Die Unübersichtlichkeit hochdimensionaler Räume
Die Geometrie abstrakter Räume bietet einige Überraschungen, vor allem, wenn die Dimension des Raumes größer als 10000 ist.
Mathematiker fühlen sich auch in vier-, fünf- oder gar unendlich dimensionalen Räumen relativ wohl. Jede Situation, die beispielsweise durch fünf reelle Variable beschrieben wird, ist mit einem Punkt im fünfdimensionalen Raum zu identifizieren. Algebraische Formeln erlauben es, Begriffe wie Abstand und Winkel in solch abstrakten Räumen sinnvoll zu verwenden, und wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, daß es im fünfdimensionalen Raum fünf Geraden gibt, die sämtlich paarweise senkrecht aufeinander stehen, kann man dort fast ebenso Geometrie treiben wie auf dem vertrauten Blatt Papier
Die – in der Regel unterschwellig gehegte – Vermutung, es werde sich in beliebig vielen Dimensionen im wesentlichen so verhalten wie in der Ebene oder im dreidimensionalen Raum, ist jetzt überraschend in zwei Punkten widerlegt worden ("Science", Band 259, Heft 1, Seite 26, 1. Januar 1993).
Wenn man eine Strecke in zwei Teile zerlegt, ist jedes Teil kürzer als das Ganze. In Verallgemeinerung dieser trivialen Tatsache hatte der polnische Mathematiker Karol Borsuk 1933 vermutet, ein Gebilde – korrekt ausgedrückt: eine beschränkte Menge – im n-dimensionalen Raum sei stets in n + l Teile kleineren Durchmessers zerlegbar. Dabei ist unter dem Durchmesser einer Menge der größte vorkommende Abstand zweier Punkte der Menge zu verstehen (genauer: die kleinste obere Schranke für den Abstand zweier Punkte; es könnte nämlich sein, daß es zwei in der Menge enthaltene Punkte mit größtem Abstand nicht gibt, etwa wenn man bei einem Intervall die Endpunkte wegläßt, aber solche Feinheiten spielen hier keine Rolle). Für Kreise und Kugeln stimmt diese Definition des Durchmessers mit der üblichen überein; der Durchmesser eines Rechtecks ist die Länge einer Diagonalen, der eines Dreiecks die Länge der längsten Seite.
Man kann jedes beliebige Dreieck durch gerade Schnitte in drei Teile kleineren Durchmessers zerlegen; das gilt allgemein für jede beschränkte zweidimensionale Menge. Zudem bewies der Schweizer Mathematiker Hugo Hadwiger 1946, daß man jeden Körper entsprechend der Borsukschen Vermutung vierteilen kann; Branko Grünbaum, der jetzt an der Universität des Staates Washington in Seattle tätig ist, legte dafür 1957 einen anschaulichen Beweis vor (Bild).
Für höhere Dimensionen gab es weder einen Beweis noch ernsthafte Zweifel an der Gültigkeit der Borsukschen Vermutung, bis Jeff Kahn von der Rutgers-Universität in New Brunswick (New Jersey) und Gil Kalai von der Hebräischen Universität in Jerusalem Gegenbeispiele fanden. Ihre n-dimensionalen Mengen sind Polyeder, deren Ecken sämtlich in den Ecken eines (n + 1)-dimensionalen Würfels liegen. Diese werden durch Zahlenketten (Vektoren) der Länge n + 1 beschrieben, die nur die Werte 0 und 1 enthalten; ihr Abstand hängt allein von der Anzahl der Stellen ab, in denen sich die Vektoren unterscheiden. Dadurch verwandelt sich die Borsuksche Vermutung in eine rein kombinatorische Aussage. Es ergibt sich nun, daß für gewisse Polyeder die Mindestanzahl an Teilstücken größer als 1,1SQRT(n) sein muß. Dieser Wert aber überschreitet n + 1, wenn n in die Größenordnung von 10000 kommt, und wächst für noch größere n rasch an.
Eine zweite, ebenfalls kürzlich widerlegte Vermutung bezieht sich auf die Pflasterung des Raumes durch hochdimensionale Äquivalente des Würfels. Will man die Ebene durch gleich große Quadrate lückenlos und überlappungsfrei bedecken, bleibt einem nichts anderes übrig, als mindestens zwei Quadrate derart aneinanderzulegen, daß sie eine Seite gemeinsam haben. Der deutsche Mathematiker Ott-Heinrich Keller hatte 1930 vermutet, daß Entsprechendes in höheren Dimensionen gelten müsse. Tatsächlich muß es in jeder Ausfüllung des uns vertrauten Raums durch gewöhnliche Würfel mindestens zwei geben, die eine komplette Seitenfläche gemeinsam haben. Kellers Landsmann Oskar Perron bewies 1940 Kellers Vermutung auch für die Dimensionen 4,5 und 6.
Nun haben jedoch Jeff Lagarias und Peter Shor von den AT&T Bell-Laboratorien in Murray Hill (New Jersey) eine lückenlose Füllung des zehndimensionalen Raums durch Hyperwürfel gefunden, deren keiner mit seinen Nachbarn das Äquivalent einer kompletten Seitenfläche (immerhin einen neundimensionalen Hyperwürfel ) gemeinsam hat. Da die Anschauung in solchen Räumen ohnehin nicht recht funktioniert, konstruierten Lagarias und Shor ein algebraisches Schema für die Koordinaten der Eckpunkte und bewiesen dann, daß dieses eine Füllung mit den geforderten Eigenschaften definiert.
Bislang haben diese Widerlegungen keinen praktischen Nutzeffekt. Immerhin illustrieren sie, daß in fremdem mathematischem Gelände die gewohnten geometrischen Vorstellungen nicht immer gültig sind und man bei allem, was nicht bewiesen ist, auf Überraschungen gefaßt sein muß.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1993, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben