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Ein Juravogel aus China?

Neu entdeckte Fossilien eines frühen Vogels in Nordost-China, der nur wenig später als Archaeopteryx gelebt haben dürfte, deuten darauf hin, daß sich die Vögel entweder im Frühstadium ihrer Entwicklung bereits sehr rasch über den Erdball ausbreiteten oder daß ihre Stammesgeschichte weiter zurückreicht, als bisher angenommen wurde.

Bis heute gilt Archaeopteryx, von dem 1860 in den Solnhofener Plattenkalken – zwischen 140 und 150 Millionen Jahre alten Ablagerungen aus der Oberjurazeit – eine fossile Feder und später insgesamt sieben Skelettreste gefunden wurden, allgemein als der älteste bekannte Vogel der Erdgeschichte. Diese Priorität konnten ihm auch angebliche Vogelfossilien aus weit älteren Schichten der Triaszeit – wie Protoavis aus Texas – nicht streitig machen, die bei kritischer Prüfung nicht sicher zuzuordnen sind (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1992, Seite 17).

Nun aber wurde aus der nordostchinesischen Provinz Liaoning über fossile Vogelreste berichtet, deren geologisches Alter dem von Archaeopteryx immerhin recht nahe zu kommen scheint. Sie stammen aus Seeablagerungen der Yixian-Formation, die vermutlich ebenfalls zum Oberjura gehört. In der gleichen Gegend hat man schon 1992 in der nächstjüngeren Jiufutang-Formation, die der Unterkreide (dem Valangin) zugeordnet wird, Vogelfossilien der Gattungen Sinornis und später Cathayornis entdeckt (Spektrum der Wissenschaft, August 1992, Seite 32).

Ebenso gibt es Meldungen über den Fossilfund eines Vogels aus angeblichen Juraschichten von Nordkorea. Heißt das, daß Archaeopteryx vielleicht doch nicht der einzige Juravogel war und die bisherigen Vorstellungen von der frühen Evolution der Vögel zu überdenken sind?

Das Fossilmaterial aus der Yixian-Formation, soweit es bisher wissenschaftlich beschrieben wurde, besteht aus den Skelettresten von drei Individuen, denen der Paläontologe Hou Lianhai vom Institut für Wirbeltierpaläontologie und Paläoanthropologie der chinesischen Akademie der Wissenschaften in Beijing und seine Mitarbeiter den Namen Confuciusornis sanctus verliehen haben ("Chinese Science Bulletin", Band 40, Heft 18, September 1995). Erhalten sind der etwa fünf Zentimeter lange Schädel, das Arm- und Hinterbeinskelett sowie das Becken. Am Unterschenkel finden sich Federeindrücke. Außerdem liegt eine Reihe isolierter Abdrücke von Vogelfedern vor, die derselben Art zugeordnet wurden. Die Wirbelsäule, der Schultergürtel und ein mögliches Brustbein fehlen hingegen.

In der Größe entspricht Confuciusornis dem kleinsten Individuum von Archaeopteryx, dem Eichstätter Exemplar. Der Schädel ist relativ kurz, im Profil dreieckig und hat große Augenöffnungen. Der vordere Abschnitt der offenbar zahnlosen Kiefer weist auf der Knochenoberfläche zahlreiche Grübchen und Poren auf, die auf eine ehemals vorhandene Rhamphotheca, einen hornigen Schnabel, hindeuten könnten. In diesem Falle wäre Confuciusornis der älteste schnabeltragende Vogel und in dieser Hinsicht weiter entwickelt als Archaeopteryx mit seinem klar ausgeprägten Gebiß. Der Schädel wurde jedoch bei der Fossilisation stark verformt, was die sichere Interpretation einzelner Merkmale erschwert.

Das übrige Skelett ist dagegen von eher primitivem Zuschnitt und durchaus auf dem Evolutionsniveau von Archaeopteryx anzusiedeln. Dies belegen das relativ robuste Flügelskelett und der Oberarmknochen mit seinem ungewöhnlich breiten oberen Ende. Die dreifingerige Hand trägt starke, gekrümmte Krallen, und die Mittelhandknochen sind nicht miteinander verwachsen. In der Handwurzel findet sich ein halbmondförmiges Carpale, das in dieser Ausbildung geradezu als Schlüsselmerkmal von coeluriden Dinosauriern (Theropoden) und primitiven Vögeln gewertet wird.

