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Essay: Die unheimliche Macht der Bilder

Nicht die Fakten, sondern unsere Vorstellungen von ihnen bewegen die Welt. - Der Autor fasst sein eigenes Buch zusammen.


Vor knapp zweitausend Jahren lebte im römischen Reich der von seinem Besitzer freigelassene Sklave Epiktetos, auch Epiktet genannt. Er hat die Erkenntnis formuliert: "Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile und Meinungen über sie." Nicht die Fakten sind es, die uns bewegen, sondern die Bilder, die wir uns von ihnen machen. Epiktet erläuterte das: "So ist zum Beispiel der Tod nichts Furchtbares … sondern nur die Meinung, er sei furchtbar, ist das Furchtbare." Dabei kannte Epiktet noch gar nicht die mittelalterlichen Bilder von der Hölle, die die Kirche ihren Gläubigen ausmalte.

In den letzten Jahren haben Neurowissenschaftler gezeigt, warum die Erkenntnis des Epiktet zutrifft. Wir schaffen uns eine Welt im Kopf. Wir können gar nicht anders, als uns ständig Bilder zu machen. Wir sind gezwungen, auch dann, wenn die Informationen, die wir von der Welt haben, unvollständig sind, uns da-raus ein Bild zu zeichnen. Das war einst überlebenswichtig: Unsere Ahnen haben schwarze und gelbe Streifen im Gebüsch zum Bild eines Tigers zusammengesetzt und sind vorsichtshalber weggelaufen. Heute versuchen auf dieselbe Weise etwa Astrophysiker, sich aus ein paar Daten ein Bild zu machen, zum Beispiel, wie es in einem Schwarzen Loch aussieht (falls es Schwarze Löcher geben sollte).

Wir verwechseln allerdings ständig die Bilder, die wir uns machen – oder die wir übernehmen – und die unser Welt-Bild ausmachen, mit der Wirklichkeit. Die Bilder entfalten dann ein Eigenleben. So verhindert der gute – oder schlechte – Ruf, der jemandem vo-rauseilt, also das Bild von ihm, eine unvoreingenommene Einstellung. In einer vom Fernsehen bestimmten Gesellschaft ist für eine Politiker-Karriere entscheidend, wie der Mann oder die Frau "rüberkommt", also nicht die Person, sondern ihr Bild in der Öffentlichkeit. Folgerichtig behauptet zum Beispiel der "Medienprofi" Gerhard Schröder, das Beste, was ihm als Bundeskanzler im Wahlkampf passieren könne, sei, dass sein weniger medienbegabter Herausforderer Edmund Stoiber möglichst oft im Fernsehen auftrete.

Bereits der Ahne des Homo sapiens, genannt Homo ergaster (früher sprach man von Homo erectus), hatte die Fähigkeit, sich Bilder zu machen, vor anderthalb Millionen Jahren entwickelt. Die Innovation "Faustkeil" verlangte nämlich erstmals, dass der Hersteller sich die Form seines künftigen Werkzeugs vorstellte – also bereits ein Bild davon hatte –, ehe er begann, sie aus dem großen Kiesel herauszuschlagen; im Prinzip nicht anders als Michelangelo, der vor vierhundert Jahren aus einem Marmorbrocken die Skulptur des David schuf.

Auch Worte sind Bilder, die Sprache ist eine Abstraktion von Bildern. Die Sprache einer Gemeinschaft bestimmt – auch in ihrer Beschränktheit – deren Weltbild. Wo die Worte fehlen, können auch bestimmte Aspekte der Wirklichkeit nicht abgebildet werden. Und umgekehrt: Bilder sprechen nicht an, wenn sie eine fremde Wirklichkeit abbilden. Als im frühen Mittelalter Missionare den Grönländern das Fegefeuer als postmortale Strafanstalt eindringlich schilderten, waren die Heiden begeistert von der Aussicht, nach dem Tode die kalte Heimat verlassen und in der warmen Hölle sitzen zu dürfen.

Die Mathematik ist ebenfalls eine Sprache, die etwas abbildet; eine Sprache, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt hat und damit erst bestimmte Aspekte der Wirklichkeit zu sehen erlaubt. Kaiser Karl der Große beherrschte im 9. Jahrhundert ein Reich, das etwa so groß war wie die Europäische Union heute. In der damaligen globalen Wirtschaft gab es zwar längst schon das Geld, aber noch keinen Finanzminister, der mit Hilfe der doppelten Buchführung "Soll" und "Haben" im Kaiserreich hätte identifizieren können. Der Grund: Die Mathematik war noch nicht so weit entwickelt. Man kannte noch nicht den Unterschied von plus und minus. Ja selbst die Erfindung der Null hatte sich im Abendland noch nicht he-rumgesprochen. Die erste Quelle, die wir kennen, in der die Null in moderner Bedeutung vorkommt, ist eine Inschrift an einem Tempel im indischen Gwalior aus dem 8. Jahrhundert. Die Inder bauten das Symbol in ihre dezimale Schreibweise in unserem heutigen Sinne ein. Das indische System der Ziffern-Schreibweise übernahmen die Araber und brachten es mit dem Islam auch nach Europa. Im Abendland rechnete man mit der Null etwa seit dem 12. Jahrhundert.

