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Geometrie: Ein Mittel gegen nachbarliche Neugier

Wer den Durchblick durch sein Grundstück wirksam und preiswert verhindern will, gerät an ein bislang ungelöstes Problem der Geometrie.


Die kombinatorische Geometrie bietet eine Fülle leicht zu erklärender, gleichwohl noch ungelöster Probleme folgenden Typs: Finde eine Anordnung von Geraden, Kurven oder anderen geometrischen Objekten, die eine bestimmte Anforderung auf die sparsamste Weise erfüllen. So zum Beispiel das Problem vom blickdichten Quadrat (opaque square problem), das ich – mitsamt den hier vorgestellten Lösungen – Bernd Kawohl verdanke, einem Mathematikprofessor an der Universität zu Köln.

Stellen Sie sich den Besitzer eines quadratischen Grundstücks vor, der ein etwas merkwürdiges Ziel verfolgt: Er selbst ist nicht unbedingt unkommunikativ, aber er möchte unter allen Umständen verhindern, dass zwei seiner Nachbarn über sein Grundstück hinweg miteinander Blickkontakt aufnehmen. Also stellt er einen Sichtschutzzaun auf sein Gelände, und es macht ihm überhaupt nichts aus, dadurch seine eigene Bewegungsfreiheit einzuschränken. Aber geizig ist er, wie bei solchen Problemen üblich. Gesucht ist also nach dem kürzesten Zaun, der das Quadrat blickdicht macht. Er darf beliebig kompliziert sein, krummlinig oder verzweigt, und auch aus mehreren getrennten Teilstücken bestehen.

Die nahe liegendste Lösung besteht darin, das ganze Gelände rundum einzuzäunen (a). Sie ist allerdings sehr aufwendig: Vier Kilometer Zaun sind erforderlich, wenn das Quadrat eine Seitenlänge von einem Kilometer hat. Schon nach kurzem Nachdenken stellt sich heraus, dass man eine der vier Zaunseiten schadlos weglassen kann, was die Gesamtlänge immerhin auf drei Kilometer vermindert (b). Das ist bereits der kürzestmögliche Zaun, wenn wir darauf bestehen, dass er aus einem einzigen, unverzweigten Stück besteht. Warum? Weil in jeder Ecke des Quadrats ein Stück Zaun enden muss, sonst könnten die Nachbarn doch über einen kleinen Zipfel des Grundstücks hinwegschauen. Und die kürzeste – gerade oder gekrümmte – Linie, die alle vier Ecken enthält, ist der Dreiseitenzaun.

Sowie der Zaun allerdings mehr als eine Kurve enthalten darf, kann man an der Länge noch sparen. Der Zaun in Bild c ist 1+3 (ungefähr 2,732) Kilometer lang. Es handelt sich um einen so genannten Steinerbaum: das kürzeste Verbindungsnetz zwischen den vier Eckpunkten (Spektrum der Wissenschaft 4/1995, S. 10). Alle seine Teile treffen sich unter Winkeln von 120 Grad, sonst wäre der Baum nicht minimal; denn einen Baum mit anderen Winkeln könnte man so deformieren, dass er insgesamt kürzer wird.

Einen kürzeren Zaun als den Steinerbaum gibt es nicht, wenn der Zaun zusammenhängend sein soll. Wenn er allerdings aus mehreren Stücken bestehen darf, kommt man mit 2,639 Kilometern Gesamtlänge aus (d). Die drei Strecken in der oberen Bildhälfte treffen sich wieder unter 120 Grad. Allgemein glaubt man, dass dies der kürzeste blickdichte Zaun für ein Quadrat ist – aber bewiesen hat das noch niemand.

Es ist noch nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen kürzesten blickdichten Zaun gibt. Vielleicht ist es ja möglich, den Zaun immer weiter zu verkürzen, indem man ihn immer komplizierter macht. Man kann zwar beweisen, dass es einen Zaun minimaler Länge geben muss, wenn die Anzahl seiner Teilstücke vorgeschrieben ist; dazu muss man diesen Zaun nicht unbedingt konstruieren können. Aber es ist nicht bekannt, ob die Länge dieses minimalen Zaunes mit zunehmender Stückzahl immer weiter abnimmt oder ob gar ein Zaun aus unendlich vielen Komponenten jeden endlichteiligen unterbieten würde. Diese Möglichkeiten scheinen zwar sehr unwahrscheinlich, sind aber bislang nicht ausgeschlossen worden.

