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Ein neues Konzept für Wissenschaftsinformation

Das am 14. August von der Bundesregierung beschlossene Programm „Information als Rohstoff für Innovation“ soll in Wissenschaft, Staat und Industrie die Weichen für das Multimedia-Zeitalter stellen. Gegenüber den 1974 begonnenen Fachinformationsprogrammen verfolgt es ein „neues Konzept“: Die Aufgaben sollen künftig in wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Selbstverwaltung gelöst werden, der Staat zieht sich mit seinem finanziellen Engagement kontinuierlich zurück.

"Schnell und umfassend", "schnell und effektiv", "schnell und nutzerorientiert" sollen sie sein: die Verfügbarkeit aktueller Informationen und der Transfer von Forschungsergebnissen in die Anwendung. Der Drang zur Eile und der Massenmarkt, insbesondere geschäftliche Kommunikation, Wirtschaftsinformation und Medien, bestimmen die künftige Entwicklung der Informationsgesellschaft. Die Regierung sieht sich allerdings nach wie vor zuständig für bessere Rahmenbedingungen in den Bereichen Urheberrecht, Datenschutz und Datensicherheit sowie für Standards und Normen. Grundlagen des neuen Programms sind die Empfehlungen des Rates für Forschung, Technologie und Innovation zur Informationsgesellschaft vom Dezember 1995 und der umfangreiche Bericht der Bundesregierung "Info 2000" vom März 1996.

In einem Bereich jedoch ist die Regierung stärker gefordert: beim grundsätzlichen Wandel der Infrastruktur der Fachinformation in Wissenschaft und Technik. Das neue Programm versucht mit staatlicher Hilfe Druck zu machen. Betroffen sind Autoren und Leser, wissenschaftliche Fachgesellschaften, Verbände, Fachverlage, Buchhandel und Fachinformationseinrichtungen sowie die wissenschaftlichen Bibliotheken. Neben die bisherige gedruckte Information treten elektronisches Publizieren und digitale Bibliothek.

Befristete Anschubhilfe für Entwicklungsprojekte und institutionelle Förderung gelten folgenden Schwerpunkten:

- Entwicklung der wissenschaftlichen und technischen Informationsinfrastruktur in Datennetzen;

- Aufbau der elektronischen Publikation und multimediale Information der Fachverlage;

- Ausbau der Literatur- und Faktendatenbanken der Fachinformationseinrichtungen;

- Aufbau von digitalen Bibliotheken;

- stärkere Nutzung der Information in Wissenschaft, Wirtschaft und Staat sowie in der Aus- und Fortbildung sowie

- Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit, insbesondere in der Europäischen Union.

Von 1996 bis 1999 will die Bundesregierung dafür rund 1,9 Milliarden Mark bereitstellen. Mehr als die Hälfte stammen aus den Ministerien für Inneres (507 Millionen Mark, vor allem für den Neubau der Deutschen Bibliothek und der Bibliothek Preußischer Kulturbesitz), Wirtschaft (327,5 Millionen Mark) und Recht (291 Millionen Mark). Das sich als Moderator verstehende Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) fördert mit 286 Millionen Mark unter anderem eine Reihe von Modellprojekten.


Modellprojekte des BMBF

Im Bereich "Elektronisches Publizieren" bauen Verlage und Fachgesellschaften "MeDoc" (Multimediale elektronische Dokumente) auf als verteilte elektronische Bibliothek, die Verfasser und Nutzer ohne Papier verbinden soll. Im Bereich "Digitale Bibliothek" beschleunigt "SUBITO", eine Bund-Länder-Initiative zur Kooperation der bestehenden Dokumentlieferdienste der wissenschaftlichen Einrichtungen, die Literatur- und Informationsdienste. Technische Grundlage dafür ist das von BMBF und Deutscher Forschungsgemeinschaft geförderte Modellprojekt "Offene Kommunikation zwischen Fachinformations- und Bibliothekssystemen in Deutschland DBV-OSI" (Deutscher Bibliotheksverbund – Open Systems Interconnections). "TIB QUICK 2000" an der Technischen Informationsbibliothek Hannover sichert einen schnellen Zugriff auf elektronische Dokumente auf einem Volltext-Archivspeicher. Die Universitäten Bielefeld und Dortmund entwickeln ein "Internetbasiertes Elektronisches Bibliotheksinformationssystem" (IBIS).

