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Droht Arbeitslosigkeit durch neue Technologien?


Technik ist zu einem festen Bestandteil unserer Lebenswelt geworden. Die gesamte Bevölkerung nutzt ihre Vorteile – im Beruf, im Haushalt, in der Freizeit. Etwa 70 Prozent der Arbeitsplätze in der Bundesrepublik sind unmittelbar an Technik gebunden. Entweder erleichtern technische Hilfen die menschliche Arbeit, oder die Arbeit dient der Entwicklung, Herstellung und Instandhaltung technischer Anlagen und Produkte.

Dennoch empfinden viele Bürger die Einführung neuer Technologien als Bedrohung ihres Arbeitsplatzes oder gar ihres Berufs. Das erinnert an Umbruchphasen der vergangenen Jahrhunderte, in denen der Zusammenhang zwischen damals innovativer Technik und Beschäftigungsproblemen die Menschen bewegte. Tatsächlich haben bereits die Klassiker der Wirtschaftswissenschaft, allen voran der englische Nationalökonom und Moralphilosoph Adam Smith (1723 bis 1790), solche Veränderungen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und untersucht. In der Realität konnten sie beobachten, daß technische Neuerungen zwei Konsequenzen haben: Sie substituieren Beschäftigung, verursachen aber auch Wirtschaftswachstum, das wiederum die Beschäftigungsrate steigen läßt.


Strukturwandel durch Innovationen

Der Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft wird in der Regel von Basisinnovationen hervorgerufen. Die dadurch ausgelösten langfristigen Konjunkturwellen bezeichnen Wirtschaftswissenschaftler als Kondratieff-Zyklen. Den Begriff prägte der österreichische Nationalökonom Josef Alois Schumpeter (1883 bis 1950) zu Ehren seines russischen, als politischer Häftling in Sibirien umgekommenen Fachkollegen Nikolai D. Kondratieff (1892 bis 1931), der zuerst erkannt hatte, daß wesentliche technologische Neuerungen periodisch starkes Wachstum anstießen, den Strukturwandel beschleunigten und die Lebensumstände veränderten.

Die erste derart einschneidende Innovation in der Geschichte der Industrialisierung war die Entwicklung der Dampfmaschine, denn sie ermöglichte – zuerst Ende des 18. Jahrhunderts in englischen Textilbetrieben, für die Baumwolle der wichtigste Rohstoff wurde – die Mechanisierung der Produktion. Weil aber die Energie von diesem Antriebsaggregat mit Transmissionsriemen nur über geringe Entfernungen übertragbar war, mußten alle Produktionsmaschinen in einem Gebäude, wenn nicht in einer einzigen großen Halle aufgestellt werden. So entstand die Fabrik, und aus landwirtschaftlichen Hilfskräften und Handwerkern wurden Lohnarbeiter.

Mobile Dampfkraft repräsentiert den zweiten entscheidenden technischen Fortschritt: Bald nach 1800 wurden die ersten brauchbaren Lokomotiven gebaut. Eisenbahnen beschleunigten den weiträumigen Güterverkehr an Land (wie zudem Schraubendampfer auf See), verringerten die Transportkosten und erhöhten die Frachtkapazitäten, insbesondere für Kohle und Erze zur Stahlerzeugung. Die Folgen waren größere Betriebe und Massenproduktion.

Durch die Erzeugung, Übertragung und Nutzung von elektrischem Strom wurde es dann möglich, selbst entlegenste Winkel mit Energie zu versorgen. Um 1885 kamen Gleichstromanlagen mit Motoren für Industrie und Gewerbe auf, um 1890 elektrische Heiz- und Kochgeräte. Damit veränderten sich wiederum Lebens- und Arbeitsrhythmus, und die Glühlampe machte die Nacht zum Tag. Zusammen mit der Elektrotechnik regte die vor allem in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aufstrebende Chemie den dritten Zyklus an, indem sie mit künstlichen Düngemitteln die Nahrungsproduktion steigerte, mit synthetischen Farbstoffen Gebrauchsgüter wie Textilien attraktiv machte und mit neuartigen Medikamenten die allgemeine Gesundheit und die Lebenserwartung erhöhte. Gleichzeitig lieferte sie Substanzen für viele bis dahin unbekannte Produkte und Herstellungsverfahren.

