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Ein Baukasten für Quantensysteme

Durch Überlagerung von Laserstrahlen erzeugte optische Gitter mit eingefangenen Atomen erweisen sich immer mehr als ideale Experimentiersysteme für den Nachweis bislang nur theoretisch vorhergesagter quantenmechanischer Phänomene.

Die zu Anfang dieses Jahrhunderts begründete Quantenmechanik ist eine der erfolgreichsten physikalischen Theorien überhaupt und hat unser Verständnis der Welt immens bereichert. Viele ihrer Vorhersagen, die zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung für Laien wie auch für manche Physiker – darunter so herausragende wie Albert Einstein – absurd und unglaublich wirkten, sind längst experimentell bestätigt worden. Andere ließen sich lange Zeit nicht überprüfen, weil es keine realen Systeme gab, welche die anspruchsvollen, ja teils extremen Bedingungen erfüllten, die den quantenmechanischen Berechnungen zugrunde lagen. Ein Beispiel ist die Bose-Einstein-Kondensation; sie konnte erst kürzlich – mehr als 70 Jahre nach ihrer theoretischen Vorhersage – an Atomen demonstriert werden, die einfallsreiche Wissenschaftler mit raffinierten Methoden auf extrem tiefe Temperaturen abgekühlt hatten (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1998, Seite 44).
Ultrakalte Atome sind aber auch ideale Testobjekte für viele andere quantenmechanische Effekte, die lange Zeit nicht oder zumindest nicht direkt beobachtbar waren. Insbesondere die sogenannten optischen Gitter erlauben eine Vielzahl neuartiger Experimente. Um solche kristallähnlichen regelmäßigen Anordnungen von Potentialmulden zu erzeugen, überlagert man mehrere polarisierte Laserstrahlen derart, daß sie eine dreidimensionale stehende Welle bilden. Darin lassen sich Atome solange kühlen, bis sie schließlich in den Wellentälern gefangen bleiben (Spektrum der Wissenschaft, April 1997, Seite 32).
Zur Kühlung dient dabei der Sisyphus-Prozeß, der anschaulich nach der bekannten tragischen Gestalt der griechischen Mythologie benannt ist (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1997, Seite 14). Wenn ein Atom das optische Gitter durchquert, muß es sich entlang der Wellentäler und -berge auf und ab bewegen. Durch bestimmte Tricks kann man nun dafür sorgen, daß es dabei in der Nähe eines Gipfels jeweils mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Aussendung eines Lichtpakets in einen anderen Zustand übergeht, für den Berge und Täler gerade vertauscht sind. Dadurch befindet es sich wieder in einem Tal und muß den nächsten Gipfel erklimmen. Bei diesem Spiel verliert es unablässig Bewegungsenergie, bis es so langsam geworden ist, daß sein Schwung nicht mehr ausreicht, es über den nächsten Gipfel zu befördern. Dann schaukelt es nur noch zwischen den Hängen hin und her: Es ist auf einem Platz des optischen Gitters gefangen.
Die genaue Geometrie dieses Gitters läßt sich durch die experimentellen Parameter fast beliebig einstellen. Sie hängt sowohl von den Richtungen der verschiedenen Laserstrahlen ab als auch von deren Wellenlängen und Polarisationen. Zudem kann man über die Intensität der Laserstrahlen und durch zusätzliches Anlegen von Magnetfeldern die Tiefe und Form der Potentialtöpfe beeinflussen – ideale Voraussetzungen für die Konstruktion geeigneter Systeme, um das Verhalten der gefangenen Atome zu studieren. Da diese sehr kalt sind, kommt die quantenmechanische Natur ihrer räumlichen Bewegung dabei deutlich zum Vorschein.

