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Die Zukunft des dualen Systems - Ändern und Bessern ist zweierlei


Wie steht es um das duale System der Berufsbildung in Deutschland? Das mit dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) von 1969 geschaffene System befinde sich in einer tiefen Krise, behaupten derzeit viele. Es habe zwar an Attraktivität eingebüßt, so die etwas zurückhaltenderen Meinungsäußerungen, von Krise könne jedoch keine Rede sein; das System habe nur seinen Vorsprung mittlerweile eingebüßt.

Nicht alles, was zur Zeit als guter Rat angedient wird, hilft aus unserer Sicht tatsächlich zur Weiterentwicklung des dualen Systems. Unter dem Etikett Flexibilisierung wird manches in der Öffentlichkeit propagiert, was in Wahrheit dem Durchsetzen bestimmter Interessen dienen soll. Ändern muß nicht Bessern sein. Notwendige und umsetzbare Verbesserungen aus der Sicht des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) wollen wir hier aufzeigen.


Grundzüge des Systems

Mit seinen rechtlich normierten Bildungsgängen, den staatlich anerkannten Ausbildungsberufen und einem Geflecht von Kooperationsbeziehungen zwischen den Sozialparteien und dem Staat weist das deutsche duale Ausbildungssystem eine komplexe Struktur auf. Daraus nun aber den Schluß zu ziehen, es sei nicht flexibel genug, um gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zu entsprechen, ist falsch. Das Gegenteil trifft zu. Uns erstaunt denn auch, wie leichtfertig und unbedacht selbst Befürworter des Systems Kernelemente der dualen Ausbildung (Bild 2) zur Disposition stellen. Dazu gehören beispielsweise das Berufskonzept, die ausschließliche Orientierung des Ausbildungsniveaus an den späteren beruflichen Anforderungen (nicht an der Vorbildung der Auszubildenden), die Offenheit des Zugangs (auch Jugendliche ohne Schulabschluß können einen Ausbildungsvertrag abschließen), Qualitätsmerkmale wie die Qualifikation der Ausbilder und das Konsensprinzip für das Zusammenwirken von Sozialparteien und Regierung bei der Planung, Durchführung und Evaluierung der Berufsbildung.

Dieses System garantiert eine systematische Verbindung von Arbeiten und Lernen; es sichert eine breite berufliche Grundbildung und ermöglicht den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen bereits während der Ausbildung. Das sind die Faktoren, denen das duale System national sein hohes gesellschaftliches und sozialpolitisches Ansehen verdankt, die aber auch seine internationale Wertschätzung ausmachen.

Die Megatrends Globalisierung der Informationen und der Märkte, Internationalisierung der Unternehmen und Anwachsen des Dienstleistungssektors haben sich dramatisch verstärkt; sie üben erheblichen Anpassungsdruck auf alle gesellschaftlichen Systeme aus, auch auf das deutsche Berufsbildungssystem. Das darf aber nicht zur Folge haben, daß unter dem Vorwand von Flexibilisierung bewährte Strukturen vorübergehend ausgehebelt oder sogar dauerhaft außer Kraft gesetzt werden.

Totale Flexibilität ist kein Konzept zur Bewältigung schwieriger Probleme in einem von Verunsicherungen geprägten sozialen und wirtschaftlichen Klima. Sie wäre als Reaktion auf die aktuellen Herausforderungen ebenso ungeeignet wie Starrheit. Nötig ist vielmehr, einerseits an leitenden Zielen und charakteristischen Strukturen festzuhalten, andererseits Bereitschaft und Fähigkeit zur flexiblen Veränderung aufzubringen und zu fördern. Nur beides zusammen sichert unseres Erachtens die sinnvolle Weiterentwicklung des dualen Berufsbildungssystems. Der rechtliche und strukturelle Rahmen für rasch mögliche Innovationen ist vorhanden. Es bedarf keiner gesetzgeberischen Reformen.


Bilanz desAusbildungsjahres 1996

Das vergangene war ein schwieriges, gleichwohl zufriedenstellendes Jahr für das duale System. Es hat, wie zuletzt Anfang der achtziger Jahre, eine starke Mobilisierung für Ausbildungsplätze gegeben. Deren Abbau in Großbetrieben konnte gestoppt werden – Chemie-, Metall- und Elektroindustrie boten sogar mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr an. Hingegen waren im Handwerk, das in den letzten Jahren die Bilanz immer wieder stabilisierte, erstmals seit längerem Einbrüche festzustellen.