Den vierten Zyklus löste das Automobil aus. Personen- wie Lastkraftwagen prägten Lebensgewohnheiten und Siedlungsstrukturen noch stärker. Die Massenmotorisierung, ermöglicht durch Fließbandproduktion, setzte in den USA schon vor, in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Zu den Stimuli dieser Konjunkturwelle werden auch das Fernsehen sowie Kunststoffe und petrochemische Erzeugnisse gezählt. Anstöße gaben also großenteils Verbesserungen bereits existierender Technologien.

Derzeit befinden wir uns am Beginn des fünften Kondratieff-Zyklus: Informations- und Kommunikationstechnologie, Biotechnologie, wahrscheinlich künftig auch erneuerbare Energien leiten so nachhaltige Veränderungen ein, daß manche recht plausibel behaupten, wir stünden vor größeren Umwälzungen als frühere Generationen beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft.

Allerdings setzen die wenigsten Erfindungen und technischen Entwicklungen einen tiefgreifenden Wandel in Gang; die Wirkungen der meisten sind vielmehr sehr begrenzt. Nur jene, die umfassend wirtschaftliches Neuland erschließen und einen Schub von Nachfolge-Innovationen auslösen, werden Basisinnovationen genannt. Zu ihren Merkmalen gehört eine breite Diffusion; sie beeinflussen also viele, wenn nicht alle Bereiche. Sie schaffen des weiteren ein großes Umsatzvolumen und tragen damit zu anhaltendem wirtschaftlichem Wachstum und einer entsprechend guten Beschäftigungslage bei. Zu einer Basisinnovation kann technisch Neues schließlich nur werden, wenn es breite Akzeptanz findet; die Folge ist eine grundlegende und weitreichende Umorganisation der Gesellschaft; ein neuer Markt entsteht, und selbst ältere Branchen profitieren von zahlreichen Neuerungen im Zusammenhang damit.

Ist das Potential einer Basisinnovation erschlossen und wird sie nicht rechtzeitig durch eine weitere abgelöst, geht die Wirtschaft nach einer Phase der Stagnation auf hohem Niveau in eine Rezession über. Tiefe Rezessionen sind ein Anzeichen dafür, daß eine Volkswirtschaft entweder am Nutzungspotential der aktuellen Basisinnovation nicht ausreichend partizipiert oder deren Potential sich erschöpft hat.


Der Unternehmer als Triebkraft wirtschaftlicher Entwicklung

In Marktwirtschaften gibt es unablässig Erneuerungs- und Rationalisierungsprozesse. Dementsprechend fallen Arbeitsplätze weg. Neue entstehen verständlicherweise nicht bei gleichbleibender oder nachlassender Nachfrage, sondern infolge des Anreizes neuer Produkte, neuer Dienste, neuer Branchen oder durch die Ausweitung bereits bestehender Arbeitsfelder und Märkte: Unternehmen haben dann wieder mehr zu tun; und in der Volkswirtschaftslehre gilt denn auch der Unternehmer als Triebkraft der wirtschaftlichen Entwicklung.

Bereits 1912 unterbreitete Schumpeter in seiner bahnbrechenden Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung ein Modell der ökonomischen Dynamik. Als eigentliche, nämlich wachstumsschaffende Unternehmer definierte er darin die "Wirtschaftssubjekte, deren Funktion die Durchsetzung neuer Kombinationen ist und die dabei das aktive Element sind". Als Pioniere kreierten sie neue Produkte, setzten die dafür erforderlichen (neuen) Herstellungsverfahren ein und schafften den für das neue Gut aufnahmefähigen Markt. Diesem Typ gegenüber steht der Leiter eines Unternehmens, der ebendies nicht leistet und den Schumpeter als Wirt bezeichnete.

Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Ernst Heuss differenzierte in seiner "Allgemeinen Markttheorie" noch weiter. Er unterschied zunächst zwischen dem initiativen und dem konservativen Unternehmer. Initiativ ist gemäß dieser Einteilung Schumpeters Pionier, aber auch der spontan imitierende Unternehmer, der beweglich und aufgeschlossen genug ist, um dem Pionier in den neugeschaffenen Markt zu folgen. Da er sich aber gleichsam nur in dessen Fußstapfen bewegt, ist seine wesentliche Funktion lediglich die Stärkung des Wettbewerbs.