Im Rahmen der "Innovationsstimulierung der deutschen Wirtschaft durch wissenschaftlich-technische Information" (INSTI) verfolgen das Institut der deutschen Wirtschaft und bisher 29 überwiegend privatwirtschaftliche Partner sieben Aktionslinien: Patentrecherchen und Datenbankschulungen, "Integration des Patentwesens in die ingenieurwissenschaftliche Hochschulausbildung" (INPAT), die am 1. Oktober 1996 begonnene BMBF-Patentaktion für Klein- und Mittelunternehmen (KMU), INSTI-Innovationsbörse, -Erfinderclubs und -Innovationstraining sowie ein Netzwerk regionaler Anlaufstellen insbesondere für KMU.


DFN und Wissenschaftsnetze

Eine zentrale Rolle spielt die Entwicklung von nationalen und internationalen Wissenschaftsnetzen. In Deutschland baut der Verein zur Förderung eines Deutschen Forschungsnetzes (DFN-Verein) mit Hilfe des BMBF sein bisheriges Netz mit Zugangsgeschwindigkeiten von zwei Megabit pro Sekunde zu einem Hochgeschwindigkeitsnetz aus. Es kann dann Computer mit einer Datenübertragungsgeschwindigkeit bis zu 155 Megabit pro Sekunde miteinander verbinden. Künftig wird das DFN-Netz mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten dem gesamten Wissenschafts- und Bildungsbereich offenstehen. Des weiteren steigt die Nutzung der vielfältigen Informations- und Kommunikationsmittel wie e-mail und World-Wide Web in den internationalen Wissenschaftsnetzen noch immer stark an.

Das Regierungsprogramm weist in diesem Zusammenhang auf die zunehmende Kritik der Wissenschaftler an dem traditionellen wissenschaftlichen und technischen Publikationswesen der Fachverlage, Fachinformationseinrichtungen und wissenschaftlichen Bibliotheken hin. Die Zeiten bis zur Veröffentlichung gedruckter Beiträge seien zu lang, die Autoren bekämen meist keine Honorare, und der Teufelskreis zwischen reduzierten Bibliotheksetats, daraus folgenden Abbestellungen und Preiserhöhungen gehe weiter.

Strukturelle Schwächen des überkommenen Systems charakterisiert das Programm so: "Literatur- und Faktendatenbanken der Fachinformationseinrichtungen werden zunehmend als nicht mehr aktuell und vollständig angesehen, weil die elektronischen Veröffentlichungen in den Wissenschaftsnetzen nicht nachgewiesen werden. Außerdem fehlen den Fachbereichen und Instituten der Hochschulen und Forschungseinrichtungen die Etats für deren Nutzung, da diese Nutzung noch nicht wie die allgemeine Literaturversorgung zu den Grundkosten gerechnet wird, die die Hochschulen und Forschungseinrichtungen tragen." Außerdem förderten die Bibliotheken die Nutzung elektronischer Informationsprodukte noch nicht im gleichen Maße wie die Neuerwerbung und Ausleihe von gedrucktem Material. Das erfordere einen grundsätzlichen Strukturwandel "notfalls auch ohne Fachverlage, Fachinformationseinrichtungen und wissenschaftliche Bibliotheken".


Schwächen elektronischer Datenbanken

Das elektronische Publizieren in den weltweiten Netzen werfe für die Wissenschaft allerdings neue Fragen auf, "die in der globalen Informationsgesellschaft und Informations-Infrastruktur geklärt werden müssen". Zum Beispiel: Wann kann eine abgeschlossene, urheberrechtlich geschützte Veröffentlichung gegen Entgelt vermarktet werden? Wie kann die wissenschaftliche Qualität bewertet und gesichert werden? (Für Eigenpublikationen im Wissenschaftsnetz gibt es noch keine qualitätsorientierten Selektionskriterien; ihr Reputationswert ist im Vergleich zu Veröffentlichungen in Zeitschriften gering.) Wie können diese Publikationen in den Datenbanken der Fachinformationseinrichtungen dokumentiert und von den wissenschaftlichen Bibliotheken aufbewahrt werden? In der Regel geschehe dies heute nicht.

