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Ein Quantenmodell der Hochtemperatur-Supraleitung

Warum transportieren gewisse keramische Materialien selbst bei vergleichsweise moderater Kühlung den elektrischen Strom verlustfrei? Das für die Energietechnik und andere Anwendungen höchst bedeutsame Phänomen läßt sich noch nicht befriedigend erklären. Neue Experimente deuten aber auf Elektronenpaare hin, die über subtile Quanteneffekte sogenannte Spinwellen gekoppelt sind.

Eine der wohl denkwürdigsten Zusammenkünfte in der jüngsten Geschichte der Naturwissenschaften fand am 18. März 1987 während einer Tagung der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft statt. Um die große Anzahl nachträglich eingereichter Beiträge unterzubringen, waren die Organisatoren auf das New Yorker Hilton-Hotel ausgewichen. In einem Tanzsaal und draußen auf den Gängen drängten sich 2000 Forscher und suchten fünfminütigen Kurzvorträgen über die allerneuesten Entwicklungen zu folgen. Dieses später scherzhaft Woodstock der Physik genannte Ereignis (nach dem legendären Popkonzert von 1969) begann um 19.30 Uhr und dauerte bis drei Uhr morgens, ohne daß die Spannung der Teilnehmer nachgelassen hätte.

Der Grund für all die Aufregung war die Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleitung. Im September 1986 hatten der Schweizer K. Alexander Müller und sein deutscher Kollege J. Georg Bednorz vom IBM-Forschungslaboratorium in Rüschlikon bei Zürich berichtet, daß die keramische Substanz Lanthan-Barium-Kupferoxid bereits bei der relativ hohen Temperatur von 35 Kelvin (-238 Grad Celsius) jeglichen elektrischen Widerstand einbüßt; für diese Entdeckung erhielten sie schon im folgenden Jahr den Physik-Nobelpreis (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1987, Seite 12).

Diese Übergangstemperatur ist zwar noch recht niedrig, liegt aber immerhin um mehr als zehn Grad höher als bei den besten herkömmlichen Supraleitern – sie umfassen etwa drei Dutzend Elemente sowie mehrere tausend Legierungen und Verbindungen, die metallische Leitfähigkeit aufweisen. Bald darauf wurden Sprungtemperaturen oberhalb von 90 Kelvin gemeldet, und Gerüchte sprachen gar von Supraleitung bei 130 oder 240 Kelvin. Falls es tatsächlich gelänge, ein bei gewöhnlicher Umgebungstemperatur (rund 300 Kelvin) supraleitendes Material zu finden, würde dies höchstwahrscheinlich die moderne Technik tiefgreifend verändern (siehe "Schlüsseltechnologien", Spektrum-Spezial 4, 1995).

Hinter der Hektik, mit der die Physiker im März 1987 theoretische und experimentelle Arbeiten über das neue Phänomen einreichten, stand nicht nur die Vision vom Zimmertemperatur-Supraleiter, sondern auch die Sorge, zu spät zu kommen. Mancher fürchtete, das Geheimnis der neuen Kupferoxid-Verbindungen (üblicherweise Cuprate genannt) würde so rasch enträtselt sein, daß er selbst nichts mehr dazu beitragen könnte. Schließlich sind zu keinem anderen Einzelthema so viele Nobelpreise verliehen worden (bisher fünf) – und entsprechend groß ist die Aussicht, daß die richtige Theorie der Supraleitung einen weiteren einbrächte.

Im nachhinein erwies sich die Eile jedoch als unbegründet. In den neun Jahren seither ist zwar ein beachtliches Sortiment von Cupraten mit immer höheren Sprungtemperaturen präsentiert worden (Bilder 2 und 5); aber Tausende von Forschern in aller Welt haben unzählige Stunden auf die Frage verwandt, warum und wie diese Materialien bei derart hohen Temperaturen widerstandslos Strom leiten, und sie ist nach wie vor offen. Aber die Physiker haben immerhin große Fortschritte erzielt. Wie jüngste Experimente zeigen, unterscheiden die Cuprate sich von herkömmlichen Supraleitern so grundlegend, daß dies die Auswahl der konkurrierenden Theorien beträchtlich einengt.

Als Favorit profiliert sich ein gänzlich neuer Mechanismus: die magnetische Wirkung von Spin-Fluktuationen in den Atomen des leitenden Mediums.


