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Editorial: Übergewicht ist gut fürs Geschäft, leider



Das Frühjahr geht, der Sommer kommt – und eines ist wie immer: Die Magazine überbieten sich mit neuen Diätanleitungen, urlaubswillige Menschen holen die Badesachen aus dem Schrank und blicken unwirsch bis angewidert auf ihren Winterspeck. Nichts Neues also unter der Sonne? Doch, denn in letzter Zeit geben Forscher nun schon fast dramatische Appelle für Verhaltensänderungen aus. Sie machen nicht nur klar, warum Diäten und Abmagerungskuren so oft scheitern; sie weisen nach, dass in den westlichen Industrienationen die Zahl der Übergewichtigen rapide zunimmt. Wie das Fachblatt "Science" im Februar in einem Spezialreport berichtete, kommt "die jüngste Zunahme von Fettleibigkeit" einer globalen Epidemie gleich; in ihrer Schwere sei diese Pandemie mit dem Krebsproblem vergleichbar. Auch für die Weltgesundheitsorganisation WHO rangiert Übergewicht inzwischen unter den "Top Ten" der globalen Gesundheitsprobleme.

Korpulenz ist nicht nur eine Frage des Aussehens: Bluthochdruck, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind typische Folgen von starkem Übergewicht. 16 Millionen Deutsche leiden daran, weltweit sind hunderte Millionen betroffen. Die Ursachen sind reichlich banal: Unsere moderne Welt verführt Menschen dazu, mehr zu essen und sich weniger zu bewegen. Unser Körper ist nun einmal weit besser darauf eingestellt, für Hungersnöte Vorräte zu speichern, als diese wieder loszuwerden. Dabei wäre dem Übergewicht leicht abzuhelfen: Täglich 15 Minuten mehr laufen, empfehlen Experten, und bei jeder Mahlzeit auf drei Bissen verzichten. Die biologischen Mechanismen, die unsere Nahrungsaufnahme steuern, sind jedoch extrem komplex und in vielen Details noch gar nicht verstanden: Wie bekommen wir Hunger? Wie oft essen wir? Wie reguliert der Körper Unter- oder Übergewicht?

Es wäre der Traum jeder Pharmafirma, endlich einen funktionierenden Appetitzügler auf den Markt zu bringen. Offenbar sind Forscher inzwischen auf dem Weg zu wirksamen Pillen gegen Übergewicht: Sie melden grundlegende Fortschritte – sowohl in der Analyse der molekularen Signale, die kurzfristig über unser Hungergefühl entscheiden, als auch bezüglich der biochemischen Reaktionen, die langfristig unseren Fetthaushalt regulieren. Mindestens so stark wie die Biochemie unseres Körpers wirken die gesellschaftlichen Anreize. Überproduktion und Verbrauch von Lebensmitteln sind einfach ein zu gutes Geschäft für alle, die daran verdienen. Kaum ein größerer Industriezweig "würde davon profitieren", schreibt die Ernährungswissenschaftlerin Marion Nestle von der New York University, "wenn die Menschen weniger äßen". Ob der Staat erst Steuern auf Fast Food und Cola erlassen muss, bevor die Dicken im Lande lieber mehr Obst und Gemüse – und überhaupt weniger – zu sich nehmen? Ein Missverständnis muss jedoch korrigiert werden: nämlich die These, dass wir nur deshalb zu Übergewicht neigen, weil unser moderner Speiseplan nicht mehr dem der Jäger und Sammler der Altsteinzeit entspricht. Unser Artikel auf S. 30 sagt Ihnen, warum Forscher dies inzwischen anders sehen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2003, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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