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Editorial: Außer Rand und Band

"Noch ein Wort, und ich hole die Polizei!", brüllt Nele aus voller Brust. Die Siebenjährige hat sich wie ein Zinnsoldat vor mir aufgebaut und mustert mich mit grimmigem Blick – weil ich partout nicht aufhören will, mich mit ihrer Mutter zu unterhalten. "Ich weiß oft selbst nicht, wie ich die Kleine gebändigt bekomme", sagt diese. Neles Temperament werfe nicht nur zu Hause Probleme auf, auch in der Schule häufen sich die Klagen über ihre ungestüme Art. Prompt rast das Mädchen davon, wirbelt durch die Wohnung und wirft sich dann aus vollem Lauf neben mich aufs Sofa. "Was für ein Energiebündel!", hätte man früher vielleicht achselzuckend gesagt. Heute steht rasch ein Verdacht im Raum: ADHS?

Forscher suchen seit geraumer Zeit nach den biologischen Wurzeln des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms, von dem drei bis fünf Prozent der Schulkinder in Deutschland betroffen sind. Seit unserem letzten G&G-Titel zum Thema (in Heft 3/2004) sind zahlreiche neue Erkenntnisse zu den genetischen und neuronalen Grundlagen der Störung hinzugekommen. Unsere Autorin Stefanie Reinberger hat die Studienlage gesichtet und kommt zu dem Schluss: ADHS hat viele Gesichter – was sich etwa in der Fülle der Erbfaktoren und Botenstoffe ausdrückt, die daran beteiligt sind (siehe Artikel ab S. 30).

Bei allem Wissen um Risikogene und hirnphysiologische Auffälligkeiten sollte man aber nicht vergessen: ADHS ist auch ein gesellschaftliches Phänomen. Die wachsende Zahl der Diagnosen ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass an Kinder heute höhere "Wahrnehmungsanforderungen" gestellt werden, erklärt der Kinderpsychiater Helmut Bonney im G&G-Interview (S. 37). Die Informations- und Angebotsflut mache es ihnen immer schwerer, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Gerade besonders aufnahmefähige Kinder seien damit überfordert.

Umso bedenklicher, dass sich laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Me­dizinprodukte (BfArM) der Verbrauch von Methylphenidat, dem Wirkstoff im ADHS-Medikament Ritalin, binnen 20 Jahren mehr als verfünfzigfacht hat. "Die Psychopharmakologie bietet heute die Möglichkeit, auf das Verhalten von Kindern einzuwirken – und danach besteht große Nachfrage", so Bonney. Doch Ri­ta­lin heilt nicht, sondern lindert allenfalls Symptome. Es sollte das letzte Mittel der Wahl sein. Ob dieser Appell bei Eltern, Pädagogen und Ärzten Gehör findet?

Eine gute Lektüre wünscht

Ihr
Steve Ayan

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