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Nobelpreis für Physik: Ein makroskopisches Objekt aus der Quantenwelt

Ein millimetergroßes Gaswölkchen, in dem alle Atome einen einzigen Quantenzustand bilden - für die Herstellung eines solchen "Bose-Einstein-Kondensats" im Labor erhielten zwei Amerikaner und ein Deutscher nun den Nobelpreis.


Am Anfang war die Theorie – und erst siebzig Jahre später folgte die Realisierung durch das Experiment. Im Jahr 1924 sandte der junge indische Physiker Satyendra Nath Bose dem weltberühmten Albert Einstein einen Brief mit mathematischen Berechnungen. Darin leitete er die von Max Planck im Jahre 1900 gefundene Strahlungsformel – gewissermaßen die Geburtsurkunde der Quantenphysik – auf originelle Art her, nämlich mit den Mitteln der statistischen Wärmelehre: Die Lichtquanten wurden als Gas aus identischen Teilchen behandelt. Einstein sorgte für eine Veröffentlichung und verallgemeinerte in einer Folgepublikation Boses Ansatz für Materieteilchen, die – anders als Strahlungsquanten – nicht so ohne weiteres emittiert und absorbiert werden können.

Einstein fragte sich, was aus einer gegebenen Menge ununterscheidbarer Partikel bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt wird. Antwort: Sie sind alle bestrebt, das tiefstmögliche unter den quantisierten Energieniveaus zu besetzen, finden sich am Ende also samt und sonders in einem einzigen Quantenzustand zusammen. Diese so genannte Bose-Einstein-Kondensation war jahrzehntelang ein rein theoretisches, niemals in Reinkultur beobachtetes Phänomen. Wohlgemerkt resultiert sie nicht etwa aus einer Anziehung zwischen den Teilchen; es ist dabei überhaupt keine klassische Kraft im Spiel – weder eine Fernwirkung wie die Gravitation noch ein Feld wie der Elektromagnetismus. Es handelt sich um ein reines Quantenphänomen.

Wenig später erkannten andere Theoretiker, dass solche Effekte von einer charakteristischen Quantengröße abhängen, dem Teilchenspin. Ist er ganzzahlig, so spricht man von Bosonen; zu ihnen gehören etwa die Lichtquanten, da sie Spin eins haben. Solche Teilchen können sich in beliebigen Mengen im selben Zustand zusammendrängen. Hingegen gehorchen Partikel mit halbzahligem Spin – Protonen, Elektronen und andere Materiebausteine – einer völlig anderen "Quantenstatistik". Diese Fermionen – nach dem italienischen Physiker Enrico Fermi – meiden einander; wie Wolfgang Pauli einst erkannte, ist es ihnen sogar regelrecht verboten, exakt den selben Quantenzustand einzunehmen.

Wie wir heute wissen, wirkt diese Zweiteilung als fundamentales Ordnungsprinzip: Die Fermi-Statistik garantiert, dass die Elektronen im Atom unterschiedliche Energieniveaus besetzen, und bewirkt so letztlich die Stabilität und Vielfalt der chemischen Elemente. Die Bose-Statistik hingegen ermöglicht den unerschöpflichen Reichtum gleichartiger Kraftquanten; zum Beispiel vermitteln Lichtquanten die elektromagnetische Wechselwirkung.

Erst als Physiker im Labor dem absoluten Nullpunkt durch extreme Kühlung immer näher kamen, wagten sie daran zu denken, ein Bose-Einstein-Kondensat experimentell zu erzeugen. Dafür musste ein verdünntes Gas von Bose-Teilchen – Atomen mit ganzzahligem Gesamtspin – auf weniger als ein millionstel Kelvin gekühlt werden – millionenfach kälter noch als der eisigste Winkel des interstellaren Weltraums. In ihrem Artikel über die Bose-Einstein-Kondensation für Spektrum der Wissenschaft (5/98, S. 44) haben die diesjährigen Nobelpreisträger Eric A. Cornell, Jahrgang 1961, und Carl E. Wieman, Jahrgang 1951, diese unglaubliche Leistung durch ein 4000 Kilometer langes Thermometer veranschaulicht, das die gesamte Breite des nordamerikanischen Kontinents von Los Angeles bis New York überspannt. Würde die gigantische Quecksilbersäule bei Los Angeles Zimmertemperatur von rund 300 Kelvin anzeigen, so träte die Bose-Einstein-Kondensation erst bei Bruchteilen eines Millimeters westlich des absoluten Nullpunktes im Zentrum von New York ein.

Das Kunststück gelang durch eine geschickte Kombination von Laserkühlung, Magnetfalle und Verdunstungskühlung: Zunächst bremste man die Atome mit gekreuzten Laserstrahlen fast bis zum Stillstand ab, dann übernahmen Magnetfallen die Wärmeisolation, bevor durch Verdunstung – Freilassen der schnellsten und somit "wärmsten" Atome – die Temperatur der verbliebenen Gasteilchen noch weiter abgesenkt wurde.

Aussichtsreichster Kandidat schien zunächst atomarer Wasserstoff zu sein, dessen zwei Fermiteilchen Proton und Elektron – je Spin +1/2 – zusammen ein Bose-Teilchen mit Spin 0 oder 1 bilden. Seit Ende der siebziger Jahre versuchten Daniel Kleppner am Massachusetts Institute of Technology (MIT) sowie eine holländische Gruppe in Amsterdam, Wasserstoff-Kondensate zu bilden. Zwar blieben diese Versuche lange Zeit erfolglos, doch wurde dabei die Methode der Kühlung immer mehr perfektioniert.