Die betriebliche Ausbildung ist nach wie vor gefragt und hat Zukunft: Rund 575000 Jugendliche schlossen im letzten Jahr neue Verträge ab. Diese beeindruckende Zahl entsprach aber nicht dem Bedarf. Zehntausende weiterer Ausbildungsplätze fehlten. Zwar wurde in den alten Bundesländern ein knapper Gleichstand mit 1995 erzielt. Gemessen an der Situation noch im Sommer 1996 ist dies ein Erfolg; aber der erhoffte und von den Arbeitgebern zugesagte Zuwachs wurde nicht erreicht. In den neuen Bundesländern konnte die Zahl der betrieblichen Lehrstellen sogar erhöht und die außerbetriebliche Ausbildung zurückgefahren werden; doch die stärker gestiegene Nachfrage wurde dort ebenfalls nicht voll befriedigt.

Diese generellen statistischen Befunde machen deutlich, daß das duale System aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Arbeits- und Ausbildungsstellenmarkt konjunkturabhängig ist (Bild 3). Das Angebotsverhalten der Wirtschaft unterliegt wie das Nachfrageverhalten der Bewerberinnen und Bewerber Markteinflüssen. Zudem lehren die Erfahrungen des Jahres 1996, daß die stützenden Maßnahmen zur Steigerung des Ausbildungsplatzangebotes nicht rechtzeitig eingeleitet wurden. Ferner zeigt die Einführung neuer Ausbildungsberufe wie jüngst Film- und Videoeditor oder Mediengestalter Bild und Ton, daß es erheblicher Anstrengungen bedarf, sie kurzfristig in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und Betriebe zur Ausbildung zu ermuntern. Auch jene Unternehmen und Branchen, die neue Berufe einfordern, müssen zunächst Konzepte und Inhalte für deren Ausbildung aufbauen.


Künftige Nachfrage

Die Anzahl der Schulabgänger je Altersjahrgang steigt bis zum Jahre 2005 auf etwa eine Million. Bei gleichbleibendem Übergangsverhalten werden dann rund 750000 Jugendliche eine Ausbildung im dualen System anstreben. Dies bedeutet, daß in Deutschland ab 1997 jährlich mit einer Zunahme von 12000 bis 13000 betrieblichen Ausbildungsplätzen zu rechnen ist.

Es ist in der Bildungspolitik unseres Landes unumstritten, aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen allen Absolventen der Schulen eine Ausbildung vor Eintritt in das Erwerbsleben zu sichern. Aber trotz größter Anstrengungen ist es 1996 nicht gelungen, die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge zu steigern. Daraus folgt, daß die bisherige Strategie, in den vorhandenen Ausbildungsbetrieben zusätzliche Plätze im erforderlichen Umfang zu schaffen, nicht greifen wird. Mithin ist es unumgänglich, weitere Potentiale zu erschließen. Dafür bieten sich an:

- Unternehmen, die bisher nicht ausbilden,

- neue Formen der Ausbildungsorganisation und

- die Alternative der beruflichen Vollzeitschulen.

Beispielsweise gibt es Hinweise darauf, daß die während der letzten Jahre in den neuen Bundesländern gegründeten jungen Unternehmen vermehrt für die Berufsausbildung zu gewinnen wären, wenn sie bei der Planung und Durchführung intensiv beraten werden.

Hingegen ist kaum zu erwarten, daß eine gesetzlich geregelte Umlagenfinanzierung das Angebot an Ausbildungsplätzen in Deutschland nennenswert und in kurzer Frist steigern würde. Abgesehen davon, daß es zur Zeit dafür keine parlamentarische Mehrheit gibt, lehrt das Beispiel Dänemarks, daß es in wirtschaftlich schwierigen Zeiten außerordentlich schwerfällt, mit einem komplizierten Finanzierungsverfahren Ausbildungsaktivitäten zu stimulieren. Es spricht vieles dafür, daß steuerliche Anreize mehr bewirken würden, und das relativ kurzfristig.


Steigerung des betrieblichen Ausbildungsplatzangebots

Betriebliche Ausbildungsplätze bieten ausschließlich die privaten und öffentlichen Arbeitgeber. Somit bestimmen sie sowohl die Zahl der Plätze wie die Ausbildungsberufe. Die staatliche Anerkennung von rund 370 Ausbildungsberufen und die Beratungsdienste der Handwerks- sowie der Industrie- und Handelskammern eröffnen grundsätzlich den meisten Unternehmen und Verwaltungen Möglichkeiten der Ausbildung.

