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Ein Modell für den Einfluß der Schwerkraft auf biologische Vorgänge in einzelnen Zellen

Theoretischen Berechnungen und Experimenten zufolge kann die Schwerkraft den Stofftransport durch Membranen ändern und so Vorgänge innerhalb lebender Zellen beeinflussen.


Viele Wirkungen der Schwerkraft auf Lebewesen wurden erst erkannt, nachdem Astronauten bei Raumflügen für längere Zeit der Schwerelosigkeit ausgesetzt waren. Einige biologische Effekte der Mikrogravitation sind physikalisch gut erklärbar und unmittelbar einleuchtend; dazu gehören die Entlastung von Muskeln und Skelett, die den Körper gewöhnlich aufrecht halten, die Flüssigkeitsumverteilung in elastischen Gefäßen – insbesondere Arterien und Venen – durch Fortfall des hydrostatischen Drucks oder der Ausfall des Gleichgewichtssinns, der mit seinem Statolithensystem die räumliche Orientierung ermöglicht (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1987, Seite 48). Andere Wirkungen wie die Schwächung der Immunabwehr und die Demineralisierung von Knochen können dagegen noch nicht erklärt werden. Ob sie Sekundärfolgen der unmittelbaren physikalischen Reaktionen sind, oder ob der Körper die Schwerkraft noch auf andere Arten wahrnehmen und darauf reagieren kann, ist nicht bekannt.

Einflüsse der Gravitation auf zellulärer Ebene waren lange Zeit ignoriert oder für unmöglich erklärt worden, weil zelluläre Systeme dafür angeblich viel zu klein und die Dichteunterschiede zu gering seien. Inzwischen weiß man jedoch, daß sich auch einzelne Zellen in der Schwerelosigkeit ungewöhnlich verhalten können. Zum Beispiel ändern sich bei Einzellern wie den Pantoffeltierchen (Gattung Paramecium) und den Augentierchen (Geißelalgen der Gattung Euglena) Stoffwechsel und Orientierungsverhalten sowie bei Schleimpilzen der Gattung Physarum die Kontraktionsrhythmik; bei Lymphocyten – Zellen des Immunsystems höherer Tiere – wird die Aktivierung beeinträchtigt. Auch diese Reaktionen sind noch nicht verständlich. Ein kürzlich von uns entwickeltes Modell liefert jedoch einen ersten Anhaltspunkt für einen möglichen Wirkmechanismus.

Das Membran-Elektrolyt-System


Da die Gravitation bei der Masse ansetzt, ist ihre primäre Wirkung zwangsläufig mechanischer Art: Sie verschiebt Massen oder erzeugt Druck- beziehungsweise Spannungsunterschiede. Weil aber biologische Systeme eine ziemlich einheitliche Dichte haben, können solche Wirkungen bei ihnen nur sehr schwach sein. Es muß demnach Strukturen geben, die solche schwachen mechanischen Reaktionen umsetzen und so verstärken, daß beobachtbare Veränderungen in der Funktion oder der Morphologie auftreten. Auf der Suche nach derartigen Strukturen analysierten wir – zunächst theoretisch – das Membran-Elektrolyt-System.

Biologische Membranen bestehen aus einer Doppelschicht regelmäßig angeordneter Lipidmoleküle, deren polare hydrophile (wasserliebende) Kopfgruppen nach außen und hydrophobe (wassermeidende) Kohlenwasserstoffketten nach innen gerichtet sind. An oder in dieser Doppelschicht sitzen spezielle Protein-, Glykoprotein- und Glykolipidmoleküle, die lebenswichtige Membranprozesse wie den selektiven Transport von Stoffen, chemische Oberflächenreaktionen oder die Zell-Zell-Erkennung vermitteln.

Die Flüssigkeiten beiderseits der Zellmembran enthalten gelöste Stoffe, die zum Teil in Ionen zerfallen sind. In solchen wäßrigen Elektrolytlösungen dissoziieren die polaren Kopfgruppen der Phospholipide je nach dem pH-Wert (Säuregrad) in unterschiedlicher Weise, wodurch die Membranoberfläche positiv oder negativ aufgeladen wird. Durch elektrostatische Wechselwirkung zwischen dieser Oberflächenladung und den freien Ionen in der Lösung entsteht eine Grenzschicht, die in Zusammensetzung, Ionenkonzentration und elektrochemischem Potential erheblich von der ungestörten Lösung in großem Abstand von der Membran abweicht.

Seit Beginn dieses Jahrhunderts wurden für eine Vielfalt von Membran-Elektrolyt-Systemen die Parameter solcher Grenzschichten berechnet. Die für die Gravitationsbiologie wichtige Frage, ob sich außer der Zusammensetzung auch die Dichte der Grenzschicht verändert, haben wir allerdings zum erstenmal untersucht. Unsere Berechnungen für eine einfache Modellmembran ergaben, daß unter physiologischen Bedingungen bis zu sechs Nanometer (millionstel Millimeter) dicke Grenzschichten entstehen, die eine um bis zu 0,04 Gramm pro Kubikzentimeter erhöhte Dichte haben. In realen Systemen ist experimentellen Hinweisen zufolge sowohl die Dichte als auch die Dicke der Grenzschicht noch wesentlich größer.