Das optimale Durchblickhindernis

Unter der Bedingung, dass es höchstens zwei Teilstücke sein dürfen, hat Kawohl einen sehr schönen Beweis für die Optimalität der Lösung d gegeben. Er zeigt zunächst, dass eine Komponente drei Ecken des Quadrats enthalten muss und die andere die vierte. Wenn nämlich die beiden Teilzäune die Ecken gerecht unter sich aufteilen würden – einer die linken, der andere die rechten –, dann müssten beide irgendwie so in die Mitte ragen, dass auch dort der Blick versperrt wird. Wie man mit einigen weiteren Argumenten zeigen kann, würde dadurch die Gesamtlänge größer, als wenn man einen Punkt in der Mitte mit allen vier Ecken verbinden würde, und damit sicher nicht mehr optimal. Zweitens muss die Komponente, die für die drei Ecken verantwortlich ist, der Steinerbaum zu diesen drei Punkten sein. Die konvexe Hülle dieses Gebildes – das heißt die kleinste konvexe Figur, in der es enthalten ist – ist das Dreieck aus den drei Eckpunkten, sprich von dem diagonal zerschnittenen Quadrat die linke obere Hälfte. Die zweite Komponente des Zauns ist dann die kürzeste Linie, welche die vierte Quadratecke mit diesem Dreieck verbindet: das Stück Diagonale von der Ecke bis zum Mittelpunkt des Quadrats.

Was weiß man über anders geformte Grundstücke? Für ein gleichseitiges Dreieck ist der kürzeste blickdichte Zaun der Steinerbaum zu den drei Ecken (e). Für das regelmäßige Fünfeck ist die beste bekannte Lösung dreiteilig ( f ): ein Steinerbaum für ein Dreieck aus drei benachbarten Ecken des Fünfecks, ein Stück Zaun, das die vierte Ecke an das Dreieck anbindet, und ein entsprechendes Stück für die fünfte Ecke.

Das regelmäßige Sechseck (g) hat von sich aus schon Winkel von 120 Grad, deswegen besteht der Steinerbaum für vier benachbarte Ecken aus den drei dazwischen liegenden Seiten. Die beiden restlichen Eckpunkte werden wie beim Fünfeck angeschlossen: Ein Zaunstück führt von der jeweiligen Ecke auf kürzestem Wege zu der konvexen Hülle des bis dahin konstruierten Zauns. Sowohl für das Fünfeck wie für das Sechseck scheint diese Konstruktion optimal zu sein.

Vieleckszäune

Das Verfahren ist verallgemeinerbar auf Vielecke mit beliebig großer, gerader Seitenzahl: Man ziehe eine Gerade durch zwei gegenüberliegende Ecken und ziehe zunächst einen Zaun entlang sämtlicher Seiten, die links von diesem Durchmesser liegen (h). Die konvexe Hülle dieser ersten Zaunkomponente ist die linke Hälfte des Vielecks. Von der nächsten freien Ecke fälle man das Lot in Form eines Zaunstücks auf die konvexe Hülle, wodurch sich Letztere wieder etwas vergrößert, verfahre mit der nächsten Ecke ebenso, und so weiter.

Bei sehr großer Seitenzahl nähert sich das Vieleck allmählich einem Kreis. Welches ist der kürzeste Zaun, der einen Kreis blickdicht macht? Das Problem ist deutlich schwerer als bei eckigen Grundstücken, denn es gilt selbst jenen Nachbarn, die nur ein ganz kurzes Stück am Rand des Kreises über das Grundstück hinwegpeilen, den Spaß zu verderben. Muss man deswegen den ganzen Kreis einzäunen, mit stolzen 2 = 6,28 Kilometer Zaunlänge, wenn der Kreis den Radius 1 Kilometer hat?

Es geht besser, wenn der Zaun außerhalb des Kreises liegen darf. Man setze wie beim vielseitigen Vieleck einen Zaun auf die Hälfte des Umfangs und verlängere ihn beiderseits in Richtung der Tangente um jeweils einen Kilometer (i). Der so entstehende U-förmige Zaun macht den Kreis blickdicht und hat eine Länge von +2 = 5,142 Kilometer. Und wenn man darauf besteht, dass er aus einem Stück und unverzweigt ist, geht es nicht kürzer; so viel ist beweisbar.