Nachweis des nicht-exponentiellen Zerfalls

Mark G. Raizen und seine Mitarbeiter von der Universität von Texas in Austin konnten beispielsweise mit optischen Gittern erstmals den von der Quantentheorie vorhergesagten nichtexponentiellen Zerfall beobachten. Dabei spielt das Heisenbergsche Unbestimmtheitsprinzip eine Rolle, demzufolge die Position und der Impuls (und damit die Geschwindigkeit) eines Teilchens nicht gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit meßbar sind. Raizens Team beobachtete das Verhalten von Atomen in beschleunigten optischen Gittern. Diese Beschleunigung erreicht man durch eine leichte Veränderung der Wellenlänge der Laserstrahlen, die dann für kurze Zeit eine laufende anstelle einer stehenden Welle bilden. Aus Sicht der Atome entspricht das einem seitlichen Kippen des Potentialgebirges, wodurch ein Hang jedes Wellentals höher, der gegenüberliegende dagegen niedriger wird (Bild 1).
Der tiefere Gipfel bildet damit eine etwas kleinere Barriere für das gefangene Atom. Mehr noch: Wenn es ihn überwunden hat, ist es frei, da, vereinfacht gesagt, alle folgenden Gipfel auf dieser Seite noch niedriger sind. Nun hat das Atom zwar auch nicht genügend Energie, um den erniedrigten Wellenberg zu erklimmen. Doch erlaubt ihm ein weiteres quantenmechanisches Phänomen, der sogenannte Tunneleffekt, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit trotzdem hinüberzugelangen, indem es den Berg gleichsam durchtunnelt.
Auf diesem Wege vermag zu jedem Zeitpunkt jeweils ein fester Prozentsatz der gefangenen Atome zu entkommen, so daß die Anzahl der eingesperrten Teilchen exponentiell mit der Zeit abnimmt. Für einen kurzen Moment zu Beginn des Beschleunigungsvorgangs läßt sich jedoch aufgrund des Unbestimmtheitsprinzips nicht feststellen, ob ein Atom die Potentialbarriere bereits durchtunnelt hat und somit wieder frei ist, oder ob es sich noch in seinem Wellental befindet. Dies hat zur Folge, daß die Anzahl der gefangenen Partikel zunächst langsamer abnimmt, als dem Exponentialgesetz entspricht.
Diese anfängliche Abweichung vom exponentiellen Zerfallsverhalten gilt laut Quantentheorie für fast alle instabilen Systeme in der Natur – unter anderem auch für radioaktive Elemente. Durch Messung der nach einer bestimmten Zeit noch gefangenen Atome konnten Raizen und seine Mitarbeiter das Phänomen jetzt erstmals auch direkt beobachten – wenngleich nur für eine Zeitspanne von wenigen millionstel Sekunden. Für andere physikalische Systeme ist diese Phase noch um mehrere Größenordnungen kürzer, was bisher verhindert hat, daß sich das verlangsamte Einsetzen des Zerfalls beobachten ließ.

