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Die Urzeit in Deutschland. Von der Entstehung des Lebens bis zum Neandertaler

Weltbild, Augsburg 1995.
240 Seiten, DM 98,-.

Gesteine bergen – sowohl in der sichtbaren Landschaftsform als auch in den Fossilien im Untergrund – ein reichhaltiges, wenngleich lückenhaftes Archiv zum Verlauf der Erdgeschichte sowie zum räumlich-zeitlichen Wandel der Lebewesen. Allerdings liegt das Faktenmaterial gewöhnlich nicht als lesefertige Chronologie vor. Eine geologische Karte handlichen Maßstabs etwa von Mitteleuropa zeigt ein überraschend buntes Patchwork von Farben und Eintragungen; das scheint eher Beliebigkeit als Regelhaftigkeit und strenge Ordnung wiederzugeben. Tatsächlich gehört es zu den durchaus staunenswerten Leistungen der historischen Geologie, daß sie das vielfältige räumliche Nebeneinander der Erscheinungsformen zu einem klar und widerspruchsfrei gestaffelten zeitlichen Nacheinander entwirren konnte.

Geologie und Paläontologie sind längst zu globalen Wissenschaften geworden und – als Geowissenschaften im weitesten Sinne – auch nur in diesem breiten Ansatz sinnvoll. Erleb- und nachvollziehbar sind ihre Erträge jedoch am ehesten im regionalen Kontext, an Aufschlußserien oder Fundschichten unmittelbar am Anstehenden vor Ort. In günstigen Fällen findet sich ein einigermaßen vollständiger Längsschnitt eines Erdzeitalters.

Exakt diesen inhaltlichen Zuschnitt verfolgt das vorliegende Buch. Auf dem – global gesehen – engen Raum der Bundesrepublik in ihren neuen Grenzen sind viele wichtige Stationen aus der Erdgeschichte aufgeschlossen und dokumentiert. In stratigraphischer Reihung vom Kambrium bis zum Frühquartär behandeln die einzelnen Kapitel alle wichtigen Formationen und die darin fossil abgebildeten Organismen mitsamt ihrem prägenden Formenbestand und ihrer Fortentwicklung. Der Untertitel ist leicht übertrieben; denn aus den präkambrischen Zeiten, in denen die eigentliche Entstehung des Lebens ablief, sind in Deutschland oberflächennah keine Gesteine aufgeschlossen. Dennoch ergeben sich aus dem Buch mancherlei Hinweise auch auf dieses Vorspiel.

Ein vielköpfiges und – da kein Herausgeber benannt ist – gleichberechtigtes Autorenteam hat die inhaltliche Substanz erarbeitet. Nach einem Überblick des Frankfurter Geowissenschaftlers Peter Göbel über "Die Faszination des Lebens im Spiegel der Erdgeschichte" behandeln die folgenden Kapitel von Formation zu Formation die entsprechenden Zeitabschnitte mit Szenen und Szenarien aus Paläoflora und -fauna.

Günther Freyer, Geologe in Freiberg, zeigt für Kambrium, Ordovicium und Silur "Erfolgreiche Lebensformen in den Urozeanen" auf; er befaßt sich auch mit der Landnahme der höheren Pflanzen im Devon sowie mit der Frühzeit terrestrischer Reptilien im Karbon. Der Gothaer Museumspaläontologe Thomas Martens erläutert unter anderem an den Lebensspuren im thüringischen Perm den Stand der Dinge ausgangs des Erdaltertums, während der Salzburger Paläontologe Gottfried Tichy die aufregende Radiation der Amphibien und Reptilien in der Trias schildert. Manfred Jäger, Leiter des Fossilienmuseums der Firma Rohrbach Zement in Dotternhausen, befaßt sich mit den Riesenfischen, Dinosauriern und Urvögeln des Jura, der Hamburger Paläontologe Hans-Werner Lienau unter anderem mit dem gewaltigen Faunenschnitt am Ende der Kreidezeit. Zusammen mit Peter Göbel stellt er anhand spektakulärer Funde beispielsweise aus der Grube Messel bei Darmstadt und aus der Braunkohle des Geiseltals bei Halle/Saale wesentliche Entwicklungen aus dem Tertiär dar, als das Gebiet der Bundesrepublik letztmalig im tropischen Klimagürtel lag und gleichzeitig von lebhaftem Vulkanismus geprägt wurde. Wilfried Rosendahl, Geowissenschaftler am Hessischen Landesmuseum in Darmstadt, skizziert Umfeld und erste kulturelle Zeugnisse des quartärzeitlichen Menschen. Der Beitrag der Bonner Wissenschaftsjournalistin Viola Langer, die mit "Erdgeschichte als Lebensgeschichte" einen forschungsgeschichtlichen Längsschnitt der Paläontologie in Deutschland bietet, impliziert ein Stück besonderer Kulturhistorie. Damit ist der Anschluß an die Gegenwart erreicht.

Das Buch richtet sich nicht an Fachwissenschaftler, sondern an einen Leserkreis, der das Abenteuer Geo- und Biochronologie aus purem Interesse nachvollziehen möchte. Dem dienen außer den unterhaltsam und verständlich geschriebenen Texten vor allem die zahlreichen exzellenten Farbbilder von Fundstätten und Fundstücken. Detailliert rekonstruierte Lebensbilder helfen der Phantasie nach. Originell und für das Verständnis sehr hilfreich sind besondere Themenkarten zur Paläogeographie, die jeweils zu einem Zeitabschnitt die Sedimentationsräume beziehungsweise die Land-Meer-Verteilung darstellen. Listen von Sammlungen, Schaubergwerken und Besucherhöhlen sowie erläuternde Anhänge beschließen das Buch.

Am Ende hat der Leser eine sehr geraffte, aber auf- und anregende Zeitfahrt durch rund eine halbe Milliarde Jahre Erdgeschichte und besonders spannende Phasen in der Evolution der Lebewesen vollzogen. Das vielseitige Werk bringt buchstäblich das Gestein zum Reden und bietet reichlich Gelegenheit zum Bestaunen von Fossilien – eine gelungene Darstellung moderner regionaler Geowissenschaften und ihrer Erträge.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 113
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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