Es gibt zwar keine rechtlich durchsetzbare Verpflichtung, Jugendliche auszubilden; aber das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 10. Dezember 1980 zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz eindeutig klargestellt, daß im deutschen dualen System die spezifische Verantwortung für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen der Natur der Sache nach bei den Arbeitgebern liegt. Denn nur sie verfügen über die Möglichkeit, Ausbildungsstellen zu schaffen. Der Staat muß erwarten können, daß diese gesellschaftliche Gruppe diese Aufgabe nach ihren objektiven Möglichkeiten auch so erfüllt, daß grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendlichen die Chance erhalten, einen anerkannten Beruf zu erlernen.

Damit ist die Meßlatte gelegt. Anzuerkennen ist: Das duale System in Deutschland versorgt ungefähr zwei Drittel eines Altersjahrgangs mit betrieblicher Ausbildung – dies ist die höchste Quote eines Ausbildungssystems im weltweiten Vergleich überhaupt. Aber wie die Verantwortlichen ihrer Aufgabe in den kommenden Jahren gerecht werden ist dann auch aus der Sicht der Jugend der Prüfstein für den sozialen Rechtsstaat.

Aus Untersuchungen unseres Instituts wissen wir, daß die Hauptmotive der Unternehmen bei ihrer Entscheidung über Art und Umfang der Ausbildungangebote die vorhersehbare Beschäftigungssituation und der daraus abgeleitete Bedarf an Fachkräften sind. Nun ist die konjunkturelle Entwicklung seit geraumer Zeit in nahezu allen Wirtschaftsbereichen ungünstig, und auch für das laufende Jahr sind positive Anzeichen rar. Über der jeweiligen Wirtschaftslage dürfen jedoch weder der langfristige Nutzen und der Investitionscharakter der Ausbildung noch die Verantwortung der gesamten Unternehmerschaft für ein ausreichendes Angebot an Plätzen dafür außer acht gelassen werden.

Wie bei anderen unternehmensstrategischen Entscheidungen reichen kurzfristige Rentabilitätsüberlegungen und aktuelle Kostenrechnungen bei der Überlegung, ob und in welchem Maße ein Betrieb ausbilden sollte, zur Zukunftssicherung nicht aus. Berufliche Bildung rechnet sich mittel- und langfristig auch betriebswirtschaftlich. Eigene Fachkräfte aus- und weiterzubilden ist ein wesentliches Kennzeichen des lernenden Unternehmens. Wohl zahlen sich solche Investitionen in der Regel erst nach rund drei Jahren aus, werden dann aber zum Wettbewerbsvorteil.

Wenngleich kaum ein Betrieb die Auftrags- und Beschäftigungslage des Jahres 2000 exakt vorhersehen kann, lassen gegenwärtig viele Rahmendaten eine positive Entwicklung erwarten. Besonders solche Unternehmen werden bei anziehender Konjunktur erfolgreich sein, die über gut ausgebildete junge Mitarbeiter verfügen. Denn auch das ist eindeutig belegbar: Betriebstreue und Qualität der im eigenen Unternehmen ausgebildeten Fachkräfte sind hoch.


Neue Organisationsformen

Dem Berufsbildungsgesetz und den darauf fußenden Regelungen liegt die klassische Kombination zugrunde: Der Einzelbetrieb schließt den Ausbildungsvertrag, und der Auszubildende besucht die staatliche Teilzeit-Berufsschule. In der Praxis haben sich allerdings infolge des Angebots überbetrieblicher Berufsbildungsstätten und der Verbundausbildung zahlreiche Modelle entwickelt, die von diesem Grundmuster abweichen.

Die Flexibilität des dualen Systems läßt sogar noch größere Vielfalt zu. Eine Firma, die das gesamte Ausbildungsspektrum eines Berufsbildes nicht allein abdecken kann und Kooperationen eingeht, ist darum kein Ausbildungsbetrieb minderer Qualität, sondern erweist sich damit gerade als aufgeschlossen, modern und gesellschaftlich verantwortungsbewußt. Die gelegentlich noch geäußerten Vorbehalte gegen derartige Initiativen außerhalb der klassischen Kombination sind unzeitgemäß. Die zuständigen Stellen müssen vielmehr noch flexibler werden bei der Anerkennung unkonventioneller kooperativer Formen.