Cooper-Paare als Ladungsträger

Daß Magnetismus des Rätsels Lösung sein könnte steht in scharfem Kontrast zu allem, was man über den Mechanismus der herkömmlichen Tieftemperatur-Supraleitung weiß. In Materialien, die diesen Effekt bei wenigen Grad oder Gradbruchteilen über dem absoluten Nullpunkt (und mitunter auch nur unter hohem Druck) aufweisen, bilden die Elektronen Cooper-Paare, benannt nach dem Physiker Leon N. Cooper, der das Konzept an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign mit entwickelte. Im Gegensatz zu einzelnen Elektronen stoßen Cooper-Paare nicht mit ihresgleichen zusammen und werden auch nicht an den Störstellen im leitenden Medium gestreut; darum treffen sie bei ihrer Fortbewegung auf keinerlei Widerstand. In einem Supraleiter fließt Strom mithin ohne elektrische Spannung und bleibt in einem geschlossenen Stromkreis beliebig lange erhalten, sofern das Material nur unter die kritische Temperatur gekühlt wird.

Bemerkenswert ist, daß Elektronen sich in Metallen überhaupt zu Paaren zusammenschließen können, obwohl sie sich als Träger gleicher (negativer) Ladung eigentlich abstoßen müßten. In den fünfziger Jahren fand Cooper gemeinsam mit John Bardeen und J. Robert Schrieffer eine Erklärung (die drei Forscher erhielten dafür den Physik-Nobelpreis 1972).

Die nach den Initialen ihrer Schöpfer genannte BCS-Theorie besagt, daß Elektronen in herkömmlichen Supraleitern ihre gegenseitige Abstoßung auf zweierlei Art überwinden:

- Die Bewegung der anderen Elektronen schirmt einen Teil der negativen Ladung ab, die das Paar auseinanderzutreiben sucht. Das gleicht der Situation zweier Leute, die sich nicht ausstehen können, doch bei der Begegnung in einer Menschenmenge nicht auf Distanz zu gehen vermögen.

- Vor allem aber gibt es Vermittler, welche die gegenseitige Abstoßung der Elektronen überwinden helfen, nämlich die Ionen, aus denen das Metallgitter besteht. (Die an sich neutralen Metallatome sind positiv geladen, nachdem sie frei bewegliche Leitungselektronen abgegeben haben.)

Ein Elektron, das an diesen Ionen vorbeiwandert, kann ihre Lage geringfügig verschieben. Solche temporären Verzerrungen des Gitters – in der Quantenphysik der Festkörper Phononen genannt – schaffen kleine Regionen positiver Ladung, die wiederum andere Elektronen anziehen. Der Vorgang ähnelt dem Einsinken einer Kegelkugel auf einem Bett: Sie deformiert die Matratze, und in die Mulde kann nun leicht eine zweite Kugel hineinrollen (Bild 6 oben).

Der Vergleich hinkt freilich insofern, als die Elektronen einander anders als Kegelkugeln stark abstoßen. Die Paarbildung durch Phononenaustausch kann man sich wie den Doppelpaß beim Fußball vorstellen: Zwei Stürmer spielen einander den Ball im Lauf hin und her zu, so daß keiner ihn unterwegs an den Gegner verliert. Zur Veranschaulichung der Supraleitung in herkömmlichen Materialien reichen diese Bilder aus.

Doch nach Meinung der meisten Forscher vermag das traditionelle Modell die Supraleitung bei Kupferoxid-Keramiken nicht zu erklären. In einem BCS-Supraleiter mit hoher Übergangstemperatur würden nämlich Elektronen und Phononen sehr stark wechselwirken und dadurch die Struktur des Materials derart verzerren, daß es nicht mehr supraleitend und wahrscheinlich sogar nicht einmal mehr leitfähig wäre.

Überdies müssen im BCS-Modell die Elektronen stets wesentlich energiereicher sein als die Phononen: Sie bewegen sich viel schneller, so daß das erste Elektron das verschobene Ion längst passiert hat, bevor das zweite dort ankommt; und über diesen Abstand wirkt sich ihre gegenseitige Abstoßung weniger aus. Doch in den Cupraten bewegen Elektronen und Phononen sich ungefähr gleich schnell: Dadurch bleiben gepaarte Elektronen nicht genügend auf Distanz, um der Theorie zu genügen.

Wir haben bisher nur die Elektronen als Ladungsträger des Stroms erwähnt, aber in Wirklichkeit sind das in den meisten Cupraten sogenannte Löcher: positiv geladene Bereiche, die durch das Fehlen eines Elektrons entstehen. Man erzeugt sie durch Dotieren des Materials mit Fremdatomen, die Elektronen an sich binden. Im folgenden werden wir darum die Komponenten eines Cooper-Paars nicht mehr Elektronen oder Löcher, sondern einfach Ladungsträger nennen.

