosiv, daß das Wasser in den überschwemmten Wäldern fast suppige Konsistenz annimmt. Tambaquis können das winzige Getier mit ihren zahlreichen feinen Kiemenreusen herausseihen. Die Jungfische fressen auch Samen der treibenden Wassergräser sowie kleine Früchte und Samen der Bäume.

Experimente mit Fischkulturen zeigen, daß Tambaquis mit ungefähr vier oder fünf Jahren geschlechtsreif werden. Dann verlassen sie die Herkunftsgebiete und wandern zu den Flußrinnen, wo sie zu Beginn des alljährlichen Hochwassers ablaichen. Danach schwimmen sie in die Überschwemmungswälder zurück, gleich welchen Flußtyps, und verbringen dort etwa sechs Monate überwiegend mit Fressen; sobald die Wälder trockenfallen, ziehen sich die Fische in die Flüsse zurück, wo sie die andere Hälfte des Jahres von ihren Fettreserven zehren.

Die Gezeitenwälder beherbergen weniger fruchtfressende Fische. Eine der häufigsten Arten – der große Dornwels Doras dorsalis – hat jedoch eine Überlebensstrategie entwickelt, sowohl die Brack- als auch die Süßwasserbereiche zu nutzen. Die Jungtiere verbleiben im Mündungsbereich und lassen sich von Flut und Ebbe in die Wälder und wieder hinaus spülen; sie fressen Früchte, krautige Pflanzen und Mollusken. Erwachsene Tiere wandern flußaufwärts (wobei sie häufig von Fischern abgefangen werden) und auch in jahreszeitlich überschwemmte Wälder, wo sie von fleischigen Früchten leben.

Genaue Untersuchungen der Migration mit Hilfe von Markierungen stehen noch aus; doch die Trennung der Lebensbereiche von Jung- und Alttieren läßt auf eine evolutive Strategie zur Minderung der innerartlichen Nahrungskonkurrenz schließen, so auch bei mehreren räuberischen Welsarten. In beiden Urwaldtypen besteht nur während vier bis fünf Monaten im Jahr ein reiches Angebot an Früchten, doch in der Gezeitenzone ist es selbst dann nur zeitweise verfügbar.

Andere Fischarten – im Rio Negro mehr als 80 – ernähren sich von Arthropoden, besonders Käfern und Spinnen, die aus den Baumkronen fallen. Warum so viele Kleintiere den Halt verlieren, ist unklar; die durch Flucht vor steigendem Wasser erhöhte Bestandsdichte sowie Wind und Regen mögen dazu beitragen.

Keine der bislang untersuchten Fischarten ernährt sich ausschließlich von einer oder nur wenigen Insekten- oder Spinnenarten. Die meisten dieser Fische sind klein, meist weniger als 20 Zentimeter lang. Viele sind hübsch anzusehen und werden gern in Aquarien gehalten, unter anderem die Beilbauchfische (Gasteropelecidae), die springen und nach einigen Metern Anlauf sogar wirklich fliegen können, wobei sie ihre großen Brustflossen wie Schwingen ausbreiten, und so Insekten erbeuten.

Wie Stanley H. Weitzman und Richard P. Vari von der Smithsonian Institution herausfanden, ist die große Anzahl kleiner Spezies ein Charakteristikum der amazonischen Fischfauna. Man kann dies ebenfalls als Adaptation an das spezielle Nahrungsangebot auffassen. Kleinere Fische vermögen leichter Spinnen und Insekten zu jagen und sich davon zu ernähren als massige, die nicht so wendig sind und viel Futter brauchen. Die große Zahl der räuberischen Arten ist vielleicht dadurch zu erklären, daß in einem so komplexen Lebensraum eine oder einige wenige Arten allein es nicht vermögen, mit sämtlichen Sorten von Kleingetier fertig zu werden.

Pflanzenfressende Fische

Die Substanz der Bäume selbst bietet weiteren spezialisierten Fischen eine Lebensgrundlage. Obwohl sehr wenige Arten frisches Laub in größeren Mengen fressen, bilden verwesende Blätter – wie auch anderes tote organische Material –die Basis der Nahrungskette. Im Rio Negro fanden wir mehr als 130 Fischarten, die sich wenigstens teilweise davon ernähren.

