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Mathematik: Ein großer Brückenschlag in der Algebra

Der 35-jährige Mathematiker Laurent Lafforgue hat die nobelpreisähnliche Fields-Medaille dafür erhalten, dass er einen wesentlichen Teil eines umfangreichen, 35 Jahre alten Forschungsprogramms erledigt hat.


Mit einem simplen Brief an seinen berühmten Fachkollegen André Weil formulierte der kanadische Mathematiker Robert P. Langlands im Januar 1967 eine kühne Vermutung, die sich als äußerst weitsichtig erwies und große Forschungsaktivitäten ausgelöst hat. Im Endeffekt legte er damit auch dem damals zwei Monate alten Laurent Lafforgue ein Problem in die Wiege, das dieser später in siebenjähriger Arbeit glanzvoll bewältigte. Lafforgue ist einer der beiden he-rausragenden Forscher, denen im August dieses Jahres auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress in Peking die Fields-Medaille verliehen wurde.

Der so Geehrte arbeitet am Institut des Hautes Études Scientifiques in der Nähe von Paris und verlängert damit die eindrucksvolle Liste der Fields-Preisträger, die aus diesem Institut stammen: Laurent Schwartz (1950), Jean-Pierre Serre (1954), René Thom (1958), Alexander Grothendieck (1966), Alain Connes (1982), Pierre-Louis Lions und Jean-Christophe Yoccoz (beide 1994; vergleiche Spektrum der Wissenschaft 10/1994, S. 22).

Das Resultat, für das Wladimir Drin'feld 1990 mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurde (Spektrum der Wissenschaft 09/1991, S. 30), war schon sehr abstrakt und allgemein; aber Lafforgue hat es mit seinem Ergebnis noch verallgemeinert. Und bei genauem Hinsehen stellt sich die Vermutung von Taniyama und Shimura, die Andrew Wiles zu seinem spektakulären Beweis des großen Fer-mat'schen Satzes (Spektrum der Wissenschaft 01/1998, S. 96) verhalf und nicht gerade an einem Mangel an Allgemeinheit und Abstraktion leidet, als ein Spezialfall der Vermutung von Langlands dar.

Es geht um einen Brückenschlag zwischen zwei eigentlich sehr verschiedenen Gebieten der Mathematik. An dem einen Ufer – nennen wir es das linke Ufer – liegt die Galois-Theorie, benannt nach Évariste Galois (1811-1832), der ihre Grundzüge hastig in einer Nacht skizzierte, bevor er am anderen Morgen im Duell tödlich verwundet wurde. Sie gibt unter anderem Auskunft auf die Frage, unter welchen Umständen eine Gleichung dritten, vierten, fünften ... Grades durch Wurzelausdrücke auflösbar ist.

Den Praktiker, der von einer Gleichung wie x5+5x3+2x2+x+4=0 nichts weiter wissen will als den Zahlenwert einer Lösung, interessiert die Galois-Theorie wenig. Die Analysis mit ihren Konzepten wie Stetigkeit, Grenzwert und Konvergenz verschafft ihm die Gewissheit, dass es eine reelle Zahl gibt, welche die Gleichung löst, und die Numerik liefert ein Rezept, diese Zahl mit beliebig hoher Genauigkeit zu bestimmen. Der Algebraiker dagegen kennt zunächst keine anderen Zahlen als die rationalen (Brüche aus ganzen Zahlen). Nachdem schon eine einfache Gleichung wie x2-2=0 keine rationale Lösung hat (ist irrational), stellt sich die Frage, welche Zahlen man zu den rationalen hinzufügen muss, um eine bestimmte Gleichung lösbar zu machen.

Die Kunst der Körpererweiterung

Die Algebraiker sprechen von einem "Körper" und meinen damit jede Menge, deren Elemente man nach Belieben durch Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren miteinander verknüpfen kann (nur die Division durch null ist ausgeschlossen). Die Menge der rationalen Zahlen ist ein Körper, denn Summe, Differenz, Produkt und Quotient zweier rationaler Zahlen sind stets wieder rational. Wenn man zu dieser Menge nur hinzunimmt, ist sie noch kein Körper. Man muss auch +1, 3 und alles, was man durch Anwendung der Grundrechenarten aus und einer rationalen Zahl machen kann, noch hinzufügen. Eine Körpererweiterung kann also ziemlich umfangreich und unübersichtlich geraten, vor allem, wenn man von der Zahl, die diese Erweiterung auslöst, nichts weiter weiß, als dass sie eben die Gleichung löst.

Zu den auslösenden Zahlen kann übrigens auch die Wurzel aus -1 gehören, die man allgemein mit i (wie imaginäre Einheit) bezeichnet, oder eine Zahl der Form a+ib, eine so genannte komplexe Zahl. Dass manche quadratischen Gleichungen keine Lösung haben, weil man aus einer negativen Zahl die Wurzel ziehen müsste, ist in den Augen der Algebraiker ein lästiges Nebenproblem, das sie sich durch Einführung komplexer Zahlen von Halse schaffen. Man pflegt die Menge der komplexen Zahlen durch eine Ebene zu veranschaulichen; die Zahl a+ib entspricht dem Punkt mit den Koordinaten (a, b).