Verbundausbildung

Mit einer Ausbildung im Verbund können insbesondere in wirtschaftsschwachen Regionen auch solche Betriebe, die alleine keine vollständige Ausbildung organisieren können, in die duale Ausbildung einbezogen werden. Solche Konzepte eignen sich zudem dazu, den Know-how-Transfer, die Einführung neuer Technologien und die gemeinsame Nutzung von Ressourcen zu erleichtern.

Für bisher nicht ausbildende Unternehmen wird dadurch der Einstieg erleichtert, da einzelne Ausbildungsabschnitte auf mehrere Firmen verteilt werden; sie übernehmen nicht sogleich die volle Verantwortung. Klein- und Mittelbetriebe, denen es an Erfahrung, Organisationskapazität oder finanziellen Mitteln fehlt, werden durch die Partner entlastet. Sie können gemeinsam auch die vorausgesetzte arbeits- und berufspädagogische Weiterbildung des Personals leichter organisieren.

Die Vorteile für die Auszubildenden sind ebenso augenfällig: Sie werden durch den Wechsel der Betriebe und des Bildungspersonals mit verschiedenartigen Lernmethoden, Arbeitsorganisationen und Tätigkeitsfeldern vertraut. Eine Ausbildung im Verbund vermittelt ihnen die geforderte Breite beruflicher Grundkenntnisse, gewöhnt sie daran, sich wechselnden Situationen zu stellen, und fördert ihre Fähigkeit zum Denken in überbetrieblichen Systemen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen des Arbeitsmarktes am wichtigsten ist jedoch ihre größere Chance, nach der Ausbildung eine Beschäftigung zu finden.


Attraktivere Berufsfachschulangebote

Diskussionen und Klagen über den Mangel an Ausbildungsstellen werden fast ausschließlich mit Blick auf das duale System geführt. Es ist tatsächlich der quantitativ bedeutsamste, aber durchaus nicht der alleinige Träger der Berufsausbildung. In den beiden letzten Jahrzehnten ist unter Verantwortung der Länder die schulische Vollzeit-Ausbildung mit vielfältigen beruflichen Qualifizierungsmöglichkeiten ausgebaut worden. Dies gilt auch für die neuen Bundesländer.

Zur Zeit gibt es in den Vollzeit-Berufsschulen des Gesundheitswesens und der Assistentenberufe etwas mehr als 80000 Plätze. Sie werden jedoch nicht einmal im bestehenden Umfang angenommen, weil die Jugendlichen nur geringe Beschäftigungschancen nach dieser Ausbildung vermuten: Sie können bislang nicht die erworbenen Fertigkeiten und Kenntnisse in einer Prüfung vor der zuständigen Kammer nachweisen, also kein Zertifikat erwerben, wie es auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist.

Solange hier nicht Abhilfe geschaffen wird, werden Jugendliche Schulen zur Ausbildung in Assistentenberufen als die schlechtere Wahl betrachten. Damit bleibt eine wichtige und qualitativ hochwertige Ausbildungsmöglichkeit weithin ungenutzt. Dies ist nicht nur eine Vergeudung von Ressourcen, sondern verschüttet in den kommenden Jahren eine wichtige Quelle zusätzlicher Kapazitäten. Schulen, Kultusministerien, Kammern und ihre Dachverbände sowie die zuständigen Bundesministerien sollten die vorliegenden Konzepte endlich umsetzen. Beispielsweise würde ein Wirtschaftsassistent nach zwei Jahren Berufsfachschule und einem Jahr praktischer Tätigkeit in Fachbetrieben, wenn er die Prüfung vor der Kammer besteht, für eine Berufstätigkeit gerüstet sein. Vorläufigen Schätzungen des BIBB zufolge könnten nach einem solchen Modell allein in den neuen Bundesländern jährlich rund 5000 zusätzliche, qualitativ hochwertige Plätze für die Ausbildung in Assistentenberufen geschaffen werden; das wäre ein Drittel des in den nächsten Jahren benötigten zusätzlichen Bedarfs, der in den Betrieben nur eine Belegungsdauer von einem Jahr statt der üblichen drei Jahre erforderte. Dem dualen System entstünde damit keine Konkurrenz.

