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Editorial



Im Getümmel der Stammzellen-Debatte (FAZ: "geistiger Bürgerkrieg") verschwand das noch im Frühjahr kurz und heiß debattierte Thema über Alter und Sterbehilfe fast völlig von der Bildfläche. Dabei tickt hier meines Erachtens die größere Zeitbombe für unser Gesundheitssystem als etwa beim Embryonenschutz: Nicht nur steigt die individuelle Lebenserwartung, sondern auch die Gesellschaft wird – mangels Nachwuchs – in den kommenden Jahrzehnten in nie da gewesenem Maße überaltern.

Wir kümmern uns sehr um den Status von befruchteten Eizellen und Embryonen. Über Schutz und Sorge für das geborene Leben, vor allem über alte Menschen – oft krank und sozial schwach –, wird jedoch mit weniger Leidenschaft debattiert. Wer einmal das Elend in manchen Pflege- und Altersheimen gesehen hat, weiß, wovon ich spreche.

Die Folgen der Überalterung haben nicht nur das Sozialsystem und eine immer fragwürdiger erscheinende Rentenversicherung zu tragen. Die Krankheiten des hohen Alters werden viele Millionen von Menschen betreffen, die gerade dank exzellenter Medizin erst so alt werden konnten. Zwanzig Prozent unserer Bevölkerung sind bereits älter als 65 Jahre. Im Vergleich dazu ist – rein statistisch gesehen – die Anzahl der von Erbkrankheiten Betroffenen fast vernachlässigbar. Immer massiver treten jetzt Krankheiten in Erscheinung, die wir unserer Längerlebigkeit und damit gerade dem Erfolg medizinischer Forschung verdanken. Das gilt für Parkinson, Alzheimer, Demenz, Infarkte, Osteoporose und Arthritis ebenso wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Nicht jeder strebt unbedingt nach einer Steigerung seiner Lebenserwartung. "Ich hoffe, ich sterbe noch rechtzeitig, bevor die Wissenschaft mich 150 Jahre alt werden lässt", hieß es in einem Cartoon – womit freilich dem von einem Politiker so genannten "sozialverträglichen Frühableben" entsprochen würde.

Aber wenn sich über der Biopolitik-Szene der Pulverdampf lichtet, werden wir vielleicht begreifen, dass Heilmittel, gewonnen auch dank embryonaler Zellkulturen, ein würdigeres Altwerden ermöglichen könnten. Die Freiheit für Forscher, diesen Themen nachzugehen, ist ein hohes, auch vom Grundgesetz geschütztes Gut. Was die Wissenschaft vom Altern betrifft, die Gerontologie, so wird sie vermutlich keinen Jungbrunnen schaffen; jedoch sind bisher auch keine absoluten Grenzen für die Heilung oder Linderung von Alterserkrankungen sichtbar.

Die Erkenntnissuche ist, wie Hubert Markl, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, auf der diesjährigen MPG-Hauptversammlung sagte, "nicht Ausdruck der Forschungshybris verblendeter Wissenschaftler, sondern unverzichtbarer Teil unserer Menschlichkeit und Menschenwürde".

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2001, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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