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Editorial: Wie für eine andere Welt geschaffen

Newtown – dieser Ortsname steht seit dem 14. Dezember 2012 für den verheerendsten Amoklauf in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Noch immer wirkt er in den Medien nach. Nein, ich meine nicht die Diskussion über das amerikanische Waffenrecht. Schon kurz nach der Bluttat begann auch eine Debatte darüber, ob Autisten auf Grund ihrer schwächeren Empathiefähigkeit und ihrer teils stark eingeschränkten sozialen Intelligenz potenzielle Gewalttäter seien. Diesen Zusammenhang hatte etwa ein großes deutsches Nachrichtenportal in einem frühen Bericht über den Attentäter angedeutet. Die Wogen schlugen hoch: Zu Recht empörten sich Betroffene und Verbände über eine drohende Stigmatisierung. Die Redaktion ruderte prompt zurück – doch der Mythos vom gemeingefährlichen Autisten war bereits in der Welt.

Mit diesem Heft möchten wir einen Denkanstoß geben: Vielleicht ist Autismus – zumindest in seinen milden Ausprägungen wie dem Asperger-Syndrom – gar keine Erkrankung im engeren Sinn, sondern lediglich eine Variante menschlichen Verhaltens? Diesen Standpunkt vertritt der kanadische Neurowissenschaftler Laurent Mottron von der Université de Montréal. In einem sehr persönlichen Essay berichtet der Autismusforscher ab S. 36, wie er seine eigene Einschätzung des Asperger-Syndroms grundlegend änderte, nachdem er mit einigen Betroffenen näher zusammengearbeitet, ja gemeinsam geforscht hatte. Mottron kommt zu dem Schluss, dass viele Autisten "eher ein geeignetes Umfeld brauchen als eine Therapie".

Das Autismusspektrum ist sehr breit. Es reicht von geistig behinderten, teils sprachunfähigen Menschen bis zu den berühmten Inselbegabten, deren kognitive Superleistungen bereits Stoff für Hollywood lieferten. Um die Betroffenen auf ein Leben in einer Welt vorzubereiten, für die sie nicht geschaffen scheinen, ist eine frühe Diagnose wichtig. Bereits im Vorkindergartenalter lässt sich Autismus erkennen, erklärt der renommierte Experte Fritz Poustka im Interview mit GuG-Redakteur Christoph Böhmert (ab S. 32). Darin geht es auch um die Frage, warum Autismus in den letzten Jahren so viel häufiger diagnostiziert wurde und welche therapeutischen Ansätze Linderung versprechen. Gemeinsam mit Kollegen hat Poustka eine Software entwickelt, mit der Betroffene lernen, die Gefühle anderer von deren Gesichtern abzulesen – die vielleicht wichtigsten Landmarken auf der für Autisten so schwierigen Reise durch den Irrgarten des menschlichen Miteinanders.

Eine gute Lektüre wünscht
Ihr
Carsten Könneker

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