Schon gar nicht als Pionier gelten kann der konservative Typ; im Gegensatz zum initiativen agiert er nicht, sondern reagiert auf Druck von außen. Der immobile Unternehmer schließlich ist nicht einmal oder nicht mehr dazu imstande – seine Existenz wäre längerfristig nur in einer stationären Wirtschaft oder mit staatlichen Hilfen gesichert.


Die Entwicklungsphasen des Marktes

Um nun den Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung zu verstehen, muß man diese Unternehmertypen als Elemente im Ablauf der Marktphasen begreifen. Das sind – wiederum in modellierender Vereinfachung – die vier Stadien, die ein Produkt, aber auch eine ganze Branche durchläuft: Experimentier-, Expansions-, Ausreifungs- sowie Stagnations- beziehungsweise Rückbildungsphase. Pionierunternehmer beherrschen die Experimentier- und die Expansionsphase; in den späteren sind sie seltener aktiv, weil sie sich immer wieder auf Neuerungen konzentrieren. Demgegenüber nimmt in den späteren Marktphasen die Zahl konservativer Unternehmer zu.

Die Experimentierphase beginnt im eigentlichen oder übertragenen Sinne im Labor – mit der Idee oder Erfindung, aus der ein neues Produkt hervorgehen kann. Mehrere für das Herstellungsverfahren nötige Komplementärerfindungen müssen folgen. Des weiteren ist zur ökonomischen Verwertung ein Markt zu schaffen. Gelingt es mit Werbung und sonstigen Maßnahmen der Verkaufsförderung, das Produkt weithin bekannt zu machen, und empfehlen es die ersten zufriedenen Käufer weiter, kommt es zur Selbstzündung der Nachfrage. Das Produkt beziehungsweise im Falle einer Basisinnovation die Branche steht am Beginn der Expansionsphase.

Weitere Käufer werden nun sowohl durch Qualitätsverbesserungen als auch durch Rationalisierungen und Kostenreduktionen, die Preissenkungen erlauben, gewonnen. Es öffnet sich der eigentliche Markt, und das Produkt findet allgemeine Verbreitung. Der Übergang in die Ausreifungsphase geschieht meist unbemerkt. Die Produktion ist kaum mehr zu steigern. Die Fertigungskosten und damit der Preis wie auch die Produktqualität weisen geringere Spielräume auf; Verbesserungen sind meist nur noch im Detail möglich. Produkt, Angebot und Nachfrage werden in der Ausreifungsphase somit zu weitgehend stabilen Größen.

In der Stagnationsphase bleibt die Branche hinter der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zurück. Kann sie die Steigerung des volkswirtschaftlichen Lohnniveaus nicht mehr vollständig über Produktivitätssteigerungen auffangen, wird das Produkt zu teuer; und sind die Anbieter konservative oder immobile Unternehmer, wird es gänzlich vom Markt verdrängt.

Das muß nicht unbedingt entsprechend dramatische Konsequenzen für den Zyklus eines Unternehmens haben. Gelingt es, spätestens beim Übergang von der Ausreifungsphase in die Stagnations- beziehungsweise Rückbildungsphase des einen Produkts eine Innovation auf dem Markt einzuführen, ist weiteres Wachstum möglich.

Die Funktion der Konsumenten im Diffusionsprozeß

Für die ökonomische Umsetzung des technischen Fortschritts und damit für den Erfolg des Pionierunternehmers ist entscheidend, daß er aufgeschlossene Nachfrager findet, die auch weniger risikofreudige Käufer beeinflussen. Solche sozusagen innovatorischen Konsumenten geben einen Demonstrationsimpuls in Form eines Konsummusters, den zunächst zurückhaltende, dann aber imitierende Konsumenten verstärken, bis schließlich auch die Gruppe der konservativen Konsumenten das neue Produkt kauft.