Selbstverständlich fielen damit zusätzliche Kosten an, vornehmlich für Personal in Schulen und Betrieben. Doch ohne Investitionen, ob in der Privatwirtschaft oder beim Staat, wird die Ausbildung für alle nicht zu erreichen sein. Öffentliche Gelder für Vollzeit-Berufsschulen aufzuwenden statt für direkte Zuschüsse zur betrieblichen Ausbildung ist sicherlich die bessere Alternative.


Rolle der Berufsschulen

Im Zuge der organisatorischen, strukturellen und inhaltlichen Veränderungen in der Aus- und Weiterbildung wurden auch die methodisch-didaktischen Konzepte und Organisationsformen des Lernens weiterentwickelt. Integrative Formen des Arbeitens und Lernens, prozeß- und betriebsübergreifende Kooperation bei der Ausbildung im Verbund, arbeitsplatzbezogene Weiterbildung, Vermittlung von Zusatzqualifikationen – beispielsweise von Fremdsprachen – sowie Handlungsorientierung kennzeichnen zunehmend den betrieblichen Alltag und damit eben auch den der Ausbildung. Solche innovativen Ansätze sind jedoch nur in intensiver Zusammenarbeit mit einem starken schulischen Partner zu realisieren.

Die im letzten Jahr wieder neu entfachte Debatte über den Berufsschulunterricht ist dabei wenig hilfreich. Das Streichen des zweiten Berufsschultages würde bewährte Grundzüge des dualen Systems in Frage stellen und die dringend gebotene Modernisierung und Flexibilisierung dieses Unterrichts dem Mangel öffentlicher Mittel opfern. Den Stoff in neun oder gar mehr Stunden an einem Tag pro Woche vermitteln zu wollen wäre pädagogisch unsinnig und würde den Ausbildungserfolg gefährden. Unseres Erachtens ist die einzig sinnvolle Lösung, die Ausbildungsphasen in Absprache zwischen Betrieb, Berufsschule und überbetrieblicher Ausbildungsstätte in Blöcke aufzuteilen. Modelle für die flexible Gestaltung von Berufsschulunterricht existieren; sie müssen den jeweiligen Verhältnissen angepaßt werden.


Modernisierung von Ausbildungsberufen

Durch vereinfachte Regelungen der sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit kann das Ordnungsverfahren noch flexibler, können Ausbildungsordnungen sozusgen noch schlanker gestaltet werden. Der Verordnungsgeber, in der überwiegenden Zahl der Fälle der Bundesminister für Wirtschaft, wird dabei unter Beibehaltung des Konsensprinzips öfter initiativ werden und in Dissensfällen minderer Ordnung kurzfristig Entscheidungen treffen. Das von der Bundesregierung angekündigte Frühwarn- oder Beobachtungssystem könnte von Fachleuten in Unternehmen und Berufsschulen, Fachverbänden und Einzelgewerkschaften, im Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung sowie anderen Forschungseinrichtungen gebildet und im BIBB koordiniert und betreut werden. Dessen Aufgabe wäre es, die Entwicklung der Berufe zu beobachten, Ausbildungsordnungen zu evaluieren, Veränderungspotentiale zu beschreiben, schließlich Vorschläge zur Aktualisierung, Modernisierung und Neugestaltung von Ausbildungsordnungen zu erarbeiten und dem Verordnungsgeber sowie den Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Gewerkschaften zuzuleiten. Diese Aktivitäten, die ohnehin zum gesetzlichen Auftrag des BIBB gehören, würden dann in einem völlig neuen Verfahren wahrgenommen, und schnellere Anpassungen der Ausbildungsordnungen wären möglich.

Die Ausbildungsrahmenpläne von Ausbildungsordnungen sollten künftig noch stärker aufgaben- und funktionsorientiert und vor allem noch technikoffener formuliert werden, wie es derzeit bei den in Arbeit befindlichen Ausbildungsrahmenplänen für Informations- und Kommunikationsberufe bereits exemplarisch geschieht. Die nicht rechtsverordnungsrelevanten Bestandteile eines Ausbildungsganges – so die aktuelle technische und arbeitsorganisatorische Situation beim Erarbeiten der Ausbildungsordnung, Hinweise zur Methode und Gestaltung der Ausbildung sowie auf Lehr- und Lernmittel und Literaturangaben – sollten künftig nur noch in Erläuterungen zusammengefaßt werden. Das würde den Ausbildern und Berufsschullehrern die Überlegungen der Curriculum-Konstrukteure näherbringen und die praktische Umsetzung erleichtern.