Schließlich beschloss Wieman am JILA (dem früheren Joint Institute of Laboratory Astrophysics) in Boulder (Colorado), statt Wasserstoff Rubidium-87 zu verwenden, ein Alkaliatom mit bosonischem Verhalten. Sein Kollege Cornell – wie Wieman ein Schüler von Kleppner – entwickelte ein rotierendes Magnetfeld für die Magnetfalle; damit lässt sich verhindern, dass die Atome aus dem Zentrum der Falle diffundieren, wo das Feld verschwindet. Im Juni 1995 waren diese Versuche erstmals von Erfolg gekrönt: Rund hunderttausend Atome bildeten sekundenlang ein Bose-Einstein-Kondensat – ein Quantenobjekt mit den vergleichsweise gigantischen Ausmaßen von einem zehntel Millimeter.

Ein Laser aus Atomen

Der 1957 in Heidelberg geborene und 1986 am Garchinger Max-Planck-Institut für Quantenoptik promovierte Wolfgang Ketterle arbeitete am MIT mit einem anderen Alkaliatom: Natrium-23. Statt eine rotierende Falle zu verwenden, verstopfte er das "Loch im Magnetfeld" mit einem Laserstrahl. In einem dramatischen Wettlauf mit Wiemans Gruppe in Boulder war er nur wenige Monate später ebenfalls erfolgreich und brachte es schließlich sogar auf Kondensate aus zehn Millionen Atomen.

Da die Atomwolke einen kollektiven Zustand einnimmt, ist sie "kohärent" wie die Photonen in einem Laser: Sie besteht gemäß dem Welle-Teilchen-Dualismus aus Materiewellen, die gewissermaßen im Gleichtakt schwingen. Dies hat Ketterle nachgewiesen, indem er ein Kondensat in zwei Teile spaltete, die sich dann wieder vereinigten und dabei die für Kohärenz charakteristischen Interferenzstreifen erkennen ließen.

In einem ähnlichen Versuch bohrte Theodor W. Hänsch – einer der "Väter" der Laserkühlung – an der Universität München mit Strahlen im Radiofrequenzbereich an zwei benachbarten Stellen sozusagen Löcher in die Falle, in der die Teilchen gefangen waren, und ließ Atomstrahlen entweichen. Sie zeigten gleichfalls deutliche Interferenz (Spektrum der Wissenschaft 7/2000, S. 23). In gewissem Sinne kann man das Kondensat daher als "Atom-Laser" bezeichnen.

Ein weiterer typischer Quanteneffekt, der die Kohärenz der tiefgekühlten Atome demonstriert, ist das Auftreten von Quantenwirbeln, die aus dem Studium von superfluidem Helium bekannt sind. Solche diskreten "Strudel" mit quantisiertem Drehimpuls haben sowohl Cornell und Wieman als auch Ketterle unterdessen in ihren Kondensaten erzeugt und nachgewiesen.

Derzeit erforschen mehr als zwanzig Gruppen kohärente Wolken aus Alkaliatomen. Aber auch mit Heliumatomen konnten die kollektiven Quantenzustände kürzlich von zwei Gruppen in Frankreich erzeugt werden. Dabei ermöglicht die wachsende Kunstfertigkeit im Umgang mit den Kondensaten nicht nur verblüffende Demonstrationen von Quanteneffekten. Auch technische Anwendungen zeichnen sich ab, etwa für hochpräzise Messungen, Quantencomputer oder die Lithographie miniaturisierter Schaltkreise mit kohärenten Atomstrahlen.

Auch die Experimente mit extrem verlangsamtem Licht, das in ultrakaltem und optisch modifiziertem Gas praktisch zum Stillstand gebracht werden kann (Spektrum der Wissenschaft 9/2001, S. 38), beruhen auf der Kühl- und Lasertechnik, die für die Bose-Einstein-Kondensation zur Perfektion entwickelt wurde. Und schließlich hat der exotische Quantenzustand vielleicht sogar Auswirkungen auf unser Bild vom Universum im Großen und Ganzen: Kürzlich spekulierte Wayne Hu von der Universität Princeton, dass die rätselhafte dunkle Materie, die rund neunzig Prozent der Masse im All ausmacht, als Bose-Einstein-Kondensat aus hypothetischen Teilchen sehr geringer Masse existieren könnte.

In den letzten Wochen ist es einem Team um Jakob Reichel und Hänsch zudem gelungen, mit einem zentimetergroßen Mikrochip ein Quantenkondensat in weniger als einer Sekunde zu erzeugen – die Nobelpreisträger hatten dafür immerhin fast eine Minute gebraucht. Das kohärente Gaswölkchen schwebt dabei nur wenige zehntausendstel Millimeter über der Chip-Oberfläche, auf der die Leiterbahnen die Felder einer winzigen Magnetfalle erzeugen. Die Forscher sind sogar in der Lage, das Gebilde mit einem "magnetischen Fließband" auf dem Chip zu verschieben. Die Fähigkeit, kohärente Quantenobjekte über längere Zeit zu konservieren und zu manipulieren, ist eine Voraussetzung für hypothetische Quantencomputer ("Nature", Bd. 413, S. 498).

Das Faszinierendste an der Bose-Einstein-Kondensation aber ist und bleibt, dass sie uns die sonst so paradox wirkende, extrem unanschauliche Welt der Quantenphysik wie unter dem Vergrößerungsglas vor Augen führt. Plastisch veranschaulicht sie ein Objekt, das lange nur mathematisch-abstrakt fassbar schien. Andererseits zeigt die enorme experimentelle Raffinesse, die dazu nötig ist, doch wieder, wie weit man dafür gehen muss – weit weg von unseren Alltagsbedingungen: Nicht einmal die Schwärze des Alls ist so kalt wie die experimentell fabrizierten Quantenkondensate.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2001, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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