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Editorial: Geisteswissenschaften auf der Verliererstraße?



Es ist schon merkwürdig: Seit geraumer Zeit wähnen sich die Geisteswissenschaftler in der Defensive. Unter dem Ruch des Unwirklichen stünden sie sowie unter ständigem Rechtfertigungszwang, beobachtete etwa die FAZ, und begegneten sogar echter Geistfeindschaft. Auch auf dem 44. Deutschen Historikertag in Halle beklagten sie im September ihre Marginalisierung. Stellen- und Drittmittelmangel geriet ihnen beinah zum wichtigsten Thema.

Nun ist es ja so, dass wir in Spektrum der Wissenschaft – wenn auch mit einem Schwerpunkt in den harten Naturwissenschaften – grundsätzlich für alle Wissenschaften offen sind. Aber unsere Redakteure haben häufig Schwierigkeiten, bei den Geisteswissenschaften hinreichend interessante Themen zu entdecken. Interessant ist natürlich ein sehr relativer Begriff. Aber Sie, unsere Leser, reagieren sofort kritisch, wenn wir Ihnen zu weiche oder gar abseitige Forschungen aus den, wie es im Englischen heißt, humanities auftischen. Oder Sie strafen solche Artikel, wie unsere monatlichen Leserumfragen zeigen, mit stiller Nichtbeachtung. Und eher selten können wir Ihnen daher einen Artikel offerieren wie in diesem Heft auf Seite 64 über das Aussterben der Sprachen.

Das hat nun gar nichts damit zu tun, dass wir etwa einer Zwei-Kulturen-These à la Charles Percy Snow anhingen, wonach naturwissenschaftliche und humanistische Bildung die Gesellschaft streng teile und wir nur der ersten Fraktion angehörten. Der Ex-Max-Planck-Präsident Hubert Markl bezeichnete dieses kulturelle Spaltungsirresein in einem "Spiegel"-Essay zurecht als Schnee von gestern, als Ausweis eines Bildungsmangels: "Der Gegensatz" bestehe vielmehr "zwischen rational aufgeklärten oder nicht von Aufklärung geprägten Bildungskulturen".

Da begibt sich mit Markl ein Biologe in die Schlacht, in der man doch zuallererst Geisteswissenschaftler erwartet. Besser, wenn sie in eigener Sache das Beste tun, was ihres Amtes ist: das Wort ergreifen!

Kürzlich zeigten einige Tübinger Professoren, wie sich die Debatte auch weniger weinerlich führen lässt (www.1000worte.de). Darin packt etwa der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange den Stier bei den Hörnern. Richtig, sagt er, Kulturwissenschaften rechnen sich nicht, sie erbringen keine Leistung für den Wirtschaftsstandort Deutschland und ihr Weg in die öffentliche Irrelevanz ist mit Kürzungen und verfehlten Zumutungen gepflastert. Alles wahr. Aber es gebe unweigerlich einen Bedarf an Orientierung, Selbstaufklärung, ein Bedürfnis nach Selbstbewahrung und Selbstvergewisserung. Stichwort Weltkulturerbe: Dessen Konservierung werde nicht reichen, mahnt der Tübinger Geisteswissenschaftler, wenn nicht auch das Erinnern selbst kultiviert wird. "Sonst haben wir am Ende ein Weltkulturerbe ohne Erben."

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2002, Seite 5
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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