Die eigenartigste gehört zur Gattung Semaprochilodus. Diese (eßbaren) Salmler tragen dünne, borstenartige Zähne auf den äußeren Partien der Lippen, und diese sind zu einem Saugmaul ausgestülpt, so daß die Fische feinkrümeliges organisches Material von den untergetauchten Stämmen, Ästen, Zweigen und Blättern abweiden können. Auch Semaprochilodus baut in der Regenzeit Fettreserven auf, von denen er den Rest des Jahres zehrt.

Zerfallendes organisches Gewebe (Detritus) enthält oft Mikroorganismen; sie scheinen bei der Verdauung nicht zu nützen. Stephen H. Brown von der Technischen Universität von Michigan in Houghton hat nachgewiesen, daß Detritusfresser nicht überleben könnten, wenn ihr Organismus die organische Substanz nicht selber aufschlösse.

Die Bäume, so vermute ich, machen die ihnen anhaftende tote Substanz noch nahrhafter, indem sie die sich zersetzende Rinde mit Nährstoffen anreichern oder solche sogar direkt absondern. Jedenfalls reichern sich in nährstoffarmen Gewässern Algen in der Nähe von totem Material an und vermehren so auch dessen Menge. Die Fische wiederum düngen die Bäume, indem sie totes organisches Material aufschließen. Das Recycling ist besonders bedeutsam in Wäldern an Schwarzwasserflüssen, weil dort wegen sauren Milieus, langer Überflutungsphasen und nährstoffarmer Böden die Zersetzung durch Mikroorganismen sehr langsam vonstatten geht.

Gefährdung des Ökosystems

Seit geraumer Zeit wird in vielen Ländern die Zerstörung der Amazonas-Regenwälder kritisiert (siehe auch „Die Entwaldung der Tropen: ein ökonomischer Fehlschlag“ von Robert Repetto, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1990, Seite 122). Philip M. Fearnside vom INPA schätzt, daß schon etwa 6 bis 7 Prozent verschwunden sind, überwiegend für die Anlage von Viehweiden. Viele halten die großflächige Einführung der Landwirtschaft in den Überschwemmungslandschaften, statt die nicht überschwemmten Gebiete zu roden, für eine günstigere Alternative, da hier die Böden viel besser sind als die der terra firme.

Schon bis jetzt aber hat die Aktivität der Rindvieh- und Büffelzüchter sowie der Jutefarmer und Holzfäller sich verheerend auf dieses Ökosystem ausgewirkt. Entlang der unteren 2000 Flußkilometer des Amazonas sind nur noch 15 bis 20 Prozent des Überschwemmungswaldes intakt. Da nach Fearnsides Angaben auf der terra firme ungefähr 325000 Quadratkilometer Wald großenteils innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte vernichtet worden sind, würde von den Überschwemmungswäldern, wenn sie mit gleicher Geschwindigkeit gerodet würden, in zehn Jahren kaum mehr etwas übrig sein. Die Entwicklung der Viehwirtschaft läßt solche Befürchtungen durchaus realistisch erscheinen.

Dies wäre wohl unter allen Bedrohungen der Lebensvielfalt am Amazonas die weitaus schlimmste. Wissenschaft und Medien haben sich damit noch nicht sonderlich befaßt, weil man irrtümlich den Regenwald als einheitlich aufzufassen pflegt. In Wirklichkeit sind die Baumarten der Überschwemmungswälder so spezialisiert, daß sie nicht einfach durch verwandte von der terra firme zu ersetzen wären. Die regelmäßig überfluteten Regionen dürften sogar der bedeutendere Gen-Pool sein: Ihre Bäume können auch oberhalb der Flutmarken überleben, wie Verpflanzungsexperimente erweisen, die der terra firme hingegen nicht, wenn sie monatelang im Wasser stehen müssen. Darum mag die Artenbildung eher von Überschwemmungsgebieten ausgegangen sein.

Viele Tiere der Überschwemmungswälder, die von deren Fortbestand abhängen, sind gleichfalls einzigartig. Die Zerstörung dieser Habitate könnte den größten Verlust an Süßwasserfischarten zur Folge haben, den der Mensch je verursacht hat. Diese Fische sind auch eine wichtige Proteinquelle für die Völker Amazoniens. Aber wie anderwärts bestimmen Ökologie und vorausschauende, auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Ökonomie noch nicht die Politik in dem Maße, daß Viehzüchter von der Umwandlung komplexer Ökosysteme in Weideland abgehalten würden. Die Gefahr ist akut.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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