Die Pioniere auf der Nachfrageseite senken somit als Diffusionsinitiatoren das Neuerungsrisiko des Pionierunternehmers; und weil mit dem neuen Konsummuster die Nachfrage nach dem alten Produkt nachläßt, erhöhen sie zudem den Druck auf die übrigen Unternehmen, sich im eben entstehenden innovatorischen Sektor zu engagieren. Die imitierenden Konsumenten erfüllen – wie die imitierenden Unternehmer auf der Angebotsseite – gleichsam eine Katalysatorfunktion im Diffusionsprozeß. Eine große Anzahl innovatorischer und imitierender Konsumenten kann somit entscheidend dazu beitragen, Verzögerungen innerhalb des Umstrukturierungsprozesses zu vermeiden.


Die gesellschaftliche Fähigkeitzur Technologieabsorption

Voraussetzung für einen derart zügigen Wandel ist allerdings, daß die Gesellschaft insgesamt willens und imstande ist, die Anwendungen neuer Technologien aufzunehmen. Nun steht ihnen ein Teil der deutschen Bevölkerung aber durchaus reserviert gegenüber.

So ergab 1994 eine Studie des Sample Instituts für Marktforschung, daß 17 Prozent der Befragten technischen Fortschritt für mehr gefährlich als nützlich erachteten, und 33 Prozent hielten ihn bestenfalls für ein notwendiges Übel; nur etwa 50 Prozent bezeichneten ihn als bedeutend für die Lebensqualität. Interessant ist die unterschiedliche Akzeptanz einzelner Technologien: Für 84 Prozent der Befragten war die Medizintechnik wichtig und für 75 Prozent die Mikroelektronik, aber nur für 30 Prozent die Gentechnik. Immerhin 60 Prozent meinten, daß technischer Fortschritt relevant sei für die Arbeitsplätze.


Freisetzung oderKompensation von Arbeitsplätzen?

Andererseits läßt die Einführung neuer Technologien, wie schon eingangs vermerkt, viele Beschäftigte um ihre Erwerbsmöglichkeit bangen. Dies ist nicht ungerechtfertigt, denn die Vermehrung von Arbeitsplätzen ist noch nie das Ziel von Innovationen gewesen, sondern ergab sich jeweils notgedrungen in Konjunkturaufschwüngen seit Beginn der Industrialisierung; deren Tendenz ist jedoch, Menschen durch Maschinen zu ersetzen – nun war das entweder noch nicht strikt praktikabel oder unwirtschaftlich. Mit der Mikroelektronik indes kommt das Wirtschaftssystem nunmehr in vielen Bereichen der Vollautomatisierung näher denn je.

Es verwundert darum nicht, wenn die gegenwärtig neuen Techniken als Jobkiller apostrophiert werden und weithin Befürchtungen aufkommen, sie könnten in Zukunft Arbeitskräfte in Massen entbehrlich machen, auch in den bislang noch expansiven Dienstleistungsbranchen. Dieser Sicht entspricht in der Wirtschaftswissenschaft die Freisetzungshypothese, deren historische Grundlagen unter anderem die sogenannte Maschineriedebatte um 1820, die Weltwirtschaftskrise von 1929 und die intensive Diskussion der Folgen von Automatisierung um 1960 sind. Ihr zufolge erhöht der technische Fortschritt vor allem das Rationalisierungspotential und treibt dadurch das Produktivitätstempo stärker voran als das Produktionswachstum, so daß fortlaufend mehr Beschäftigte freigesetzt werden, als anderweitig eingestellt werden können.

Demgegenüber nimmt die Kompensationshypothese an, der technische Fortschritt schaffe jeweils genügend Beschäftigungsmöglichkeiten, daß die Freisetzung zumindest kompensiert werde. Zu ihrer Begründung lassen sich mindestens sieben Effekte anführen:

- Solange nicht alle Menschen völlig bedürfnislos sind oder jeglicher Bedarf voll gedeckt ist, läßt der technische Fortschritt immer wieder neue Produktmärkte und damit auch neue Betätigungsfelder entstehen, über die in der Gegenwart zumeist noch gar keine Vorstellungen bestehen können. Beispielsweise hatte eine amerikanische Technologieprognose im Jahr 1937 weder Computer noch Kernkraftwerke, Düsenflugzeuge oder Radargeräte und auch nicht die Antibiotika vorausgesehen. Innovative Angebote wecken aber Bedürfnisse und folglich Nachfrage. So finden sich heute in unzähligen Haushalten CD-Player, Videokameras oder Personal Computer – Gerätschaften, die sich vor 15 Jahren allenfalls in der Experimentierphase befanden. Neuerungen können also zusätzliche Nachfrage stimulieren, dadurch auch die Beschäftigung. Ersetzt hingegen ein Gut nur ein herkömmliches, verlagert sich lediglich der Bedarf an Arbeitskraft.

