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Digitale Videoproduktion über Breitbandnetze



Die digitale Revolution in den Medien hat Folgen. Mit dem Ende der Analogtechnik ziehen neue Maßstäbe in Vielfalt, Preis und Qualität von Bild und Ton ein. Noch stehen die großen Fernsehstudios an der Spitze der Medienindustrie, in ihnen sammeln sich riesige Mengen Technik und Personal. Doch die Geräte schrumpfen, immer enger verschmelzen Medien, Computer und Telekommunikation. Künftig können leistungsfähige Datennetze die weltweit verstreuten Spezialisten zusammenführen. Europäische Forscher stießen das Tor zu einer neuen Dimension von Multimedia auf: der verteilten Videoproduktion.

Seit 1995 laufen in dem von der Europäischen Union (EU) geförderten Forschungsprojekt DVP (Distributed Video Production) die Versuche, neue Formen der Fernsehproduktion über Breitbandnetze zu entwickeln. Konsortialführer des Projekts ist die Forschungszentrum Informationstechnik GmbH der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) in Sankt Augustin. Weltweit beteiligen sich 17 Medieninstitute und Fernsehsender an dem Vorhaben, darunter der Hessische Rundfunk in Frankfurt und die Universität Genf.

Das Kernstück der verteilten Videoproduktion bildet die Breitband-Netztechnik ATM. Mit Übertragungsraten von Milliarden Bits pro Sekunde setzt sich diese Technologie gegenwärtig bei weltumspannenden Weitverkehrsnetzen durch. Die großen Datenmengen, die in Medienproduktionen gewöhnlich anfallen, gehen dabei im asynchronen Transfer-Modus (ATM) auf die Reise. Das Netzwerk zerlegt die Daten in ATM-Zellen von je 53 Bytes. Die Empfangstechnik packt die Datenzellen wieder aus und setzt sie zum ursprünglichen Format zusammen. Anders als bei bisherigen Übertragungsarten müssen die Zellen nicht unbedingt in regelmäßigen Abständen beim Empfänger eintreffen. Die durch die Laufzeit vom Sender zum Empfänger entstehende zeitliche Verzögerung darf im asynchronen Transfer-Modus variieren (Jitter).

Die Projektpartner verknüpften in DVP unter anderem virtuelle Studios und testeten gemeinsame Proben von Musikern, die ihre Instrumente zeitgleich an verschiedenen Orten einspielten. Mehrere Partner fanden sich im Netz, um virtuelle Welten zu bauen. Dabei kamen unterschiedliche Verfahren zur Codierung von Videosequenzen zum Einsatz. Codes wie MJPEG und MPEG erreichen Transferraten bis 100 Megabit pro Sekunde. Der durch den asynchronen Transfer-Modus verursachte Jitter stellte sich bei ihnen als Problem heraus, da ein genügend stabiles Videosignal beim Empfänger nur mit hohem Aufwand herzustellen war. Dies erfordert jedoch Zeit, die bei den interaktiven DVP-Anwendungen nur sehr beschränkt zur Verfügung steht. Verzögerungen von mehr als 90 Millisekunden wollten die DVP-Testanwender nicht tolerieren.

Viele Nachrichtensendungen arbeiten heute mit Computergraphiken, die im Hintergrund des Nachrichtensprechers eingeblendet werden. Der Sprecher sitzt dabei vor einer blauen Wand, die später aus dem Videosignal herausgerechnet und durch die Computergraphik ersetzt wird. In diesem Falle darf sich die Kamera nicht bewegen, sonst entstehen falsche Informationen über den Studioraum. Bild und Moderator passen nicht mehr zusammen. Erst mit Kameras, die ihre Position und Zoom-Einstellung dem Rechner genau mitteilen können, lassen sich die Objektive schwenken oder an den Sprecher heranfahren. Der Nachrichtensprecher muß dann nicht mehr still vor einer blauen Wand sitzen, sondern kann sich in einem Blauraum, Teil des virtuellen Studios, frei bewegen. Statt zweidimensionaler Graphiken blendet der Rechner auch Kulissen ein, die sich aus einem dreidimensionalen Computermodell in Echtzeit berechnen.

Solche virtuellen Studios führen Fernsehproduktionen und Computertechnik zusammen. Nicht immer sind geeignete Geräte und Fachpersonal an einem Ort vereint, so daß sich verteilte Produktionen anbieten. Mit DVP und ATM-Netzwerken lassen sich Blauraum und Graphik-Supercomputer über beliebige Distanzen zu verteilten virtuellen Studios kombinieren. Daraus ergeben sich neue Chancen für die Gestaltung der Sendungen. Der Computer blendet neuartige Kulissen und Effekte ein. Mehrere Moderatoren, die sich in unterschiedlichen Blauräumen befinden, können einander die Hände schütteln. Graphik-Supercomputer lassen sich online über ATM hinzuschalten, um virtuelle Kulissen, computergenerierte Akteure oder Simulationen beizutragen.

Das herkömmliche Fernsehen liefert zweidimensionale Bilder, die der Konsument passiv aufnimmt. Künftig entstehen virtuelle Räume, die man interaktiv durchstreifen und selbst gestalten kann. In den Versuchen mit DVP erfolgte die Wiedergabe dieser Computerwelten in speziellen Räumen der GMD und bei der NCSA, einem DVP-Partner im amerikanischen Bundesstaat Illinois. Die Räume sind an Seiten und Fußboden mit wandgroßen Stereobildschirmen ausgestattet, die mit einer passenden Stereobrille betrachtet werden. In DVP wurden die Wiedergabegeräte in beiden Häusern über transatlantische Glasfaserkabel miteinander gekoppelt, so daß die Versuchspersonen auf beiden Seiten des Atlantiks gemeinsam die Computerwelten erkundeten und sich dabei auf integrierten Videobildern gegenseitig sahen. Der Baumaschinenhersteller Caterpillar hat diese Technik bereits zur Entwicklung von Gabelstaplern getestet. Caterpillar will damit erreichen, daß die Ingenieure in der belgischen Niederlassung die amerikanischen Entwürfe und ihre eigenen Änderungen simulieren, ohne den neuen Prototypen sofort bauen zu müssen. Die amerikanisch-europäische Zusammenarbeit führte über einen transatlantischen ATM-Link mit geringer Empfangsverzögerung.

Im Unterschied zu analogen Medien besteht bei digitalen Produktionen ein großer Bedarf an neuen Standards. Das betrifft die Datenformate, Kompressionsverfahren, Metadaten, Schnittstellen, Übertragungsmedien, Kommunikationsprotokolle und Systemarchitekturen. Deshalb reicht es nicht mehr nur, sich in den Forschungen zu neuen Technologien zu engagieren. Es gilt auch, die weltweite Standardisierung voranzutreiben. Dieser Bedarf wurde im Laufe des DVP-Projektes für verteilte digitale Produktionen klar erkannt. Eine eigene Arbeitsgruppe veröffentlichte im August 1998 hierfür erste Grundlagen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 926
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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