Wegen der Schwierigkeit, hohe Übergangstemperaturen mit Hilfe des Phononenmodells zu erklären, hat man viele andere Paar-Vermittler (sozusagen die Bälle beim Doppelpaß) vorgeschlagen – unter anderem Exzitonen (die Ladungsträger verursachen örtlich begrenzte Bewegungen in der sie umgebenden Ladungswolke), Plasmonen (die Ladungsträger erzeugen eine gemeinsame Bewegung der Ladungswolke) und Polaronen (die Ladungsträger rufen unterwegs große Ortsverschiebungen der Ionen und anderer Ladungsträger hervor). Andere Modelle behandeln jede Ladung als zwei separate Teilchen, die zwischen den Schichten des Leiters hin- und herspringen können.

Nun sind die neuen Verbindungen kompliziert aufgebaut. Sie bestehen aus mehreren Lagen, welche die eigentlich leitende Kupferoxid-Schicht isolieren (siehe Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1990, Seite 118). Bisher kennt man kein Experiment, mit dem sich die verschiedenen Modellvorstellungen eindeutig unterscheiden ließen. Allerdings zeichnet sich mittlerweile ab, daß die Symmetrie des supraleitenden Zustands eine sehr wichtige Eigenschaft ist, die der Suche nach dem wirklichen Mechanismus der Paarbildung den Weg zu weisen vermag.

Mit Symmetrie ist die Form der Wellenfunktion gemeint, die den supraleitenden Zustand mathematisch beschreibt und unter anderem angibt, wie die beiden Ladungsträger eines Cooper-Paars sich relativ zueinander bewegen. Daraus geht die Wahrscheinlichkeit hervor, einen Partner an einem bestimmten Ort im Bezugsystem des anderen zu finden.


Die Symmetrie der Wellenfunktion

Bei den Cooper-Paaren herkömmlicher Supraleiter sind die Wellenfunktionen höchstmöglich symmetrisch: Sie haben Kugel- oder s-Wellen-Symmetrie. Das heißt, die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines gepaarten Ladungsträgers relativ zum anderen fällt in alle Richtungen des Raumes in gleichem Maße exponentiell ab. In einer graphischen Darstellung der Wellenfunktion – mit einem der beiden Teilchen im Mittelpunkt – erscheinen die Wahrscheinlichkeiten, den Partner zu finden, als konzentrische Kugelschalen.

Der nächste, etwas geringere Symmetriegrad ist der d-Zustand. Im Diagramm gleicht er vierblättrigem Klee, wobei jedes Blatt für einen Bereich steht, in dem sich ein Partner des Cooper-Paars relativ zum anderen wahrscheinlich aufhält. Bei d-Symmetrie sind die Partner zudem nicht so eng beisammen, daß die gegenseitige Abstoßung ihre Kopplung stören würde (Bild 3).

Aus der Symmetrie könnte man auf den Mechanismus der Paarbildung schließen, weil manche Paarungsmodelle eine charakteristische Symmetrie erzeugen. Bis vor einigen Jahren waren die Theoretiker mehr oder weniger in zwei Lager gespalten. Die einen favorisierten Modelle – meist Abwandlungen der BCS-Theorie mit Phononenvermittlung –, bei denen Zustände mit s-Wellen-Symmetrie herauskamen; die anderen bevorzugten eher exotische Mechanismen, die Zustände mit d-Wellen-Symmetrie erzeugten.

Die wohl dominierende Theorie mit d-Wellen-Symmetrie ist das Spinwellen-Modell, das vor allem Douglas J. Scalapino von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und David Pines von der Universität von Illinois (Hauptsitz Urbana) entwickelt haben. Demnach kippt eine bewegte Ladung die Spinorientierung (und somit das magnetische Moment) der Atome im supraleitenden Medium. Der Ladungsträger erzeugt gleichsam in seinem Kielwasser eine magnetische Störung – eine Spinwelle (eigentlich eher kurzfristige Spin-Fluktuationen). Der Sog dieser Heckwelle zieht einen zweiten Träger an, und die beiden bilden ein Cooper-Paar (Bild 6 unten).

Viele Physiker hatten zunächst gehofft, die Symmetrie des supraleitenden Zustandes würde eindeutig auf die richtige Theorie hinweisen. Doch seit einigen Jahren weiß man, daß unterschiedliche Mechanismen dieselbe Symmetrie erzeugen können. Zwar läßt sich nicht zweifelsfrei von der richtigen Symmetrie auf den zugrundeliegenden Mechanismus schließen, doch immerhin lassen sich damit die theoretischen Modelle verbessern. Zum Beispiel würde der eindeutige Nachweis, daß der supraleitende Zustand nicht d-wellensymmetrisch ist, Spinwellen als Paarbildungsmechanismus ausschließen.

