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Editorial: Evidenz statt Eminenz

Ich erinnere mich noch gut, wie es bei mir klick gemacht hat. Es geschah bei einem Vortrag des Psychologen Winfried Rief auf der alljährlichen Psychiater-Tagung der Fachgesellschaft DGPPN in Berlin. Der Professor aus Marburg sprach über Plaeboeffekte in der Psychotherapie – allerdings gar nicht abschätzig, etwa nach dem Motto: »Seht her, die Behandlung wirkt zum Teil bloß, weil der Patient hofft, es werde ihm danach besser gehen.« Nein, Rief pries den Placeboeffekt als Grundbaustein jeder wirksamen Medizin und plädierte dafür, ihn noch gezielter zu stimulieren und zu nutzen.

Das Titelthema dieses Hefts (ab S. 12) ist das Resultat meines damaligen Aha-Erlebnisses. Denn plötzlich war mir klar, worüber wir in »Gehirn&Geist« unbedingt einmal berichten sollten: Es ist nicht nur verblüffend, welch große Rolle die Erwartung für den Erfolg einer Therapie etwa bei Depressionen oder Ängsten spielt – laut Forschern erklären placebovermittelte Effekte mindestens die Hälfte der Gesamtwirkung. Die Sache wirft auch ein Schlaglicht auf die Geschichte der Psychotherapie, die sich als Entwicklung »von der Eminenz zu Evidenz« beschreiben lässt. Statt auf den Lehren charismatischer Begründer von Therapiedogmen fußt moderne Psychotherapie auf wissenschaftlich belegbaren Störungs- und Wirkmechanismen, die man in einer therapeutischen Beziehung auf Augenhöhe gemeinsam angeht. Und dazu gehört eben auch ein Stück Glaube, Hoffnung und positive Erwartung.

Es kommt dabei, neben menschlicher Wärme, vor allem auf die Kompetenz an, die der Patient seinem Arzt oder Psychologen zuschreibt. Was mich im Gespräch mit Rief zu der Frage führte, ob ein selbstbewusstes »Ich weiß genau, was Ihnen fehlt« seitens des Behandelnden nicht womöglich mehr hilft als ein nüchtern-realistisches Auftreten. Warum es dennoch heikel ist, wenn sich Therapeuten wie Gurus gebärden, lesen Sie im Interview ab S. 20.

Eine erwartungsfrohe Lektüre wünscht
Ihr Steve Ayan

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