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Ein Postleitsystem für Proteine

Günter Blobel von der Rockefeller-Universität in New York erhielt den diesjährigen Nobelpreis in Physiologie oder Medizin für seine richtungsweisenden Erkenntnisse darüber, wie Eiweißmoleküle durch eingebaute Signale zu ihrem Zielort in der Zelle gelangen.


Ein erwachsener Mensch ist aus rund 100 Billionen Zellen aufgebaut, die trotz unterschiedlichster Funktionen alle nach einem einheitlichen Bauplan konstruiert sind. Die meisten chemischen Reaktionen jenes Stoffwechsels, den die Zelle zum Leben und Arbeiten benötigt, laufen im sogenannten Cytoplasma (dem "Zellsaft") ab: einem flüssigen Medium, das den Hauptteil des Zellvolumens einnimmt. Nach außen ist es durch eine Membran begrenzt. Diese Zellhülle besteht überwiegend aus Fettmolekülen. So wie ein Fettauge auf dem Wasser Wassermoleküle verdrängt und aus seinem Bereich fernhält, bewirken die Membranfette, daß wasserlösliche Stoffe die Zelle weder verlassen noch in sie eindringen können.

Das Zellinnere darf jedoch nicht vollständig von der Umgebung abgeschlossen sein; denn sonst könnten die benötigten Nahrungsstoffe nicht aufgenommen und Stoffwechselprodukte nicht nach außen abgegeben werden. Daher enthalten Zellmembranen tunnelförmige Kanäle, die bestimmten wasserlöslichen Substanzen eine kontrollierte Passage ermöglichen. Natürlich dürfen diese Poren nicht ständig geöffnet sein, weil die Membran sonst undicht wäre und ihre Barrierefunktion einbüßen würde.

Die meisten Zellen des menschlichen Körpers haben aber nicht nur eine Außenhülle; auch im Inneren sind sogenannte Organellen durch Membranen vom Cytoplasma abgetrennt (Bild). Diese erfüllen – ähnlich wie die Organe im Körper – spezielle Aufgaben. So dienen die Mitochondrien als Kraftwerke, während im Zellkern die Erbsubstanz verwahrt wird. Durch die Hüllmembranen dieser Organellen findet ebenfalls ein kontrollierter Stoffaustausch statt.

Ein komplexes Netzwerk von schlauch- bis fladenförmigen Organellen – das endoplasmatische Retikulum – ist für das Ausschleusen (die Sekretion) von bestimmten Eiweißstoffen aus der Zelle verantwortlich. Zu diesen sekretorischen Proteinen gehören etwa die Hormone von Drüsenzellen oder die Antikörpermoleküle von speziellen weißen Blutkörperchen. Aber auch viele nicht-sekretorische Proteine verbleiben nicht im Cytoplasma, in dem sie entstanden sind, sondern werden zu den verschiedenen Organellen transportiert und durch spezifische Membranporen in diese eingeschleust (Bild). Somit herrscht in einer vielbeschäftigten Zelle ein reger Proteinverkehr.

Wie läuft die Membranpassage von Proteinen im einzelnen ab? Und wie kann die Zelle unter den Milliarden von Proteinen feststellen, welches wohin zu transportieren ist? Diesen beiden Fragen hat Günter Blobel seine Forschungstätigkeit gewidmet. Die richtungsweisenden Experimente dazu führte er bereits Anfang der siebziger Jahre mit Antikörpermolekülen durch, die von weißen Blutkörperchen produziert und zum Aufspüren und Markieren von körperfremden Proteinen an das Blut abgegeben werden. Wie erwähnt, führt ihr Weg aus der Zelle zunächst in das endoplasmatische Retikulum.

Um den Übertritt der Antikörper in dieses Organell zu untersuchen, verfolgte Blobel einen bahnbrechenden neuen Ansatz. Statt mit der gesamten Zelle zu arbeiten, isolierte er das endoplasmatische Retikulum und gab im Reagenzglas synthetisierte Antikörpermoleküle dazu. Die vergangenen 25 Jahre haben deutlich gemacht, wie grundlegend diese Methodik für das Verständnis von Proteintransportvorgängen wurde.

Eingebaute Erkennungszeichen


Mit diesen Experimenten zeigte Blobel, daß frisch synthetisierte Antikörper ein eingebautes Erkennungszeichen tragen, das signalisiert, daß sie die Membran des endoplasmatischen Retikulums durchqueren müssen. Dieses Signal besteht aus einer Folge von bestimmten Aminosäuren am Beginn der Proteinkette des Antikörpermoleküls und wird nach dem Durchqueren der Membran abgespalten.

Seiner Zeit weit voraus, hat Blobel aus diesen Befunden allgemeine Prinzipien für den Membrantransport von Proteinen formuliert. Danach tragen Eiweißstoffe, die durch eine zelluläre Membran geschleust werden, eine Signalsequenz, die ihren Bestimmungsort kennzeichnet. Nach dem griechischen Wort topos für Ort sprach Blobel von topogenen Signalen. Letztlich handelt es sich um eine Art Adressierungssystem ähnlich den Postleitzahlen, die anzeigen, wohin ein Brief befördert werden soll.