- Rationalisierungmaßnahmen, denen einerseits Arbeitsplätze zum Opfer fallen, senken jedoch andererseits die Kosten. Das ermöglicht entweder Zusatzgewinne oder Preissenkungen, so daß die Realeinkommen steigen und die effektive Gesamtnachfrage angeregt wird. Auf diese Weise kann eine durch Freisetzungen verursachte anfängliche Verminderung der Nachfrage mehr oder weniger kompensiert oder sogar ausgeglichen werden.

- Die Produkt- und Verfahrensinnovationen in einem Land verbessern seine internationale Wettbewerbsfähigkeit mit entsprechenden positiven Auswirkungen auf Nachfrage und Beschäftigung.

- Die arbeitssparenden Maschinen müssen zunächst einmal hergestellt werden, so daß den Freisetzungen in den rationalisierenden Betrieben positive Beschäftigungseffekte bei den Produzenten der neuen Investitionsgüter und ihren Vorlieferanten gegenüberstehen. Die dort zusätzlich verdienten Einkommen können außerdem die Nachfrage steigern, was bei Kapazitätsengpässen auch Investitionen anregt.

- Sind Löhne, Preise und Zinsen genügend flexibel, und bestehen ausreichend technische Substitutionsmöglichkeiten, gibt es theoretisch immer Lohn-Preis-Zins-Kombinationen, die einen vollen Einsatz aller Produktionsfaktoren gewährleisten. Auf diesen Substitutionszusammenhängen zwischen Arbeit und Kapital basieren die Vorschläge, in Zeiten eines Arbeitskräfteüberschusses mit Lohnforderungen zurückhaltend zu sein, um die Beschäftigung zu sichern und zu mehren.

- Statt zu Preissenkungen oder Zusatzgewinnen kann der technische Fortschritt auch teilweise oder gänzlich zu Lohnerhöhungen verwendet werden. Diese steigern wiederum die reale Konsumnachfrage.

- Schließlich könnten technikbedingte Freisetzungen von Arbeitskräften im gesamtwirtschaftlichen Saldo durch Arbeitszeitverkürzungen kompensiert werden, die nachfrage- und kostenneutral im Rahmen des Produktivitätsfortschritts erfolgen.

Die beiden skizzierten Hypothesen bilden den Hintergrund für die unterschiedlichen Einschätzungen der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen technischen Fortschritts – ähnlich wie der Doppelcharakter des Lohnes als Kosten- und Nachfragefaktor bei den Auseinandersetzungen über den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang von Lohnhöhe und Beschäftigung mitspielt. Erschwert wird eine Klärung in der einen wie in der anderen Kontroverse dadurch, daß direkte Arbeitsplatzverluste und Lohnkosten leichter zurechen- oder quantifizierbar sind als die indirekten Nachfrage- und Anpassungseffekte. Außerdem macht technischer Wandel nicht immer zur gleichen Zeit in dem Maße herkömmliche Tätigkeiten entbehrlich, wie er neue schafft; manche kompensatorischen Wirkungen, wie das Entstehen neuer Märkte, erfordern mehr Zeit, Wagnis und Umstellungen, als die Rationalisierung bestehender Produktionsverfahren braucht.

Seit ihrem Beginn vor mehr als 200 Jahren in England hat die Industrialisierung unablässig hergebrachte Beschäftigungsmöglichkeiten vernichtet und andersartige eröffnet. Zeitweilig gab es dramatische Krisen; aber längerfristig wurde noch jeder Verlust ausgeglichen. Und erst die im Vergleich zur vorindustriellen Wirtschaft revolutionären technischen Umwälzungen sowie die daraus nach und nach resultierenden Produktivitätsfortschritte und Wachstumsfelder bewirkten die immense Steigerung von Realeinkommen und Freizeit in der westlichen Welt.


Neue Effekte der jetzt neuen Technologien?