Ein Mittel, Überblick über eine Körpererweiterung zu gewinnen, ist deren so genannte Galois-Gruppe. Der erweiterte Körper lässt sich in einem gewissen Sinne aus Teilen zusammensetzen, die dem Urkörper sehr ähnlich sehen, und jedes Element der Galois-Gruppe entspricht einem solchen Teil.

Soviel zum linken Ufer, der Galois-Theorie. Am rechten Ufer liegen die so genannten automorphen Formen. Es handelt sich um Verallgemeinerungen von periodischen Funktionen, deren bekannteste Vertreter die trigonometrischen Funktionen Sinus und Cosinus sind. Verschiebt man das Bild einer periodischen Funktion um eine feste Länge (zum Beispiel 2þ für Sinus und Cosinus), so kommt es wieder mit sich selbst zur Deckung. Bei einer automorphen Form dagegen ist die unabhängige Variable nicht eine reelle, sondern eine komplexe Zahl, und es ist nicht nur eine Verschiebung nach rechts oder links, die eine automorphe Form unverändert lässt. Vielmehr gibt es eine ganze Gruppe von Verzerrungen ("Transformationen") der komplexen Ebene, die man auf die unabhängige Variable anwenden kann, ohne dass das Bild der Funktion sich wesentlich ändert.

Gemeint ist – wie bei der oben erwähnten Galois-Gruppe – eine Gruppe im Sinne der Algebra; das ist eine Menge von Transformationen mit der Eigenschaft, dass man mehrere von ihnen hintereinander ausführen kann und das Ergebnis wieder eine Transformation ist, die zur Gruppe gehört. Zudem ist jede Transformation für sich umkehrbar.

Die Brücke zwischen den Ufern, die beide der Algebra angehören, besteht nun aus einem sehr unalgebraischen Material: unendlichen Reihen. Das sind Summen aus unendlich vielen Zahlen, die aber trotzdem einen endlichen Wert haben können. Damit das überhaupt möglich ist, müssen die unendlich vielen Summanden hinreichend schnell gegen null streben. Ob das der Fall ist, ob also "die Reihe konvergiert", ist für jede Reihe, mit der man etwas anfangen will, nachzuprüfen, wofür die Analysis ein ganzes Arsenal von Kriterien bereitstellt.

Vor allem lässt sich mit Reihen trefflich rechnen. Vielleicht kann man ihre Glieder, die ihrerseits aus – endlichen oder unendlichen – Summen bestehen, in anderer Reihenfolge addieren. Oder man bildet das Produkt zweier Reihen, was darauf hinausläuft, jedes Glied der ersten Reihe mit jedem der zweiten Reihe zu multiplizieren, und sortiert die vielen Einzelprodukte geeignet um. Manche Rechenoperationen mit Reihen wirken wie große Mischmaschinen, die Informationen über unendlich viele Dinge bis zur Unkenntlichkeit verrühren und dann wieder in unendlich viele Schubladen einsortieren. Wenn man es geschickt anstellt, braucht man am Ende nur die richtige Schublade aufzuziehen und hat genau die Information, die man sucht.

Vom rechten Ufer bis zu den Reihen ist es nicht allzu weit: Für periodische Funktionen ist die Beschreibung durch Reihen (die "Reihenentwicklung") geradezu Standard. Ein musikalischer Ton ist eine periodische Funktion der Zeit, und seine Zerlegung in Grundton und Obertöne ist die Beschreibung dieser Funktion durch die so genannte Fourier-Reihe. Im Prinzip sind es unendlich viele Obertöne, aber sie werden immer schwächer – und müssen das auch, sonst würde die Fourier-Reihe nicht konvergieren.

Automorphe Formen sind nun "noch periodischer" als die periodischen Funktionen; sie haben sogar verschiedene Reihenentwicklungen, die man ineinander umrechnen kann.

Der Weg vom linken Ufer zu den Reihenentwicklungen erfordert noch einen Zwischenschritt. Anstelle der Galois-Gruppe selbst verwendet man eine "Darstellung" der Gruppe; das ist eine andere Gruppe, deren Elemente sich genauso verhalten wie die der dargestellten Gruppe, aber besser beherrschbar sind, weil es sich – in diesem Fall – um Drehungen und Spiegelungen in einem vieldimensionalen, aber ansonsten ganz gewöhnlichen Raum handelt. Allerdings können beim Darstellen gewisse Feinheiten des Originals verloren gehen.

Jedenfalls gibt es zu diesen Darstellungen von Gruppen Reihenentwicklungen, die wesentliche Informationen über die Gruppe enthalten – in sehr verrührter Form, aber immerhin. Das führt dazu, dass man eine Frage über Körpererweiterungen beantworten kann, indem man die analytischen Eigenschaften einer geeigneten Reihe untersucht.

