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Editorial: Bioterrorismus und die eigentliche Seuchengefahr



Man muss schon bis zum Jahr 1763 zurückgehen, um in einem Krieg auf tatsächlich benutzte Biowaffen zu stoßen. Damals notierte der Oberbefehlshaber Englands in Amerika, Jeffrey Amherst: "Ist es nicht denkbar, dass wir die Pocken über diese schrecklichen Indianerstämme kommen lassen?" Und wusste auch gleich das Rezept: "Sie tun gut daran, die Indianer mit Hilfe von Decken anzustecken und jede Methode zu versuchen, die dazu beitragen kann, diese schreckliche Rasse auszulöschen."

Von solchem Horror möchte man sich gerne weit entfernt sehen. Doch die Milzbrand-Anschläge nach dem 11. September 2001 holen den Bioterrorismus zurück in die Gegenwart (siehe auch unseren Bericht über den Milzbrand ab Seite 34). Auch vor Pocken steigt die Angst. Da längst ausgerottet, wird niemand mehr (von einzelnen Berufsgruppen abgesehen) gegen diese Erreger geimpft. Oft wird in dem Zusammenhang die Gefahr neuer, noch bösartigerer in Laboren entwickelter Biowaffen beschworen, gegen die Betroffene sich kaum mehr durch Impfstoffe zur Wehr setzen könnten.

Aber trotz des hohen Gefahrenpotenzials halten Experten die Wahrscheinlicheit eines massenwirksamen Bioanschlags für eher gering. Im Gegensatz dazu wird die Menschheit viel schrecklicher und alltäglicher von zahlreichen "natürlichen" Seuchen heimgesucht. Hier herrscht unter den Experten tatsächlich Alarmstimmung. Epidemien wie die Schlafkrankheit verbreiten sich seit den 60er Jahren. Viren wie Influenza entwickeln immer neue Varianten, Bakterien wie der Erreger der Lungenentzündung zeigen verstärkt Resistenzen.

Allein die "Großen Drei" – Malaria, Tuberkulose und Aids – forderten 1998 stündlich fast 700 Opfer, insgesamt sechs Millionen. Die Bilanz der Aids-Epidemie ist besonders deprimierend. Im Jahre 2000 starben rund drei Millionen Menschen an der Immunschwächekrankheit, gleichzeitig infizierten sich über fünf Millionen Menschen neu. In afrikanischen Ländern wütet das Virus besonders grausam: In Botswana etwa reduzierte sich die Lebenserwartung im letzten Jahrzehnt von 62 auf 50 Jahre.

Das Seuchenproblem ist menschengemacht. Als Folge erhöhter Mobilität mit Auswüchsen wie Sextourismus oder auch des internationalen Tierhandels verbreiten sich Viren und andere Keime rund um den Erdball. Vorhandene Impfstoffe sind für die Ärmsten unerschwinglich, an neu entwickelten fehlt es noch. Vor allem die Dritte Welt steuert auf eine Katastrophe zu. Nach WHO-Berichten sterben jährlich fünf Millionen Kinder, die Hälfte an Krankheiten, die im Prinzip einfach zu behandeln wären.

Abhilfen sind leicht zu benennen und schwer durchzusetzen: verbesserte öffentliche Hygiene, wirksamere Impfstoffe und Therapien, Kontrolle von Zwischenträgern und ein weltweites Überwachungssystem fordert etwa der Chef des Robert-Koch-Instituts, Reinhard Kurth. Sicher ist: Ähnlich wie in der globalen Allianz gegen den Terrorismus wird es eine globale Allianz gegen Seuchen geben müssen. Denn die Zeit läuft uns davon.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2002, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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