Das Konsensprinzip enthebt den Verordnungsgeber nicht der ihm vom Berufsbildungsgesetz auferlegten Verpflichtung, in der Modernisierung und Aktualisierung der Ausbildungsordnungen und bei der Entwicklung neuer Berufsbilder die Initiative zu ergreifen. Mithin muß der jeweils zuständige Bundesminister in strittigen Fällen entscheiden, damit das Verfahren zügig durchgeführt und abgeschlossen werden kann.

Verzahnung von Aus- und Weiterbildung

In der betrieblichen Praxis reagiert man auf neuen Qualifikationsbedarf in der Regel mit internen Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung. Das ist verständlich, denn von solchen Veränderungen ist nahezu die gesamte vorhandene Belegschaft, rund 95 Prozent, betroffen.

Verfestigt sich solcher Bedarf, was zuerst meist sektoral oder regional der Fall ist, hält das Berufsbildungsgesetz ein höchst flexibles Instrument – nämlich die Regelungen der Kammern – zur Entwicklung formalisierter Qualifikationen bereit. Handelt es sich um bundesweit gefragte, arbeitsmarktgängige Qualifikationsprofile, kann mit Fortbildungsregelungen des Bundes adäquat reagiert werden. Erst wenn sich im ganzen Land ein nachhaltiger Bedarf für dauerhaft zu beschäftigende Arbeiter oder Angestellte in einem neuartigen Tätigkeitsfeld ergibt, wird auch ein neuer anerkannter Ausbildungberuf entstehen wie zum Beispiel die in diesem Jahr in Kraft tretenden vier neuen Berufe in der Informations- und Kommunikationstechnik.

Die Grundlage für den Zusammenhang von Aus- und Weiterbildung ist die Kontinuität der Lernprozesse während des gesamten Berufs- und Arbeitslebens. Insofern sind Aus- und Weiterbildung nur unterschiedliche Phasen lebensbegleitenden Lernens. Berufsbildung im Sinne des Berufsbildungsgesetzes umfaßt die Berufsausbildung, die berufliche Fortbildung und die berufliche Umschulung. Berufliche Weiterbildung beinhaltet Fortbildung und Umschulung. Das Schaffen neuer und das Modernisieren bestehender Berufe mit konsequenter Verbindung von Aus- und Weiterbildung müssen deshalb die Antwort auf die verändernden Qualifikationsanforderungen sein. Tatsächlich bieten die Unternehmen dafür nur sehr uneinheitlich Chancen: Weder besteht allgemeine Durchlässigkeit für beruflich Qualifizierte in das (Fach-)Hochschulsystem, noch gibt es ausreichende Möglichkeiten der Mobilität zwischen den Berufsfeldern. Außerdem ist das Spektrum der Weiterbildungsberufe nicht genügend breit, um wendige und lernwillige Menschen zum Beispiel für moderne Dienstleistungen zu rüsten.


Ausbildung zur unternehmerischen Selbständigkeit

Vergleiche mit anderen Staaten zeigen, daß in Deutschland die berufliche Selbständigkeit zu selten als ein mögliches Ziel der persönlichen Lebensplanung gesehen wird. Hier liegt ein Reservoir für Beschäftigung und damit auch für Ausbildung. Besonders gilt dies für neue Dienstleistungssparten und deren kundenfreundliche Ausrichtung. Zwar gibt es viele Berufe, etwa im Handwerk, die traditionell auf spätere Selbständigkeit nach der Meisterprüfung lenken. Bei der weitaus überwiegenden Zahl aller Ausbildungsberufe wird jedoch diese Perspektive zu wenig aufgezeigt und der Gedanke daran bei den jungen Menschen nur unzureichend gefördert. Die Potentiale dafür mögen in einzelnen Ausbildungsberufen unterschiedlich stark ausgeprägt sein; es gilt gleichwohl, sie frühzeitig zu erschließen.


Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung

Die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung darf nicht länger nur ideell beschworen, sondern mit ihr muß endlich konsequent ernst gemacht werden. Die Gleichstellung der Abschlüsse der Berufsausbildung mit dem mittleren Schulabschluß sowie der Abschlüsse der Fortbildung auf Meister- oder Fachwirtniveau mit dem Hochschulzugang ohne weitere formale Hürden wäre unseres Erachtens dazu ein erster wirkungsvoller Schritt. Dabei ist eine Studienunterstützung, beispielsweise mittels Tutorien, gewiß sinnvoll, damit Absolventen der beruflichen Aus- und Weiterbildung tatsächlich eine gleichwertige, wenn auch andersartige Studierfähigkeit erlangen als die konventionelle, die bisher das Abitur aufweist. Duale Studien an Fachhochschulen, wie sie der Wissenschaftsrat vor kurzem vorgeschlagen hat, sind eine richtige Maßnahme zur Zukunftssicherung des dualen Systems. Den beruflich Qualifizierten wird damit durchgängig eine doppelte Option eröffnet, nämlich

- auf betriebliche Weiterentwicklung und zugleich

- auf den Erwerb formaler Abschlüsse in drei Qualifikationsstufen: in Aus- und Weiterbildung sowie im berufsintegrierten Studium.

Das BIBB hat mit seinem Vorschlag für eine eigenständige und gleichwertige Berufsbildung im Verbund mit betrieblich-beruflichen Optionen beziehungsweise Hochschulzugangsmöglichkeiten konkret aufgezeigt, wie die Attraktivität des bewährten deutschen dualen Systems dauerhaft gesteigert werden kann.


Qualität in der beruflichen Bildung

Die Diskussion über Qualität steht derzeit gänzlich im Zeichen von Zertifizierungen von Unternehmen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Januar 1997, Seite 96). Die in den Normen ISO 9000 bis 9004 geregelten Anforderungen an ein – selbstformuliertes – System, das Qualität umfassend gewährleisten soll, stellen nun aber nicht das Produkt auf den Prüfstand, sondern das Management. Die ISO-Norm wird deshalb den Belangen der beruflichen Bildung nur teilweise gerecht. Gerade die Qualitätssicherung des Produktes Weiterbildung spielt hier die entscheidende Rolle.

Dringlich wäre, die nationale und europäische Entwicklung in dieser Hinsicht mitzugestalten. Durch eine deutsche Berufsbildungsnorm, erarbeitet etwa in Zusammenarbeit zwischen dem BIBB, der Bundesanstalt für Arbeit und den Zertifizierungsstellen für Unternehmensqualität, könnte die Bundesrepublik Deutschland Pionierleistungen vollbringen und in Europa eine führende Position erreichen. Das BIBB könnte langjährige Erfahrungen mit der beruflichen Weiterbildung in einen solchen Prozeß der Qualitätsnormierung einbringen.


Förderung von Benachteiligten

Für die vielen Jugendlichen, die nach wie vor ohne berufliche Qualifikation ins Erwerbsleben eintreten (immerhin 14 Prozent eines Altersjahrgangs), besteht gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Sie dürfen nicht als Hypothek betrachtet und auf individuelle Vorsorge verwiesen werden. Dabei sind allerdings die von der Europäischen Kommission favorisierten "Schulen der zweiten Chance" aus deutscher Sicht nicht als erfolgversprechend anzusehen. Das duale System mit rund 370 anerkannten Ausbildungsberufen bietet auch der überwiegenden Zahl der lern- und leistungsgeminderten Jugendlichen ein attraktives Angebot für eine betriebliche Ausbildung oder Nachqualifizierung. Worauf es dabei ankommt, ist die individuelle Förderung. Dafür benötigen die Unternehmen staatliche Unterstützung – auch finanzieller Art; sie wäre sicherlich weitaus effizienter als die Nachbetreuung von mehrfach Gescheiterten in sozialer Rehabilitation oder gar Strafvollzug.

Unser Fazit: Das duale System ist nicht in der Krise. Es steht vielmehr am Beginn eines neuen Zeitalters der Qualifikation, in dem Formen kooperativer Bildung, die durch Verbindung von Arbeiten und Lernen geprägt sind, größere Chancen bieten als die rein schulischen formalen Lernens. Das duale System verfügt über einen Rahmen, der auch den vorhersehbaren Herausforderungen der nächsten Jahre standhält. Inhalte, Methoden und die Organisation der beruflichen Bildung werden sich aber erheblich ändern. Eine von gesellschaftlichen Gruppen und der Politik auf Konsens ausgerichtete Planung sowie eine Bildungsorganisation, die unterschiedliche Lernorte und die Verbindung von Arbeiten und Lernen vorsieht, wird der sicherste Weg in ein erfolgreiches Bildungsgeschehen der Zukunft sein.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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