Sätze von Gauß in neuem Gewand

Aus der Sicht der Algebra ist das eine etwas exotische Vorgehensweise, aber sie hat berühmte Vorbilder in der Zahlentheorie. Die Riemann'sche Zetafunktion ist eine Reihe, deren Glieder, je nach Darstellung, zu jeweils einer natürlichen Zahl oder auch nur zu jeweils einer Primzahl in Beziehung stehen. Auf diese Weise verrührt sie Informationen über unendlich viele Primzahlen, die man aus den analytischen Eigenschaften der Reihe wohlsortiert entnehmen kann (siehe "Group Representations and Harmonic Analysis from Euler to Langlands" von Anthony W. Knapp, Notices of the AMS, Bd. 43, S. 410-415 und 537-549, 1996). Zentrale Ergebnisse der Zahlentheorie, die so genannten Reziprozitätssätze, die schon in den "Disquisitiones arithmeticae" von Carl Friedrich Gauß (1777-1855) eine Hauptrolle spie-len, wurden um 1927 von Emil Artin mit Hilfe von Reihenentwicklungen neu hergeleitet und vereinheitlicht; Artins L-Reihen sind die Vorläufer der Reihenentwicklungen, von denen hier die Rede ist.

Die Vermutung von Langlands besagt, dass die beiden Hälften der Brücke zusammenpassen: Jede L-Reihe einer Körpererweiterung ist auch Reihenentwicklung einer automorphen Funktion und umgekehrt. Lafforgue hat diese Vermutung für eine von drei verschiedenen Körperarten bewiesen, für die "Funktionenkörper". Für eine weitere Art, die "p-adischen Körper", haben Michael Harris von der Universität Paris VII und Richard Taylor von der Harvard-Universität, der schon Andrew Wiles die letzte Lücke in seinem Beweis stopfen half,1998 den Beweis erbracht. Offen ist die Frage nur noch für die alltäglichsten, aber offensichtlich schwierigsten Körper: die rationalen Zahlen und deren Erweiterungen. Aber nachdem nunmehr zwei Brücken über denselben (sehr langen) Fluss stehen, sind die Mathematiker zuversichtlich, dass ihnen die Konstruktion der dritten auch noch gelingen wird.


Die Fields-Medaille – Ein Nobelpreis für Mathematik


Feierlicher Höhepunkt des Internationalen Mathematiker-Kongresses, der alle vier Jahre mit durchschnittlich etwa 4000 Besuchern an einem anderen Ort der Welt stattfindet, ist die Verleihung der Fields-Medaille. Sie bringt dem Empfänger ungefähr so viel Ruhm ein wie ein Nobelpreis – wenn auch wesentlich weniger Geld. Jeweils ungefähr 10000 Euro aus den Erträgen einer Stiftung, die aus den Überschüssen des Mathematiker-Weltkongresses in Toronto 1924 errichtet wurde, gehen an bis zu vier herausragende Mathematiker. In diesem Jahr hat das Preiskomitee sein Kontingent nicht voll ausgenutzt und nur zwei Preise vergeben.

Im Gegensatz zum Nobelpreis wird diese Auszeichnung nicht für ein wissenschaftliches Lebenswerk verliehen, sondern ausdrücklich an junge Mathematiker – es gilt eine De-facto-Altersgrenze von vierzig Jahren –, als Ansporn zu weiterer Tätigkeit. Unter diesen Umständen liegt die Leistung des Preisträgers regelmäßig noch nicht lange zurück, und es ist zu früh für einen Vergleich mit Leistungen in anderen Teilgebieten. Um trotzdem eine Art Ausgewogenheit herzustellen, wird das Preisverleihungskomitee jedes Mal neu berufen, wobei möglichst alle Teilgebiete gleichmäßig berücksichtigt werden sollen.

So verwundert es nicht, dass die Forscher, denen in der Großen Halle des Volkes in Gegenwart des Staatspräsidenten Jiang Zemin die Fields-Medaille verliehen wurde, beide im Umkreis von Algebra und Zahlentheorie arbeiten: Außer Lafforgue traf die Ehre den gleichaltrigen Vladimir Voevodsky, der in Moskau studierte, seit 1990 im Wesentlichen in den USA arbeitet und seit diesem Jahr Professor am Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey) ist. Sein Werk, für das dem Kenner die Stichworte "motivische Kohomologie" und "algebraische K-Theorie" einen Hinweis geben könnten, soll in einem späteren Artikel gewürdigt werden.

Seit einigen Jahren wird außer den Fields-Medaillen, mit ähnlichem Vergabeverfahren, der Nevanlinna-Preis für theoretische Informatik verliehen. Diesjähriger Preisträger ist der in Madras (heute Chennai, Indien) geborene Madhu Sudan vom Massachusetts Institute of Technology für seine Beiträge zu probabilistisch überprüfbaren Beweisen, der Nicht-Approximierbarkeit von Optimierungsproblemen und fehlerkorrigierenden Codes.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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