Bloch-Oszillationen und atmende Wellenpakete

Auf ähnliche Weise konnte die Forschungsgruppe von Christophe Salomon an der École Normale Supérieure in Paris ein anderes, ebenso ausgefallenes quantenmechanisches Phänomen nachweisen, das der amerikanisch-schweizerische Physiker Felix Bloch (1905 bis 1983; Physik-Nobelpreis 1952) und sein amerikanischer Kollege Clarence Melvin Zener (1905 bis 1993) schon in den dreißiger Jahren für Elektronen in Kristallen vorhergesagt hatten. Es resultiert aus der Wellennatur kleiner Teilchen und der Tatsache, daß deren Bewegungsenergie in einem periodischen Potential – also etwa in einem optischen Gitter – nicht beliebige Werte annehmen kann, sondern auf bestimmte Bereiche beschränkt ist, die man als Bänder bezeichnet.
Hat ein Teilchen die Maximalgeschwindigkeit innerhalb eines Bandes erreicht und wird weiter beschleunigt, so wechselt es die Bewegungsrichtung, anstatt schneller zu werden: Es kommt zu Bloch-Oszillationen. Ein ähnlicher Effekt läßt sich in Westernfilmen beobachten: Die Speichen eines sich immer schneller drehenden Wagenrades scheinen plötzlich rückwärts zu laufen, weil der Film immer nur bestimmte Ausschnitte der Bewegung zeigt.
Die Pariser Physiker beschleunigten die Atome in einem optischen Gitter verschieden lang und maßen ihre Geschwindigkeiten. Tatsächlich zeigten sich die theoretisch vorhergesagten Schwankungen und Richtungsänderungen – ein eindeutiger Beweis für die Wellennatur der Teilchen (Bild 2). Bloch-Oszillationen konnten kürzlich auch in Festkörpern beobachtet werden, allerdings nur mit großem Aufwand.
Eine noch einfachere und direktere Demonstration des Wellencharakters von eingefangenen Atomen gelang Nicholas P. Bigelow und seinen Mitarbeitern an der Universität Rochester (New York). Dazu präparierten die Wissenschaftler die Teilchen in einem optischen Gitter als Wellenpakete im niedrigsten Energiezustand der Potentialtöpfe und veränderten plötzlich die Tiefe dieser Töpfe, was durch eine einfache Variation der Laserintensität möglich ist. Das Wellenpaket muß sich daraufhin den neuen Gegebenheiten anpassen, was bedeutet, daß es in eine Mischung aus verschiedenen nun möglichen Zuständen übergeht. Da die Wellen dieser Mischung unterschiedliche Frequenzen haben, ergibt ihre Überlagerung ein Wellenpaket, das sich mit einer gewissen Periode ausdehnt und wieder zusammenzieht – es atmet gleichsam (Bild 3).
Zum Nachweis dieses Vorgangs nutzte Bigelows Team aus, daß die Häufigkeit, mit der das atmende Wellenpaket ein Lichtquant aus den sich kreuzenden Laserstrahlen absorbiert und wieder aussendet (also fluoresziert), von seiner momentanen Ausdehnung abhängt. Dadurch ändert sich die Fluoreszenz-Intensität im Rhythmus des Atmens.
Hätten die Bestandteile des neuen Wellenpakets Frequenzen, die in exakt ganzzahligem Verhältnis zueinander stehen, würde das Pulsieren, sofern keine Dämpfung von außen erfolgt, endlos fortdauern. Tatsächlich bedingt die nicht völlig ideale Form des Potentialtopfes jedoch kleine Abweichungen von diesem Zahlenverhältnis. Diese bewirken, daß die Wellen allmählich außer Takt geraten, wodurch das Atmen mit der Zeit schwächer wird und schließlich völlig verschwindet. Noch später beginnt sich der Gleichtakt allerdings langsam erneut einzustellen, und damit sollte auch das Atmen wieder aufleben. Mehrere Forschungsgruppen haben mittlerweile über experimentelle Hinweise auf ein solches Wiederaufleben berichtet.
Damit aber sind die Möglichkeiten der optischen Gitter und die Phantasie der Physiker noch keineswegs erschöpft. So ist es möglich, spezielle Gitter zu konstruieren, in denen die Potentialtöpfe durch eine kleine Energiebarriere in zwei Hälften unterteilt sind. Wird nun ein Atom in der einen Hälfte eingefangen, sollte sich beobachten lassen, wie es in die andere hinübertunnelt. Auch kontrollierte Kollisionen von Atomen sind denkbar; dazu müßte man nur jeweils ein Teilchen in jede Hälfte des Potentialtopfes bringen und dann plötzlich die Barriere entfernen.
Schließlich könnte man mit Hilfe der sogenannten Raman-Kühlung, die Poul S. Jessens Gruppe an der Universität von Arizona in Tucson jetzt gerade verwirklicht hat ("Physical Review Letters", Band 80, Nummer 19, Seite 4149, 11. Mai 1998), sogar mehrere Atome in einem einzigen Potentialtopf fangen und auf extrem niedrige Temperaturen abkühlen. Dann sollten Effekte sichtbar werden, wie sie auch bei der eingangs erwähnten Bose-Einstein-Kondensation auftreten. Bis dahin sind freilich noch einige experimentelle Schwierigkeiten zu überwinden – vor allem das Problem, daß man bisher nur einen relativ kleinen Teil der Gitterplätze überhaupt mit einem Atom besetzen konnte. Auf jeden Fall birgt der Experimentierbaukasten "optische Gitter" für Physiker noch viele faszinierende Möglichkeiten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1998, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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