Als krasses Beispiel für die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch eine Innovation werden häufig Folgewirkungen der Mikroelektronik angeführt. Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg lassen entsprechende Betrachtungen in den Medien zumeist den Zusammenhang mit der gesamten komplexen Branchenentwicklung außer acht. Bei näherer Analyse stellt sich heraus, daß oft nur einzelne Betriebsteile, einzelne Betriebe oder einzelne Fachsparten betroffen sind. In der gesamten Branche aber lassen sich technologiebedingte Freisetzungsschübe und dadurch ausgelöste längerfristige Trendänderungen beim Produktivitätsfortschritt bislang nirgends nachweisen.

Für die These, daß der Produktivitätsfortschritt neuerdings von der wirtschaftlichen Entwicklung weitgehend unabhängig sei, finden sich nun auch in den übrigen Industrieländern keinerlei Belege. Vielmehr verlaufen überall das Wachstum des Sozialprodukts und der Produktivitätsfortschritt tendenziell relativ gleich.

In welcher Weise und welchem Umfang das technisch vorhandene Produktivitätspotential ausgeschöpft wird, bestimmen offensichtlich wirtschaftliche Faktoren. Die durch die neuen Technologien möglich gewordenen Rationalisierungen können also keineswegs für die Arbeitslosigkeit der letzten Jahre verantwortlich gemacht werden.

Auch in Zukunft bleiben nach allen im Augenblick vorliegenden Vorausschätzungen das Tempo, mit dem neue Technologien durchgreifen, sowie Produktivitätsfortschritt, Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzentwicklung positiv miteinander verwoben. Zwar lassen etliche Tendenzen einen Wiederanstieg des in den letzten 15 Jahren gesunkenen Produktivitätsfortschritts erwarten, auch in Relation zum Wirtschaftswachstum; dazu gehören die breitere Anwendung neuer Technologien, eine wohl höhere Investitionsquote samt der damit verbundenen Modernisierung der Produktionsanlagen und das höhere formale Ausbildungsniveau der geburtenstarken Jahrgänge.

Unabhängig vom Wirtschaftswachstum wird jedoch keine erhebliche Beschleunigung des Produktivitätsfortschritts je Erwerbstätigen und damit auch keine bedeutende Verstärkung technologiebedingter Arbeitslosigkeit prognostiziert.

Nun haben allerdings etliche Ökonomen noch einen zweiten Mechanismus in diese Diskussion eingebracht: Sie befürchten weniger unmittelbare Freisetzungen als vielmehr eine Wachstumsschwäche durch die Mikroelektronik. Die Folge wäre dadurch ein Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten. Es ist diese Version, die die Kompensationshypothese in Frage stellt. Ihr liegen die folgenden Überlegungen zugrunde:

Das eigentlich Neue an den Technologien auf mikroelektronischer Basis sei, daß sie nicht allein arbeits-, sondern auch kapitalsparend seien. Sie benötigten nämlich netto weniger Vorleistungen, verbesserten die Flexibilität der Produktion und steigerten die Produktivität bereits durch wenig aufwendige Regelungstechniken. Je Produktionseinheit sei dadurch im gesamtwirtschaftlichen Saldo weniger Kapital für Investitionen als bisher erforderlich. Dies bedinge eine allgemeine Wachstumsschwäche, weswegen der Wegfall von Arbeitsplätzen trotz des verlangsamten Produktivitätsfortschritts nicht mehr wie in der Vergangenheit kompensiert werden könne.

Für den Teil der These, die Mikroelektronik sei eine kapitalsparende Innovation, spricht tatsächlich einiges. Auch nach den jüngsten langfristigen Projektionen, welche die Prognos AG im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit in enger Zusammenarbeit mit dem IAB erarbeitet hat, steht zu erwarten, daß mit Hilfe der Mikroelektronik und aufgrund weiterer Entkoppelung von Arbeits- und Betriebszeiten die Produktionsanlagen zunehmend flexibler eingesetzt und besser ausgelastet werden können; mithin ließe sich die Produktionskapazität vermehrt ohne zusätzliche Investitionen ausweiten.

Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob die im Durchschnitt kapitalsparenden neuen Technologien auch bereits für das unbefriedigende Wachstum und die enorme Steigerung der Arbeitslosigkeit seit 1974 verantwortlich gemacht werden können, und eine weitere, damit vielleicht nur bedingt zusammenhängende, ob von dem technologischen Wandel für die Zukunft eine generelle Konjunkturschwäche zu befürchten sei.

