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Editorial: Sternstunde am Ende der Steinzeit



Am Anfang stand Verwirrung, Spekulation und sogar Betrugsverdacht. Hatte der Gletscher in den Südtiroler Hochalpen im warmen September vor zwölf Jahren nur einen verlorenen Bergsteiger freigegeben? War die Leiche eine Fälschung, wie 1993 zwei Autoren behaupteten? Oder gar nur ein Witz für die Medien: Hatte etwa Reinhold Messner, der tatsächlich zufällig in der Nähe weilte, eine ägyptische Mumie nach Europa gebracht und auf den über 3000 Meter hohen Alpenpass platziert?

Nichts von alledem hielt der womöglich umfangreichsten wissenschaftlichen Untersuchung stand, der je ein Individuum unterworfen wurde: der "Eismann", im Volksmund "Ötzi" genannt. Rasch versammelte sich ein eindrucksvolles interdisziplinäres und internationales Forscherteam – Archäologen, Botaniker, Klimatologen, Radiologen, Humanbiologen, Genetiker, Mediziner und Molekularbiologen –, um dem Mann aus der späten Jungsteinzeit seine Geheimnisse zu entlocken. Nach zwölf Jahren ziehen sie jetzt eine überraschende Bilanz – denn vieles, was zunächst glaubhaft schien, gilt heute nicht mehr. Analysen ergeben erstaunliche, neue Hinweise auf Leben und Sterben des "Urtirolers". Erstmalig und unverhofft ist damit in die Archäologie eine Form der Alltagsforschung eingekehrt, wie sie etwa für die Mittelalterforschung schon seit langem üblich ist.

Akribisch untersuchten die Experten nicht nur die seltsamen Zufälle der Gefriertrockung, der es zu verdanken ist, dass Ötzis Leichnam mit all seinen Habseligkeiten über Jahrtausende im Gletschereis konserviert wurde. Auch seine "Personalien" ermittelten sie mit Details wie aus dem Fahndungscomputer des Bundeskriminalamts: Alter ca. 46 Jahre, Geschlecht männlich, Größe 1,59 Meter, zuletzt wohnhaft: Ventertal/Südtirol. Besondere Kennzeichen: Tätowierungen (57 Striche und 2 Kreuze) an Rücken, Hand- und Fußgelenken, Erfrierungen am linken kleinen Zeh. Letzte Mahlzeit: Einkorn-Getreide, Schlehen, Rothirsch- und Steinbockfleisch. Bekleidung: Lederwams und -hosen, Regen abweisender Grasmantel, festes Schuhwerk aus Bärenleder. Habseligkeiten: Pfeil und Bogen, Feuerzeug, Baumpilzmedizin, Kupferaxt. Hygienezustand: Zähne stark abgeschliffen, zwei Menschenflöhe, keine Läuse. Todeszeitpunkt: Frühsommer vor 5300 Jahren.

Rätselhaft bleiben bis heute der Beruf und die genaue Todesart des Alpenwanderers. Ein Schafhirte war er vermutlich nicht. Zur Todesart hatten sich die Medien rasch auf zwei Hypothesen festgelegt: Der Eismann ist eine Fälschung; oder: Er starb auf der Flucht vor seinen Verfolgern. Die Fälschungshypothese hat, wie jede Verschwörungstheorie, auch heute noch ihre Anhänger, wird jedoch von den Fachleuten nicht ernst genommen. Aber auch die Flucht- und Mordthese hält, wie die Forscher in unserem Artikel berichten, nicht stand. Woran starb er dann, an diesem abgelegen Ort? Ötzi, unser Mann aus der Jungsteinzeit, bleibt geheimnisvoll.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2003, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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