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Die Wiederentdeckung des Geistes


John R. Searle ist Professor für Philosophie an der Universität von Kalifornien in Berkeley und einer der prominentesten Kritiker der Künstliche-Intelligenz-Forschung. Wer kennt nicht sein Beispiel vom chinesischen Zimmer (Spektrum der Wissenschaft, März 1990, Seite 40): Jemand, der kein Chinesisch versteht, ist in einem Zimmer eingeschlossen und beantwortet unter der Tür durchgeschobene Fragen in chinesischen Schriftzeichen gemäß einem Regelwerk, das so gut ist, daß sich die Antworten nicht von denen eines Chinesen unterscheiden. Könnte man dann von dem Eingeschlossenen sagen, er verstünde Chinesisch?

Searle will eine Analyse des menschlichen Bewußtseins vorlegen, "eine Untersuchung in Gang setzen, die das Bewußtsein aus sich heraus – als das, was es selbst ist – begreift" (Seite 9). Dabei gehe er aus von Fakten, die "wir sicher wissen": Bewußtsein ist nach Searle eine höherstufige oder emergente Eigenschaft des Gehirns, so wie der Aggregatzustand "flüssig" eine Eigenschaft eines Systems von Molekülen ist. Der geistige Zustand des Bewußtseins ist ein gewöhnliches biologisches – und das heißt: physisches – Merkmal des Gehirns, ähnlich anderen biologischen Merkmalen wie Photosynthese oder Verdauung. Angesichts dessen, was wir über die Welt wissen, sei dieses Weltbild das einzige, dem wir uns verschreiben könnten, wenn wir tief nachdenken. Woher wir das "sicher wissen", läßt Searle freilich offen.

In den ersten drei Kapiteln kritisiert er die vorherrschenden Auffassungen in der Philosophie des Geistes, insbesondere das, was er den philosophischen Materialismus nennt. Der Name ist gewöhnungsbedürftig, denn üblicherweise würde man Searles eigenen, oben zitierten Standpunkt als materialistisch einstufen. Die Materialisten jedoch, die er meint, akzeptierten von vornherein das Vokabular und die Kategorien des Dualismus, in denen sie sich dann hoffnungslos verstrickten. Sie fürchteten, man werde schon dann zum Dualisten, sobald man nur denke, daß es Bewußtsein gibt. Searle hält dagegen, man könne "durch und durch" Materialist sein, ohne die Existenz geistiger Phänomene zu bestreiten. Bewußtsein sei einfach eine weitere materielle Eigenschaft unter vielen.

Die Kapitel 4 bis 8 sind einer Charakterisierung des Bewußtseins auf der Basis der Searleschen Grundthese gewidmet. Bewußsein sei zwar auf Hirnvorgänge rückführbar. Aber auch eine vollkommene Wissenschaft des Gehirns könnte nicht eine Reduktion von der Art leisten, wie unsere heutige Wissenschaft sie etwa für Wärme, Festigkeit, Farbe und Klang bereitstellt. Diese Irreduzibilität des Bewußtseins sei jedoch nur eine triviale Konsequenz unser Definitionspraktiken, denn das geläufige Rückführen von Erscheinungen auf eine sogenannte Wirklichkeit sei beim Bewußtsein nicht anwendbar, weil das Bewußtsein aus den Erscheinungen selbst bestehe.

Das Unbewußte sei nicht anders auf den Begriff zu bringen denn als etwas potentiell Bewußtes. Diese These nennt Searle das "Verbindungsprinzip". Der unbewußte Geist sei einfach das "neurophysiologische Kausalvermögen der Verursachung bewußter Zustände und bewußten Verhaltens" und die Konzeption Sigmund Freuds (1856 bis 1939) vom Unbewußten und seiner Beziehung zum Bewußten inkohärent.

Bis hierhin ist das Buch im wesentlichen ein Resümee aus Searles früheren Werken. Neu und wirklich interessant ist das 9. Kapitel, in dem er sich mit zentralen Annahmen der Kognitionswissenschaft auseinandersetzt, insbesondere mit der sogenannten Computationshypothese: Demnach sei der Geist das Programm und das Hirn die Hardware eines Rechnersystems (welchen Typs auch immer); jedenfalls seien geistige Prozesse Rechenprozesse. Dagegen hat Searle schon in vielen früheren Arbeiten (insbesondere zum chinesischen Zimmer) argumentiert. Es sei zwar trivial, daß sich die Hirntätigkeit genauso simulieren lasse wie zum Beispiel die New Yorker Aktienbörse, aber es bleibe die Frage: Ist das Gehirn ein digitaler Computer?

Searles Argumentation ist eindrucksvoll: Computation ist syntaktisch definiert, durch Symbolmanipulation. Syntax und Symbole sind jedoch nicht durch ihre physische Beschaffenheit definiert: Syntax ist nichts intrinsisch Physisches. Computation kann also nicht in der Beschaffenheit eines physischen Objektes entdeckt werden, sondern wird ihm zugeordnet, indem gewisse physische Phänomene syntaktisch interpretiert werden. Syntax und Symbole sind beobachter-relativ. Man kann also nicht entdecken, daß das Hirn – oder sonst etwas – an sich ein Digitalcomputer ist, obgleich man ihm (wie allem) eine computationale Interpretation zuordnen kann. Die Behauptung "Das Hirn ist ein digitaler Computer" hat keinen klaren Sinn.

