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Editorial



Eigentlich war es ein Bluff, als Bill Clinton mit den Kontrahenten J. Craig Venter, Chef der US-Firma Celera Genomics, und Francis S. Collins, Sprecher des Nationalen Human-Genom-Projekts, Ende Juni vor die Kameras trat, um die Entzifferung des menschlichen Erbmoleküls DNA zu verkünden.

Denn in diesem Moment existierte gerade mal ein Viertel der drei Milliarden Molekülbuchstaben langen Sequenz als detaillierter Text, weitere 60 Prozent waren grob oder fast entziffert, das heißt erst rund 85 Prozent lagen als "Arbeitsfassung" vor – und es wird noch einige Zeit dauern, so räumen auch die Forscher ein, bis die Entzifferung wirklich abgeschlossen ist.

Gleichwohl ist etwas passiert – und wenn es nur ein Medienknüller vor den Augen verdutzter Fernsehzuschauer war. Von einem Durchbruch der Forschung zu reden, war übertrieben; schließlich besorgten die Genomanalyse in den letzten Jahren vor allem Sequenzierautomaten und Supercomputer. Auch haben die Forscher zwar das genetische Buch des Lebens bald ausbuchstabiert, kennen aber noch nicht die Bedeutung der Letternreihen. Deshalb markiert der PR-Auftritt der Genomforscher im Weißen Haus auch eher den Anfang der genetischen Revolution als ihren Abschluss.

Was aber stellen wir künftig mit der Datenfülle an? Wie wir in unserem Titelschwerpunkt ab Seite 30 berichten, liegen vor den Forschern harte Jahre, in denen sie die Funktion der genetischen Botschaft aufklären müssen. Die in der DNA-Sequenz enthaltenen fünfzig- bis hunderttausend Gene produzieren beim Menschen bis zu zwei Millionen Pro-teine. Deren komplexes Reaktionsnetzwerk in der Zelle, Teil der so genannten Proteomikforschung, zu entschlüsseln, stellt die eigentliche Herkulesaufgabe für die Genforscher dar.

Dahinter winken Heilserwartungen und damit auch Geschäfte in beinah unvorstellbaren Dimensionen. Wird Krebs besiegbar? Werden Diabetes, Herzinfarkt oder Bluthochdruck heilbar? Lassen sich viele der schrecklichen Erbleiden endlich behandeln? Aufgrund solcher Perspektiven ist der Krieg um Gen-Patente und ihre Pfründe längst ausgebrochen. Doch wo Unternehmen große Profite wittern, sehen Kritiker ein ethisches Tabu gebrochen: Niemand solle Anspruch auf das menschliche Erbgut erheben können. Das Gut stehe allenfalls der gesamten Menschheit zu.

Wir werden Zeit haben, darüber nachzudenken. "Zwischen dem mechanischen Lesen eines Buches und dem Verstehen seines Inhalts liegt ja eine riesige Spanne", notierte Erwin Chargaff kürzlich. Resultate, meinte der heute 95-jährige Wegbereiter des Doppelhelix-Modells der DNA, dürften nicht "vor der Mitte des Jahrhunderts" zu erwarten sein.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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