Nun werden die missgünstigen Nachbarn unseren Eigenbrötler wohl kaum einen Zaun auf ihre Grundstücke setzen lassen. Aber in einer anderen Einkleidung macht das Problem mehr Sinn. Unter der Erde liegt ein geradliniges Rohr, von dem man nur weiß, dass es in höchstens einem Kilometer Entfernung von einem bestimmten Punkt verläuft. Das Rohr trifft also einen Kreis mit einem Kilometer Radius um diesen Punkt. Also sucht man einen möglichst kurzen Graben, der jede Gerade trifft, die durch den Kreis verläuft; aber der Graben muss nicht unbedingt auf den Kreis beschränkt sein. Das ist die Geschichte vom großen Raub im Abwasserkanal (Spektrum der Wissenschaft 2/1996, S. 10). Und was dem einen sein Graben, das ist dem anderen sein Zaun.

Und wenn es nun doch ein Zaun sein soll, der gänzlich auf dem kreisförmigen Grundstück steht? Dann kommt man trotzdem mit einer Gesamtlänge von +2 Kilometern aus. Kawohl hat das bewiesen, indem er die Gesamtlänge des Zauns für das Vieleck h im Grenzwert unendlich vieler Ecken berechnete. Das Ergebnis ist +2.

Aber wie kann man sich den "Grenzwert"-Zaun vorstellen? Nur mühsam. Die Westhälfte ist einfach ein Halbkreiszaun. Aber die Osthälfte! Sie besteht aus unendlich vielen Komponenten, die jede mit der rechten Seite – von innen aus gesehen – auf dem Kreisumfang stehen und mit der linken Seite in den Kreis hineinragen, aber nur ein unendlich kurzes Stück, denn sie sind unendlich schmal. Der Kreisumfang ist dicht mit rechten Zaunpfosten besetzt: Jeder Versuch eines Durchblicks findet in beliebig kleiner Entfernung ein Hindernis.

Auf diese Weise deckt ein unendlich fragmentierter Zaun der Gesamtlänge 2 einen Halbkreis der Länge zu. Das kann doch irgendwie nicht stimmen? Doch. Man kann ein Fenster mit einer Jalousie, die nur die halbe Fensterbreite hat, versperren, indem man sie halbiert, die eine Hälfte in die linke Hälfte der linken Fensterhälfte hängt und die andere Hälfte in die linke Hälfte der rechten Fensterhälfte. Mit beiden Fensterhälften verfährt man dann genauso, mit den dadurch entstehenden Fenstervierteln ebenfalls, und so weiter. Was wie Hokuspokus aussieht, lässt sich mit einem theoretischen Werkzeug namens Hausdorff-Topologie sauber formlieren und beweisen.

Was gilt für andere Grundstücksformen wie unregelmäßige Vielecke (konvex oder nicht), Ellipsen und Halbkreise? Wie steht es um dasselbe Problem in drei Dimensionen? Welche Flächen muss man – möglichst sparsam – in einen hohlen Würfel oder eine solche Kugel einfügen, damit kein Licht ihr Inneres durchdringt? Hier gibt es noch viel zu tun.

Literaturhinweise


Some Nonconvex Shape Optimization Problems. Von Bernd Kawohl in: Optimal Shape Design. Von Arigo Cellina und Antonio Ornelas (Hg.). Springer Lecture Notes in Mathematics, Band 1740. Springer, Heidelberg 2000; S. 76. Download unter: www.mi.uni-koeln.de/.../springercime.ps

From Mumford-Shah to Perona-Malik in Image Processing. Von Bernd Kawohl. Erscheint in: Mathematical Methods in the Applied Sciences. Download unter: www.mi.uni-koeln.de/.../KawMStoPM.pdf

Symmetry or Not? Von Bernd Kawohl in: The Mathematical Intelligencer, Bd. 20, Heft 2, 1998, S. 16.

The Opaque Cube Problem. Von Kenneth A. Brakke in: American Mathematical Monthly, Bd. 99, Heft 9, 1992, S. 866. Download unter: www.susqu.edu/.../opaque.ps

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2003, Seite 102
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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