Einige physikalische Systeme eignen sich besonders dazu, computational verwendet zu werden. Aber wir selbst sind der Homunculus im System, der die physischen Zustände und Abläufe syntaktisch und semantisch interpretiert. Die Kausalerklärungen, die wir dann geben, sind nur solche, die zur physischen Beschaffenheit der Implementierung und zur Intentionalität des Homunculus gehören. Wenn also ein Mensch die Tätigkeit eines Computers oder auch eines Hirns erklärt, kann er entweder auf der physischen Ebene den Fluß irgendwelcher Elektronen oder Nervenimpulse verfolgen oder dem betrachteten System seine Interpretation aufprägen; diese aber steckt nicht im System (der Fluß der Elektronen übrigens auch nicht).

Das Gehirn verarbeitet, soweit es um seine intrinsischen Tätigkeiten geht, keine Informationen. Es ist ein spezifisches biologisches Organ, dessen spezifische neurobiologische Vorgänge spezifische Formen von Intentionalität verursachen. Im Hirn an sich gibt es neurobiologische Vorgänge, und manche darunter verursachen Bewußtsein. Das ist alles.

Im 10. Kapitel "Wie man die Untersuchung des Geistes richtig angeht" zieht Searle Folgerungen aus seiner philosophischen Position. Viele kognitionswissenschaftliche Erklärungen besäßen gar nicht die Erklärungskraft, die ihnen beigemessen werde. Es müsse eine Umkehrung ihrer logischen Struktur vorgenommen werden, etwa wie beim Übergang von der vor- zur nach-darwinischen Biologie. Vorher sagte man: Die Pflanze will überleben, und deshalb dreht sie sich zur Sonne. Diese Erklärung wurde durch eine andere auf zwei Ebenen ersetzt: Variierende Auxin-Absonderungen bewirken, daß Pflanzen ihre Blätter zur Sonne drehen; das ist die "Hardware-Ebene". Die "funktionale Ebene": Pflanzen, die ihre Blätter zur Sonne drehen, überleben mit größerer Wahrscheinlichkeit als solche, die das nicht tun. Die vor-darwinische Erklärungsform ist teleologisch: Das Ziel fungiert als Ursache des Verhaltens. In der dritten Erklärungsform ist die Teleologie eliminiert; das Verhalten, für das die Hardware-Ebene eine mechanische Erklärung gibt, verursacht die Tatsache des Überlebens, welche nun nicht mehr ein Ziel, sondern bloß eine Wirkung ist.

Durch diese Umkehrung der Erklärungsordnung, konstatiert Searle, gelangten wir zu einer anderen Theorie der Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Dafür gibt er ein Beispiel anhand des vestibulo-okularen Reflexes (VOR). Die teleologische Erklärung "Um mein Retinabild stabil zu halten und meine visuelle Wahrnehmung bei Bewegung des Kopfes zu verbessern, folge ich der tief unbewußten Augapfelbewegungsregel" verträgt sich nicht mit dem Verbindungsprinzip. Statt dessen sollten wir sagen: "Hardware: Wenn ich einen Gegenstand anschaue, während mein Kopf sich bewegt, bewegt der VOR-Mechanismus meine Augäpfel. Funktional: Die VOR-Bewegung hält das Retinabild stabil, und dadurch wird meine visuelle Wahrnehmung verbessert" (Seite 260). Damit erübrige sich eine ganze Ebene tief unbewußter psychischer Ursachen. Das Gehirn müsse behandelt werden wie jedes andere Organ. Als solches habe es eine funktionale Beschreibungsebene, und wie jedes andere Organ lasse es sich so behandeln, als ob es Informationen verarbeite und Computerprogramme implementiere. Zu einem Organ des Geistes aber werde das Hirn durch sein Vermögen, bewußte Gedanken, Handlungen und so weiter zu verursachen und zu erhalten.

Ich habe mich bemüht, Searles Geisteshaltung und seine vielschichtige Argumentation einigermaßen angemessen wiederzugeben, ohne viele bewertende Bemerkungen einzuschieben. Das Buch kann jedem Interessierten empfohlen werden. Es ist spannend geschrieben, stellenweise recht polemisch, und die Übersetzung ist im ganzen hervorragend.

Allerdings ist Searles Ansatz in gewissem Sinne konventionell, und so kommt denn letzlich auch nichts Unkonventionelles heraus. Man mag ihm zustimmen oder nicht – was soll's? Denn sein Ansatz ist falsch: Er spekuliert über das Bewußtsein, weil er keine Rücksicht auf das Denken nimmt, durch das er zu seinen Ergebnissen kommt. Das Bewußtsein, wie der Zusammenhang aller Dinge, wird aber durch das Denken bestimmt und nicht umgekehrt. Jede wissenschaftliche Untersuchung setzt das Denken voraus. Aber dieses Denken bestimmt den Zusammenhang zwischen dem Ausgangspunkt jeder Untersuchung und ihrem Ergebnis. Müßte man also nicht, um wirkliche Klarheit über diesen Zusammenhang zu gewinnen, zuerst das Denken selbst zum Gegenstand der Untersuchung machen? Dafür braucht man keine Kenntnis der Gehirnphysiologie, würde bei ihrer Verwendung auch einem Zirkelschluß anheimfallen, denn diese gewinnt man ja auch durch das Denken. Das Denken kann, wenn überhaupt, nur durch sich selbst bestimmt werden. Es mischt sich in jede Beobachtung, schwebt als unbeobachteter, übersehener Prozeß im Hintergrund. Nur wenn ich mein Denken betrachte, gibt es kein solches unberücksichtigtes Element. Was ich beobachte, ist qualitativ dasselbe wie die Tätigkeit, die sich darauf richtet. Welche Rolle das Gehirn für das Bewußtsein und beim Denken spielt, ist eine Frage, die erst danach angegangen werden kann.

Die (meisten) Mathematiker haben den platonischen Ideenhimmel aus guten Gründen ad acta gelegt. Aber in bezug auf das, was wir (etwa physikalische) Realität nennen, sind wir noch längst nicht soweit.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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