Für die rezessive Phase Mitte der siebziger Jahre und die anschließende nur langsame Erholung gibt es vielfältige Ursachen; eine Dämpfung der Investitionsquote ist mit dem Einsatz der Mikroelektronik darum allenfalls sehr begrenzt zu erklären; andernfalls hätte auch die Arbeitsproduktivität stärker zunehmen müssen.

Viel bedeutsamer dürfte ein anderer Zusammenhang gewesen sein: Die neuen Technologien haben zwar den Anpassungsbedarf enorm erhöht, die nötigen Umstellungen ließen sich indes nicht im selben Tempo vornehmen. So entstand gewissermaßen ein Stau an Strukturwandel, auch durch Mangel an spezifisch hochqualifiziertem Personal, und es ließen sich noch nicht genügend neue Wachstumsmärkte erschließen. Ein weiterer entscheidender Grund ist, daß mehr als 80 Prozent aller zwischen 1970 und 1981 abgebauten Arbeitsplätze in Branchen mit relativ starker ausländischer Konkurrenz auf ihren Absatzmärkten verlorengingen. Die technische Erneuerung der Wirtschaft dürfte demnach eher zu zögerlich als zu rasant vorangekommen sein.

Für die Zukunft ist nach den IAB/Prognos-Projektionen hingegen damit zu rechnen, daß die bisher mitgeschleppten Anpassungsprobleme überwunden werden können. Der technisch-organisatorische Fortschritt dürfte sowohl die Produktivität in Relation zum Wirtschaftswachstum in geringem Maße steigern als auch zu eher kapitalsparenden Investitionen anreizen. Trotzdem läßt sich daraus keine allgemeine Nachfrage- und Wachstumsschwäche ableiten. Der Preis für mehr Wachstum und Beschäftigung ist nach diesen Projektionen vielmehr die Bereitschaft zu verstärktem Strukturwandel und zur Umschichtung von Arbeitsplätzen.


Strukturwandel und Anpassungsprobleme

Die dämpfenden Auswirkungen des Umstands, daß Innovationen den Aufwand für Modernisierung verringern, werden weiterhin nur ein Faktor unter vielen anderen sein, die das Wirtschaftswachstum bestimmen, wenngleich auch möglicherweise einer mit zunehmendem Gewicht. Allerdings hat es Phasen eines kapitalsparenden technischen Fortschritts auch früher gegeben, aber die resultierende Verminderung der Nachfrage wurde dadurch mehr als wettgemacht, daß Investitionen leichter zu bezahlen waren und infolgedessen die Märkte ausgeweitet werden konnten.

Alles in allem könnten also die verschiedenen neuen Technologien nach Überwindung der gegenwärtigen Anpassungsprobleme recht kräftige Wachstumsimpulse auslösen. Dies würde auch den langfristigen Konjunkturwellen entsprechen, die Kondratieff und Schumpeter aufgezeigt haben. Befänden sich die Industrieländer nun tatsächlich am Beginn des fünften Zyklus, sollten sie allmählich die Stockungsphase überwinden und nach längerer Prosperität einen weiteren Wachstumsgipfel zu Anfang des kommenden Jahrhunderts erreichen.

Für die derzeit hohe Arbeitslosigkeit sind nicht aktuelle Innovationen verantwortlich zu machen. Auch für die Zukunft zeichnet sich bislang keine technologiebedingte globale Unterbeschäftigung ab. Letztlich liegt die Wurzel der Kontroversen darüber, ob die jüngsten folgenreichen Erfindungen dem Menschen noch genug zu tun lassen, wohl in grundsätzlich unterschiedlichen Beurteilungen der Funktions- und Anpassungsfähigkeit der heutigen Marktwirtschaft: Die Anhänger der Kompensationshypothese setzen auf die Ausgleichsmechanismen des Systems und fordern gegebenenfalls die Beseitigung von Hemmnissen, um die Realität dem idealtypischen Modell anzupassen; die Vertreter der Freisetzungshypothese und die Wachstumspessimisten befürchten, daß sich von selbst nichts mehr ausgleiche.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1996, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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