Die Idee der Null stieß bei den vom scholastisch-theologischen Weltbild des Mittelalters Gebildeten zunächst auf heftige Ablehnung. Viele Menschen sahen in der Null ein Werk des Teufels, weil eine Null links neben einer Ziffer nichts bedeutet, rechts neben der gleichen Ziffer aber deren Wert verzehnfacht. Es ist eben unendlich schwer, immer zwischen Bild und Wirklichkeit zu unterscheiden, denn die Bilder machen sich selbständig und werden für die Wirklichkeit gehalten.

Die Physiker haben im 20. Jahrhundert mühsam gelernt, dass sie sich Bilder machen, die die Wirklichkeit nur in engen Grenzen genau beschreiben – wenn sie zum Beispiel glauben, eine richtig funktionierende Uhr gehe immer gleich schnell, oder "Gleichzeitigkeit" sei eine absolut zu setzende Größe, unabhängig von einem Bezugssystem. Entsprechend haben sich die Welt-Bilder so stark geändert, dass sie jede Anschaulichkeit verloren haben, weil nun hochkomplizierte mathematische Formeln und nicht der Augenschein (beziehungsweise die Netzhaut) die Wirklichkeiten abbildet. Doch immer noch sind viele Menschen in einem vorkopernikanischen Weltbild gefangen: Elf Prozent der über 16 Jahre alten Deutschen glauben nur, was sie sehen, nämlich dass die Sonne sich um die Erde dreht. Weitere sechs Prozent geben zu, es so genau nicht zu wissen, wie eine Allensbach-Umfrage im Frühjahr 2000 ergab.

Anders als in der Physik, wo die Bilder als vorläufig angesehen und ständig modifiziert werden, verhält es sich, wenn sich die Bilder selbstständig machen, ein Eigenleben entfalten und dann für die Wirklichkeit gehalten werden. So sprechen Christen aller Konfessionen heute von Gott dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist; einer "Trinität" – genau genommen unvorstellbar, aber man hatte ungefähr 1700 Jahre lang Zeit, sich an dieses Bild zu gewöhnen und nimmt es heute als eine Glaubensrealität. Zwei Jahrtausende lang haben Zehntausende von frommen Klerikern meditiert und nachgedacht. Sie entwickelten nicht, wie die Naturwissenschaftler, jeweils im Lichte neuer (experimentell nachprüfbarer) Erfahrungen neue Theorien. Ihr Werkzeug, die Heilige Schrift und deren Auslegungen, war immer dasselbe. Da muss man wohl auch zu absonderlichen Gedanken kommen.

Das kann im Übrigen auch Naturwissenschaftlern passieren, wenn sie Bild und Wirklichkeit verwechseln: Der amerikanische Physiker und Wissenschaftstheoretiker am Massachusetts Institute of Technology, Thomas Kuhn, hatte sich 1947, damals noch Student, im Rahmen einer Seminararbeit erstmals mit Aristoteles zu beschäftigen. Dieser war der Begründer der Logik und wird heute als der größte Gelehrte der Antike angesehen. Mit der Dreistigkeit des Newcomers urteilte Thomas Kuhn alsbald, "dass Aristoteles von den Gesetzmäßigkeiten der Mechanik praktisch keine Ahnung hatte", – ja, "dass Aristoteles nicht nur hinsichtlich der Mechanik versagt hatte, sondern überhaupt ein unglaublich schwacher Physiker gewesen sein musste". Kuhn meinte über Aristoteles’ Werke, alles sei "voll von sagenhaften Irrtümern, und zwar logischen …".

Thomas Kuhn, später ein hochangesehener Wissenschaftler, bemerkte bald, warum er zu so krasser Fehleinschätzung gekommen war. Aristoteles hatte andere Bilder. Er verwendete die auch heute bei Physikern gebräuchlichen Begriffe, etwa das Konzept von "Bewegung", in einem viel umfassenderen Sinn als später etwa Galileo Galilei oder Isaac Newton. Kuhn hat aus seinen Erfahrungen mit Aristoteles, den er zunächst so entsetzlich falsch verstanden hatte, grundsätzliche Erkenntnisse gewonnen.