Indizien für d-Wellen

Ein nachweisbarer Effekt der d-Wellen-Symmetrie ist, daß die Cooper-Paare in manchen Richtungen – relativ zum Atomgitter – weniger stark aneinander gebunden sind; demnach sollten in bestimmten Richtungen einzelne ungepaarte Ladungsträger unterwegs sein. Man hat bereits versucht, sie aufzuspüren – etwa indem man prüfte, wie gut magnetische Felder in den Supraleiter eindringen oder wieviel Wärme nötig ist, um die Temperatur des Materials zu erhöhen. Alles in allem sprechen die Resultate zwar für das Vorkommen ungepaarter Träger bei tiefen Temperaturen, doch ließen sich die meisten Physiker davon nicht überzeugen; denn die Versuche lieferten eher indirekte Aussagen, die auch mit anderen Symmetriezuständen (etwa modifizierten s-Wellen) vereinbar sind.

Statt nach freien Trägern zu forschen, maßen andere Physiker, wie die Stärke der Cooper-Paarbindung mit dem Winkel variiert. Dazu untersuchten sie, wie Ladungsträger durch hochfrequentes Licht zum Verlassen des Materials angeregt werden, wie hindurchgesandtes Licht seine Frequenz ändert und wie Elektronen aufgrund des quantenmechanischen Tunneleffekts dünne Isolierschichten zwischen anderen Materialien und Cupraten überwinden.

Zwar ergab sich, daß die Stärke der Paarbindung winkelabhängig ist, aber der schlagende Beweis für d-Wellen war auch damit noch nicht erbracht. Bei d-symmetrischen Zuständen wechselt die Wellenfunktion nämlich ihr Vorzeichen: Von den vier Blättern sind zwei positiv und die anderen negativ. Weil die Experimente den Vorzeichenwechsel nicht erfaßten, lieferten sie keinen eindeutigen Nachweis für d-Wellen-Symmetrie.

Es gibt jedoch eine Methode, die unterschiedlichen Vorzeichen sichtbar zu machen. Dabei nutzt man eine wohlbekannte Eigenschaft ringförmiger Supraleiter: Sie vermögen in dem von ihnen umschlossenen Raum Magnetfelder einzufangen, und zwar in Form diskreter Feldlinien-Bündel, sogenannter Flußquanten.

Man kann sich ein einzelnes Flußquantum als Röhre vorstellen. Seine magnetische Flußstärke (magnetische Feldstärke mal der von der Röhre eingeschlossenen Fläche) ist eine fundamentale Konstante (h/2e, wobei h für das Plancksche Wirkungsquantum und e für die Ladung eines Elektrons steht).

Ringe aus herkömmlichen Supraleitern mit s-symmetrischen Wellenfunktionen schließen stets ganzzahlige Vielfache dieses Flußquantums ein. Hingegen können Ringe aus Supraleitern mit d-symmetrischem Zustand die magnetische Flußstärke auch auf andere Weise quantisieren: Je nach der Energie und dem magnetischen Fluß des Systems fangen sie mitunter halbzahlige Vielfache des Flußquants ein. Wie sich zeigt, entscheidet das Auftreten oder Fehlen halbzahliger Flußquanten darüber, ob und wie die Blätter der Wellenfunktion ihr Vorzeichen wechseln.

Halbzahlige Flußquanten sind erst kürzlich nachgewiesen worden, obwohl Lev N. Bulaevskij, der jetzt am Los-Alamos-Nationallaboratorium in New Mexico tätig ist, und andere ihre Existenz schon Ende der siebziger Jahre vorhergesagt hatten. Erste Hinweise fand Dieter Wohlleben an der Universität Köln 1993 bei Magnetisierungsexperimenten. Später berichteten Dave Wollman und Dale Van Harlingen von der Universität von Illinois über konkretere Indizien; sie maßen den Strom- und Spannungsverlauf in supraleitenden Ringen, die aus einem Yttrium-Barium-Kupferoxid-Einkristall und einer dünnen Bleischicht bestanden.

Kürzlich gelangen unserer Gruppe bei IBM die ersten direkten Beobachtungen und Bilder solcher halber Flußquanten. Wir verwendeten spezielle Cuprat-Ringe mit querliegenden dünnen Schichten eines Isoliermaterials. Diese Barrieren – sogenannte Josephson-Kontakte – sind so schmal, daß Cooper-Paare sie durchtunneln können. Der britische Physiker Brian Josephson hatte diesen nach ihm benannten Effekt 1962 vorhergesagt und dafür 1973 den Nobelpreis erhalten.