Auch das Beinskelett ist noch recht urtümlich und dem von Archaeopteryx sehr ähnlich. Es endet in einem dreizehigen Lauffuß. Die drei mittleren Mittelfußknochen sind nur am Oberende verwachsen, und der fünfte ist wie bei Archaeopteryx und vielen Theropoden zu einem Splint verkümmert. Die oberste Zehe weist nach hinten und trägt ebenso wie die drei nach vorne gerichteten kräftige, gekrümmte Krallen.

Auch das Becken hat wie bei Archaeopteryx den dreistrahligen Theropoden-Bauplan bewahrt. Das Schambein ist schräg nach hinten orientiert und soll an seinem unteren Ende nicht verwachsen sein. Da Wirbelsäule und Schultergürtel fehlen, läßt sich nur vermuten, daß der Wirbelschwanz noch nicht wie bei den Unterkreidevögeln zu einem Steißknochen (Pygostyl) verkürzt war. Auch ist ungewiß, ob das Tier über ein verknöchertes Brustbein verfügte. Der Oberarmknochen weist aber breite Ansatzflächen für eine kräftige Flugmuskulatur auf, die wohl an einem entsprechend großen Brustbein verankert war.

Leider läßt sich das Alter von Confuciusornis relativ zu dem von Archaeopteryx nicht genau angeben, weil die Datierung der mächtigen terrestrischen Oberjura-Unterkreide-Serien in China bisher umstritten ist. Sie können nur schwer mit marinen Schichten wie in Solnhofen korreliert werden, da sie wegen der unterschiedlichen Fauna im Meer und an Land andere Leitfossilien enthalten.

Die 1000 bis 3000 Meter mächtige Yixian-Formation besteht allerdings zum Teil aus vulkanischen Gesteinen, die radioaktive Isotopen für eine absolute Altersbestimmung enthalten; dabei ergibt die Kalium/Argon-Methode 137 ± 7 und die Rubidium/Strontium-Methode 142,5 ± 4 Millionen Jahre. Nun wird aber das Alter der Jura-Kreide-Grenze in den heute gebräuchlichen geologischen Zeittafeln einmal mit 135 und einmal mit 145 Millionen Jahren angegeben; demnach kann die Yixian-Formation aufgrund ihres absoluten Alters je nach Tabelle sowohl dem Oberjura als auch der Unterkreide zugeordnet werden. Andererseits beruht die Einstufung der Solnhofener Plattenkalke in den Oberjura – genauer ins untere Untertithon – auf marinen Leitfossilien (Ammoniten des Hybonoticeras hybonotum), und das absolute Alter dieser Formation beträgt je nach Tabelle 140 oder 150 Millionen Jahre.

Die Mischung aus fortschrittlichem Schädelbau und primitivem übrigem Skelett läßt aber darauf schließen, daß Confuciusornis im Entwicklungsstadium zwischen Archaeopteryx und Unterkreide-Vögeln wie Sinornis und Iberomesornis liegt. Er dürfte demnach im Grenzbereich zwischen Oberjura- und Unterkreidezeit gelebt haben.

Seine Entdeckung und die weiterer möglicher Juravögel in Nordkorea und China, die jedoch wissenschaftlich noch nicht näher beschrieben wurden, machen deutlich, daß bereits an der Wende von Oberjura zu Unterkreide gleichzeitig in Europa und Ostasien gefiederte flugfähige Lebewesen in verschiedenen Stammeslinien existierten. Dies deutet entweder auf eine weit zurückreichende Evolutionsgeschichte der Vögel oder auf eine sehr rasche adaptive Radiation während der späteren Jurazeit hin. Ob ihre stammesgeschichtlichen Anfänge allerdings in der Triaszeit liegen, ist noch offen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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