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Die Verhüllung des Berliner Reichstaggebäudes aus technischer Sicht


Die in New York ansässigen Künstler Christo und Jeanne-Claude Javacheff erhielten am 25. Februar 1994 vom Deutschen Bundestag die Erlaubnis, das Reichstagsgebäude in Berlin zu verhüllen. Sechzehn Monate später wurde das temporäre Kunstwerk – ein bereits Ende der siebziger Jahre vorgeschlagenes und wegen außergewöhnlicher historischer Assoziationen vieldiskutiertes Projekt – realisiert.

(Der Berliner Reichstag, zwischen 1884 und 1894 nach Plänen des eklektizistischen Architekten Paul Wallot errichtet, war im Kaiserreich und in der Weimarer Republik Sitz des deutschen Parlaments und wird es künftig wieder sein. Ein Brandanschlag am 27. Februar 1933 hatte den Nationalsozialisten als Vorwand gedient, die Grundrechte der Verfassung außer Kraft zu setzen und politische Gegner zu verfolgen. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude weiter zerstört, von 1957 bis 1971 dann wieder aufgebaut, allerdings ohne die ursprünglich vorhandene Kuppel. Christo hatte vordem an groß dimensionierten Werken unter anderem "Valley Curtain" bei Rifle in Colorado, "Running Fence" in Kalifornien und "Surrounded Islands" in der Biscayne-Bai von Florida geschaffen sowie die Pariser Brücke Pont Neuf verhüllt.)

Zwei Wochen lang begeisterte das mit rund 100000 Quadratmeter silbrig glänzendem Kunststoffgewebe umkleidete Denkmal Bevölkerung und Medien. Diese künstlerisch und geschichtlich bedeutsame Skulptur war freilich auch eine Herausforderung für Architekten und Bauingenieure gewesen.

In Deutschland nahm die Verhüllter Reichstag GmbH die Interessen des Künstlerpaares wahr und trat als Bauherr auf, denn das Kunstwerk wurde von den Behörden als Bauvorhaben eingestuft. Unser Büro, ein Team von Architekten und Ingenieuren, erhielt im Frühsommer 1994 den Auftrag zur technischen Bearbeitung. Anhand von Skizzen, Zeichnungen und Modellen Christos (Bild 1) sowie von Wind- und Materialgutachten planten wir die verhüllende Konstruktion aus Gewebe, Seilen, Verankerungen, speziellen Unterkonstruktionen auf dem Dach, Rückhaltesystemen in den Fenstern und Schutzvorrichtungen für Fassade und Figuren; anhand der Berechnungen legten wir den Stoffzuschnitt fest.

Es galt dabei zum einen, die Vorstellungen der Künstler umzusetzen, insbesondere eine wie zufällig in Falten liegende Verhüllung zu realisieren, die sich im Wind bewegen konnte. Zum anderen waren Anforderungen bautechnischer Art zu erfüllen. Als der Fassade vorgelagerte Fläche mußte das Gewebe die Windkräfte aufnehmen und punktuell auf die Verankerungen übertragen. Allerdings durften lediglich im Bereich der Dachlandschaft, die für den inzwischen begonnenen Umbau des Reichstags ohnehin entfernt werden sollte, Verschraubungen angebracht werden, während im Bereich der denkmalgeschützten Fassaden nicht einmal Dübel erlaubt waren. Auch waren architektonische Schmuck- und Gestaltungselemente des in prunkvollem Renaissancestil gehaltenen Gebäudes zu schützen.


Das textile Material

Die Künstler hatten vorgegeben, einseitig aluminiumbedampftes Polypropylengewebe mit einer Nennreißfestigkeit von 80000 Newton pro Meter zu verwenden; aus Polypropylen waren auch die blauen Seile.

Da entsprechende Baunormen eine recht hohe Windbelastung und eine mindestens fünfzigjährige Gebrauchsdauer des Bauwerks voraussetzen, wäre die entsprechende Auslegung der Materialien unnötig aufwendig ausgefallen. Wir ließen deshalb ein Gutachten zu den zu erwartenden Winddruckverteilungen erstellen. Außerdem untersuchte die Bundesanstalt für Materialprüfung in Berlin den Stoff auf Tragfähigkeit, Schwerentflammbarkeit und Einfluß der Witterung. Dabei zeigte sich, daß die nutzbare Reißfestigkeit unter Praxisbedingungen wohl achtfach geringer war und sich die Kennwerte des Gewebes bei Tests im Freiland nach 17 Tagen um zwei Drittel verschlechtert hatten (auch während der zweiwöchigen Verhüllung des Reichstages überprüfte die Bundesanstalt auf dem Dach aufgestellte Proben).

All diese Untersuchungsergebnisse gingen in die Auslegung der Verhüllung ein. Die 70 je 30 mal 45 Meter großen Paneele wurden, um den Falteneffekt zu erreichen, breitseits doppelt gelegt. Jedes Paneel bestand wiederum aus etwa 20 vernähten Einzelbahnen von 1,55 Metern Breite; dabei verwendeten wir eine Doppelkappnaht, bei der die Lagen in Z-Form gemeinsam gefaltet und dann zusammengenäht werden.