Bei der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen und technischen Informations-Infrastruktur innerhalb und außerhalb der Netze müssen diese Schwächen und Fragen frühzeitig abgeschätzt und gemeinsam gelöst werden. Dabei bietet die Bundesregierung ihre Hilfe an, einmal beim Kapazitätsausbau des Wissenschaftsnetzes, zum anderen durch Unterstützung der wissenschaftlichen Autoren, Fachgesellschaften, Verbände, der Wissenschaftsverlage, des Fachbuchhandels, der Fachinformationseinrichtungen und wissenschaftlichen Bibliotheken. Insbesondere will sie Leitprojekte zur Entwicklung und Nutzung von globalen Informationssystemen, die Entwicklung von internationalen Suchverfahren und Untersuchungen zur Technikfolgenabschätzung in diesem Bereich fördern.

Weitere Gebiete, auf denen staatliche Hilfe versprochen wird, sind elektronische Publikation und multimediale Information, Literatur- und Faktendatenbanken, wissenschaftliche Bibliotheken und elektronische Information, die Nutzung der wissenschaftlichen und technischen Information sowie die internationale Zusammenarbeit.


Defizite bei den Hochschulen

In Hochschulen und Forschungseinrichtungen läßt die Nutzung der digitalisierten wissenschaftlichen und technischen Information noch zu wünschen übrig. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) und die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV) haben allerdings in zwei Modellprojekten erreicht, daß Hochschullehrer nicht nur mit Hilfe von Rechercheuren Datenbanken nutzen, sondern selbst Recherchen vornehmen. Mit der Gesellschaft Deutscher Chemiker und der Gesellschaft für Informatik haben DPG und DMV im Mai 1995 eine Kooperation zum Aufbau elektronischer Informations- und Kommunikationsstrukturen vereinbart.

Die Kommission zur elektronischen Fachinformation an den bayerischen Hochschulen hat im Juli 1995 einen Stufenplan beschlossen. Finanzielle und organisatorische Maßnahmen sollen kurzfristig den Hochschulen die Nutzung bestehender Fachinformationsangebote ermöglichen. Mittelfristig sollen Pilotprojekte die elektronische Fachinformation weiter ausbauen. Längerfristige Forschungsprojekte sollen die innovativen Aspekte einer künftigen virtuellen Bibliothek verfolgen. Den anderen Bundesländern empfiehlt die Bundesregierung entsprechende Aktivitäten.

Trotz dieser Ansätze dürfe man sich "nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Hochschulen und Forschungseinrichtungen von einer flächendeckenden Datenbanknutzung ... noch weit entfernt sind". In den Geisteswissenschaften fehlt ein Datenbankangebot, für die Nutzung und Integration in Lehre und Forschung mangelt es an organisatorischen, finanziellen, sachlichen und personellen Voraussetzungen. Enttäuscht beklagt das BMBF, alle seine bisherigen Bemühungen hätten es nicht geschafft, in anderen Fachbereichen ähnliche Nutzungsstrukturen wie in Physik, Mathematik und Chemie aufzubauen. Die Schuld dafür schiebt es auf die Länder: Diese und die Hochschulen müßten "die Nutzungsetats bedarfsgerecht erhöhen", die Fachinformationszentren ihre Preise zunehmend kostendeckend gestalten.


Elektronische Information kostet Geld

Bisher nämlich hätten die Wissenschaftler "noch kein ausreichendes Preisbewußtsein für elektronische Informationsprodukte" und meinten, sie könnten diese ebenso wie Bibliotheken kostenlos nutzen. Die Bundesregierung verspricht hier Abhilfe: In den vom Bund getragenen Forschungseinrichtungen sollen die Nutzungsetats bedarfsgerecht angepaßt werden. Die Länder sollen diesem Beispiel folgen, unterstützt von Pilot- und Modellvorhaben des Bundes. Hochschulen und Forschungseinrichtungen sollen sich an den Leitprojekten zur Entwicklung und Nutzung von globalen Informationssystemen beteiligen, und als Voraussetzung für eine Sinnesänderung will die Bundesregierung "mit den Ländern prüfen, ob der Umgang mit wissenschaftlicher Literatur sowie mit Daten und Fakten aus elektronischen Informationsquellen ein Element der Hochschulreife werden sollte".


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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