"Wissenschaftliche Revolutionen" entstehen, wie Kuhn entdeckte, so, dass sich in ihnen das mit der Sprache als solcher – auch schon der alltäglichen – unabdingbar verbundene Wissen über die Natur verändert. Vor einer solchen Revolution stand jeweils "die Sprache der Entdeckung und Verbreitung der gesuchten neuen Theorien im Wege". Vo-raussetzung für jeden wissenschaftlichen Fortschritt ist, dass man sich der Begrenztheit durch die Bilderwelt, in der man befangen ist, bewusst wird. Denn sonst kann aus einem wissenschaftlichen (wie jedem anderen) Welt-Bild Aberglauben werden. Auch dafür ein Beispiel:

Im Jahre 1857 begann der Augustinermönch Johann "Gregor" Mendel im Klostergarten von Brünn Erbsen anzupflanzen. Was er nach acht Jahren entdeckt hatte, war buchstäblich weltbewegend, obgleich es zunächst nicht danach aussah: Wenn der Mönch sortenreine großwüchsige und zwergwüchsige Erbsen miteinander kreuzte, brachten sämtliche daraus entstehenden Samen großwüchsige Pflanzen hervor. Die Eigenschaft "Kleinwüchsigkeit" schien verschwunden. Wenn Mendel nun die Bastard-Pflanzen jeweils mit sich selbst befruchtete, war auf einmal alles anders: Ein Viertel der Samen entwickelte sortenreine Zwergpflanzen, ein weiteres Viertel sortenreine großwüchsige Erbsen und die Hälfte waren großwüchsige, nicht sortenreine Erbsenpflanzen. Der Mönch und spätere Abt von Brünn, ein Studienversager und eben mal bloß "Erbsenzähler", hatte entdeckt, was wir heute die Mendel’schen Gesetze der Vererbung nennen.

Die Biologen verinnerlichten das Bild aus dem Erbsen-Garten – auf fatale Weise. Auf der internationalen Hygieneausstellung in Dresden anno 1911 wurden analog zu den Bildern von Gregor Mendel Tabellen ganz anderer Art aufgestellt: Die Tochter eines "Verbrechers" hat zwei Söhne, der eine wird ein normaler Pfarrer, der andere ein "Sonderling, tüchtiger Kaufmann, sehr eigensinnig". Von dessen fünf Kindern ist ein Mädchen "normal", zwei Jungen sind "geisteskrank", der andere "sehr intelligent, Tyrann, Psychopath, hat es als Kaufmann weit gebracht, an der Grenze des Zuchthauses gestreift, jetzt Dementia senilis". Jener "normale Pfarrer" heiratete eine Frau mit "Defekt des Taktgefühls". Von den acht aus dieser Ehe hervorgehenden Kindern wurde einem Jungen "moralische Idiotie" attestiert.

Man könnte heute darüber lachen, wenn es die Genetiker der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht so blutig ernst gemeint hätten. Denn diese Herren Anthropologen oder "Rassenhygieniker", wie sie sich auch nannten, bekamen in der Zeit des Nationalsozialismus die Macht, ihre akademischen Vorstellungen auszuleben, Stichwort Euthanasie. Die menschliche Rasse, so glaubten sie, verhalte sich wie die Erbsen in Mendels Garten. Es machte also keinen Unterschied, ob eine Blüte blau oder rot ist, oder ein Mensch Trinker oder tuberkulosekrank, oder schwarz oder blond.

Das Erbsenbild entfaltete ein unrühmliches Eigenleben: Schlechte Anlagen kann und muss man ausrotten, wie die Zwergwüchsigkeit der Erbse, indem man die Träger solcher Anlagen mindestens sterilisiert, sodass sie sich nicht mehr vermehren können. Die Wahnvorstellungen der Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren zunächst weltweit verbreitet. Spezifisch deutsch war dann das Bild von der "Höherwertigkeit" der weißen Rasse und der "Minderwertigkeit" aller anderen, vor allem aber der Juden.

Man sieht, die Erkenntnis des Epiktet ist bis heute aktuell geblieben. Wir machen uns Bilder und inszenieren uns und die Welt ständig neu. Dies zu wissen, ändert nichts daran, denn, wie gesagt, so funktioniert unser Gehirn. Die größten künstlerischen und intellektuellen Leistungen des Menschen beruhen darauf, dass er sich Bilder macht. Aber er ist auch verführbar von den Bildern, die sein Welt-Bild ausmachen, wenn diese sich selbständig machen und zu Ideologien werden. Entmythologisierung und Aufklärung sind deshalb notwendige und niemals endende Prozesse im individuellen und gesellschaftlichen Leben wie in der Wissenschaft.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2002, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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