Wie aber entschlüsselt die Zelle die "Postleitzahl"? In seiner 1975 aufgestellten Signalhypothese hat Blobel dies am Beispiel sekretorischer Proteine detailliert beschrieben (siehe Kasten). Wie alle Eiweißstoffe werden sie im Cytoplasma an sogenannten Ribosomen synthetisiert, die eine Aminosäure nach der anderen an die entstehende Proteinkette anhängen, so daß diese gleichsam aus dem Ribosom herauswächst – ähnlich wie ein Nudelstrang aus der Nudelpresse austritt.

Dabei entsteht zunächst die Signalsequenz. Sie müsse, wie Blobel 1975 argumentierte, unmittelbar nach dem Austritt aus dem Ribosom bereits erkannt werden. Nur so sei zu vermeiden, daß eine bereits zu lang gewordene Eiweißkette sich verknäult (Biologen sprechen von Faltung) und die Signalsequenzen dadurch unlesbar werden. Für die Erkennung der "Postleitzahl" postulierte Blobel Bindefaktoren. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Ribosomen zusammen mit der herauswachsenden Proteinkette an die Membran des endoplasmatischen Retikulums zu koppeln. Diese Anheftung würde sicherstellen, daß der Proteintransport nur in einer Richtung erfolgt – aus dem Cytoplasma in das endoplasmatische Retikulum und nicht umgekehrt. Könnte das Protein die Pore ohne fremde Hilfe durchqueren, wäre dagegen auch ein unerwünschter Rücktransport möglich.

Aus dem Prinzip, daß Undichtigkeiten zu vermeiden sind, folgerte Blobel, daß der Tunnel in der Membran nicht immer als solcher existiert, sondern erst bei Bedarf aus einzelnen Bausteinen zusammengebaut wird, die davor funktionslos in der Membran "schwimmen". Dieser Zusammenbau sollte durch Bindung des Ribosoms an die Porenbausteine ausgelöst werden.

Obwohl die Signalhypothese weitgehend theoretisch abgeleitet worden war, hat sie die später experimentell ermittelten molekularen Details des Proteintransports in das endoplasmatische Retikulum erstaunlich korrekt vorhergesagt. Im Labor des Nobelpreisträgers selbst wurde dabei der Bindefaktor für die Ribosomen (in Wirklichkeit sind es zwei) entdeckt. Blobels Team war auch das erste, das die Existenz von Tunneln für den Eiweißtransport in der Membran des endoplasmatischen Retikulums experimentell bestätigte. Außerdem zeigte es elektronenmikroskopisch, daß das Ribosom tatsächlich, wie postuliert, in direkten Kontakt mit den Tunnelkomponenten tritt.

Während diese Meilensteine der zellbiologischen Grundlagenforschung veröffentlicht wurden, begann ab Mitte der achtziger Jahre die Signalhypothese erst in speziellen und dann auch in studentischen Lehrbüchern aufzutauchen – ein Zeichen für die zunehmende Akzeptanz. Heute ist die Signalhypothese längst zur allgemein anerkannten Signaltheorie geworden.

Die Bedeutung einer wissenschaftlichen Theorie steigt mit der Universalität ihrer Aussagen. Zwar fand sich bei den zellulären Transportvorgängen für Proteine schließlich eine Vielfalt von Mechanismen, die nicht alle nach dem geschilderten Schema ablaufen. Dennoch bestechen die Vorhersagen der Signalhypothese durch ihre Allgemeingültigkeit. Die darin beschriebenen Mechanismen wurden inzwischen nicht nur in Hefe-, Pflanzen- und Tierzellen nachgewiesen, sondern auch bei den stammesgeschichtlich noch viel älteren Bakterien.

Besonders eindrucksvoll ist das Beispiel der Mykoplasmen, der primitivsten freilebenden Organismen, die sich selbständig vermehren können. Sie gelten als Minimalorganismen, da die kleine Menge ihrer Erbsubstanz nur noch die Information für die lebensnotwendigsten Stoffwechselvorgänge enthält; und eben dazu gehört der Proteintransport nach dem Modell der Signalhypothese! Auch die wohl ältesten existierenden Vertreter aller Lebewesen, die Archäen (früher Archäbakterien genannt), verwenden diesen Transportmechanismus.

Zwar hat Günter Blobel in erster Linie Grundlagenforschung betrieben. Mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen lassen sich aber auch molekulare Mechanismen erklären, die bestimmten Erbkrankheiten zugrunde liegen. Das gilt für die Hyperoxalurie, bei der Patienten schon in jungen Jahren ein Nierensteinleiden entwickeln, ebenso wie für bestimmte erbliche Formen eines erhöhten Cholesterinspiegels im Blut und für die Mukoviszidose, bei der die Ausscheidung von Drüsensekreten gestört ist. All diese Erkrankungen beruhen letztlich darauf, daß der Transport von bestimmten Proteinen an ihre jeweiligen Funktionsorte nicht richtig funktioniert.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1999, Seite 15
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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