Theoretische Überlegungen


Makroskopische Flüssigkeitsgrenzschichten unterschiedlicher Dichte reagieren sehr empfindlich auf die Schwerkraft. wobei hydrodynamische Instabilitäten auftreten können. Ob dies auch für zelluläre Systeme gilt, kann theoretisch nicht mehr abgeleitet werden. Erstens ist fraglich, ob in so kleinen Dimensionen die Hydrodynamik noch anwendbar ist, und zweitens läßt sich die für das Auftreten von Instabilitäten wichtige Viskosität nur schwierig (wenn überhaupt) definieren. Im Prinzip sind jedoch je nach Orientierung der Membran zwei Effekte denkbar:

– An einer vertikalen Membran, an der die Schwerkraft parallel zur Oberfläche wirkt, könnte eine Konvektion entlang der Oberfläche oder zumindest ein ihr vorausgehender Spannungszustand auftreten; beides sollte den Transport von Komponenten aus der Lösung zur Membranoberfläche beeinflussen. Weil die Konvektionsströmung senkrecht zum elektrischen Feld verliefe, wäre keine Arbeit gegen dieses aufzuwenden.

– An einer horizontalen Membran, an der die Schwerkraft senkrecht zur Oberfläche wirkt, könnten sich die Grenzschichten dagegen unter ihrem eigenen Gewicht verformen, wobei die obere gestaucht und die untere gedehnt würde. Durch die Deformation der Grenzschichten würden die Oberflächenpotentiale geändert: Das der oberen Membrangrenzfläche nähme durch die Stauchung ab, das der unteren durch die Dehnung zu. Dadurch entstünde über die Membran hinweg eine schwerkraftabhängige Potentialdifferenz; schon eine Gesamtdeformation von 0,1 Nanometern würde genügen, eine Spannung von etwa 90 Millivolt zu erzeugen. Weil viele Transportvorgänge vom Potentialgefälle über der Membran abhängen, dürfte dies die Transportraten wesentlich beeinflussen.

Bei einer membranumhüllten Zelle treten beide Fälle ein: An den Seiten herrschen geeignete Bedingungen für eine Konvektionsströmung, die den Transport zur Membranoberfläche unterstützt (Zufluß von oben, Abfluß nach unten); zugleich können oben und unten die Grenzschichten deformiert werden, so daß die Zelle in vertikaler Richtung elektrisch polarisiert wird – ein Effekt, der vermutlich die Voraussetzung für die orientierte Zellteilung schafft.

Experimentelle Bestätigung


Diese Vorhersagen überprüften wir an einer künstlichen Doppelschichtmembran aus Phosphatidylserin, in die Gramicidinkanäle eingebaut waren; solche Kanäle lassen ausschließlich bestimmte positiv geladene Ionen passieren. Tatsächlich maßen wir unter sonst identischen Bedingungen in horizontalen Membranen einen fast doppelt so hohen Einzelkanalstrom von Kalium-Ionen ( 1,61 ± 0,21 Pikoampere) wie in vertikalen (0,94 ± 0,1 Pikoampere).

Dieses Ergebnis läßt sich gut mit dem vorgestellten Modell erklären: Entweder hemmt die Konvektion entlang der Oberfläche den Kanalstrom in der vertikalen Membran, oder die Änderung des Membranpotentials erhöht ihn in der horizontalen. Letzteres konnte für unsere Testmembran ausgeschlossen werden, weil sich bei Umkehrung der angelegten Spannung die Stromamplitude nicht änderte. Doch läßt sich dieser Befund sicherlich nicht für alle Transportprozesse verallgemeinern .

Das Ergebnis zeigt, daß die Schwerkraft schon verhältnismäßig einfache Membrantransportsysteme über Wechselwirkungen mit der Membran-Elektrolyt-Grenzschicht zu beeinflussen vermag. Berücksichtigt man die Vielfalt im Aufbau und in der Funktion von Membranen in biologischen Systemen, so ist eine Fülle von Folgereaktionen zu erwarten. Ob daraus am Ende ein beobachtbarer Effekt in Morphologie, Funktion oder Verhalten resultiert, hängt von der Regelcharakteristik des jeweiligen Systems ab.

Als nächstes wollen wir nun herausfinden, ob auch andere Membrantransportprozesse schwerkraftabhängig sind. Deshalb untersuchen wir gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität Stuttgart-Hohenheim komplexere Transportsysteme, bei denen wir den Strom von zweifach positiv geladenen Calcium-lonen messen. Die entsprechenden Experimente führen wir an künstlichen Membranen durch, die außer Gramicidinkanälen auch Ganglioside enthalten; diese mit Zuckerketten bestückten Fettmoleküle (Glykolipide) finden sich besonders angereichert in Nervenzellmembranen an den Nervenendigungen (Synapsen) von Säugetieren und haben große Bedeutung bei der Erregungsübertragung zwischen Nervenzellen (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1986, Seite 90). Untersuchungen der Hohenheimer Gruppe zufolge gruppieren sich diese Moleküle um Kanalproteine und modulieren die Kanalströme.

Um zu untersuchen, inwiefern sich der Membrantransport in der Schwerelosigkeit tatsächlich von dem auf der Erde unterscheidet, haben wir Experimente mit isolierten Transportsystemen für einen MIKROBA-Flug vorgeschlagen; bei solchen Missionen wird die Experimentkapsel mit einem Ballon langsam auf etwa 43 Kilometer Höhe getragen und dann ausgeklinkt, so daß sie rund eine Minute frei fällt, bevor sie, von einem Fallschirm abgebremst, sanft landet. Über den im März 1991 gestellten Antrag wurde noch nicht entschieden; ein Zwischengutachten ist jedoch positiv ausgefallen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1993, Seite 17
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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