Besonders zu beachten waren die oberen und unteren Ränder, denn darin waren im Abstand von 33 Zentimetern Schlaufen für die Gurte angebracht, welche die Zugbelastung auf die Haltekonstruktionen zu übertragen hatten (durch diese Gurte wurden sogenannte Lastverteilungsrohre geführt, die wiederum mittels Gurten an den Halterohren zu befestigen waren). Deshalb wurden dort die Paneele mit Streifen aus PVC-beschichtetem Polyestergewebe verstärkt, die mit einem im wesentlichen zickzackförmigen Nahtbild aufgebracht wurden. Diese Detailausbildungen basierten auf umfangreichen Versuchen eines Konfektionärs mit entsprechender Prüfmaschine.

Knopflöcher ermöglichten, die Rückhalteseile von Fensterankern und Seilankern auf dem Dach durch die Paneele zu den außenliegenden Halteseilen zu führen. Die einzelnen Paneele verband man am vertikalen Stoß mit Gurten.


Entwicklung des Konzepts und Ausführung

Die Planung basierte auf zwei räumlichen Computermodellen, einem, das auf Bestands- und Wiederaufbauplänen sowie aktuellen Photographien beruhte und der Anschaulichkeit diente (Bild 2 links), sowie einem geometrischen, erstellt anhand eigens durchgeführter Vermessungen der Meßbildstelle Dresden.

Aus diesem Koordinatensatz leiteten wir die Zuschnittszeichnung aller Hüllenkomponenten ab. Dazu wurden für jedes Paneel Kanten und Knicklinien erfaßt, die dreidimensionalen Formen am Bauwerk entwickelt, diese dann auf zwei Dimensionen abgebildet (also die Oberfläche abgewickelt), darin die Stoffbahnen einbeschrieben und Halte- und Verbindungsdetails sowie Markierungen für die Faltung eingefügt.

Aufgrund der Anforderungen und der ermittelten Gewebefestigkeit wurde folgendes bautechnische Konzept gewählt (Bild 2 links und Mitte):

- Eine obere Haltelinie zur Fixierung des Gewebes auf dem Dach sollten vor allem Stahlprofile bilden. In die über zwei Stockwerke reichenden Lichthöfe waren Gerüste einzubauen, um Einbuchtungen der Hülle zu verhindern und begehbare Arbeitsflächen zu schaffen. Diese Konstruktionen durften später an der vorhandenen Dachkonstruktion fest verankert werden, ebenso die Schutzkäfige und einzelne Anker für die über das Dach laufenden Seile.

- Ballastkörper würden die vernähten Paneele am unteren Rand halten; ihr Gesamtgewicht von 1000 Tonnen verteilte sich auf etwa 500 Meter.

- Stahlrohrkonstruktionen an der Dachkante lenkten das Gewebe zum Schutz des Sandstein-Gesimses um.

- Um ein Ausbauchen der Hülle zu verhindern, wurden im ersten und zweiten Obergeschoß je drei horizontal umlaufende Seile vorgesehen, über sogenannte Rückhalteseile durch Fenster an innen quer gelegten Balken verankert; somit konnten die Wände Zugkräfte aufnehmen.

- Zur Gestaltung und um die vorgespannten horizontalen Seile in Position zu halten wurden zusätzlich noch vertikale eingeplant.

Im Sommer 1994 fand ein Test von Faltenwurf und Montage an einem Hochhaus in Konstanz statt. Dazu wurden zwei Käfige im Originalmaßstab gefertigt. Auf Wunsch der Künstler wurde dazwischen noch mit keilförmigen Luftkissen eine begehbare und geschlossene Fläche hergestellt, um Knicke im Testpaneel beim Abrollen zu vermeiden. Außerdem zeigte sich, daß das Niederlassen des Verhüllungsmaterials wesentlich einfacher vonstatten ging, wenn es – planmäßig in Falten gelegt – von einem Teppichkern abgerollt wurde.

Nachdem in Berlin die Stahlunterkonstruktion stand, wurden die 70 Paneele am 16. Juni 1995 von Kränen auf das Reichstagsdach gehievt und die Lastverteilungsrohre mit den oberen Halterohren verbunden. Am Tag darauf begann die eigentliche Verhüllung mit dem Abrollen des Stoffes und dem Befestigen der außenliegenden blauen Seile, am 24. Juni war der Vorgang abgeschlossen (Bild 2 rechts). Zwei Wochen lang bildete das Gebäude auf dem Platz der Republik zwischen Spree und Brandenburger Tor, hinter dem bis 1990 die Sektorengrenze zwischen Ost und West verlaufen war, ein Werk der Public Art – Kunst in der Öffentlichkeit, ihren Regeln unterworfen und zu ihrer Erbauung gedacht.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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