Der Josephson-Effekt tritt nur ein, wenn zwischen den Cooper-Paaren diesseits und jenseits der Barriere ein Phasenunterschied besteht. (Die Phase einer Wellenfunktion beschreibt, anschaulich gesprochen, welchen Teil ihres Zyklus die Welle gerade durchläuft.) Mit d-Wellen-Supraleitern lassen sich nun Ringe mit Josephson-Kontakten konstruieren, welche die Phase des in ihnen kreisenden Cooper-Paars zwangsläufig verändern. Dieser Phasenwechsel entspricht einem Vorzeichenwechsel der Wellenfunktion.

Bei ausreichender Kühlung erzeugt dieser automatische Vorzeichenwechsel spontan gerade genügend Strom, um exakt ein halbes magnetisches Flußquant einzuschließen. Legt man während der Kühlung ein äußeres Magnetfeld an, so werden Flußwerte von 3/2, 5/2, 7/2 und so weiter mal dem Flußquantum durch einen solchen Ring gefädelt.

Magnetfelder in Leiterringen

Wir züchteten auf einem speziell präparierten Substrat Dünnschicht-Ringe des Supraleiters Yttrium-Barium-Kupferoxid (YBCO), und zwar gezielt so, daß einer der Ringe aus drei Abschnitten bestand, wobei das Kristallgitter jedes Abschnitts um 30 Grad gegen das des benachbarten gedreht war und dadurch jede Grenzfläche zwischen den Abschnitten einen Josephson-Kontakt bildete (Bild 4).

Falls die Cooper-Paare in einem Zustand mit d-Wellen-Symmetrie sind, muß ihre Wellenfunktion nach einem kompletten Durchlaufen des Rings das Vorzeichen ändern. (Eigentlich wissen wir nicht, wie viele Vorzeichenwechsel eintreten, aber jedenfalls muß ihre Anzahl bei dieser Geometrie ungerade sein.) Wäre das Material hingegen im s-Wellen-Zustand, würden die Grenzschichten keine Wirkung ausüben; ein kompletter Umlauf ginge ohne Vorzeichenwechsel vonstatten.

Nachdem wir diese winzigen Trikristall-Ringe – mit jeweils nur etwa 50 Mikrometern (tausendstel Millimetern) Durchmesser – fabriziert hatten, kühlten wir sie unter ihre Sprungtemperatur ab. Aufgrund ihrer Geometrie war ihr Leitungszustand instabil, und darum entwickelte sich von selbst ein schwacher Suprastrom. In gewissem Sinne verhält sich der Ring nämlich, als wäre er an einer Stelle verdrillt wie ein Möbius-Band; und durch die Tendenz des Schraubknicks, sich zu begradigen, geraten die Ladungsträger in Bewegung. In unserem Ring entdeckten wir nur halbzahlige Flußquanten als sicheres Anzeichen für d-Wellen-Symmetrie (s-Wellen hätten keinen Magnetfluß erzeugt).

Die in den Ringen gefangenen Magnetfelder bildeten wir mit einem SQUID-Rastermikroskop ab. SQUIDs (für: supraleitende Quanteninterferenz-Detektoren) sind die empfindlichsten derzeit verfügbaren Magnetfeld-Sensoren (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 58). Durch sorgfältige Eichung der Meßgeräte mit mehreren unterschiedlichen Methoden konnten wir sichergehen, daß im Trikristall-Ring wirklich exakt ein halbes Flußquant war. Zur Kontrolle dienten die Ringe mit gerader Anzahl von Josephson-Kontakten, die in der Tat keine Flußquanten enthielten (weil das Vorzeichen eine gerade Anzahl von Änderungen durchläuft und somit am Ende wieder den ursprünglichen Stand erreicht).

Außerdem variierten wir die Versuchsbedingungen ein wenig, um zu zeigen, daß die Ergebnisse tatsächlich auf der Symmetrie der Cooper-Paar-Wellenfunktion beruhten und nicht etwa auf anderen physikalischen Effekten. So wiesen wir nach, daß kleine Veränderungen der Ring-Geometrie das spontan gebildete halbe Flußquant an- und abstellten. Des weiteren konnten wir mit einem schwachen äußeren Magnetfeld die anderen Ringe dazu bringen, ganzzahlige Flußquanten einzuschließen, und damit nachweisen, daß tatsächlich alle Ringe funktionierten. Experimente mit Dünnschichten ohne Ringe oder mit Scheiben statt Ringen zeigten ebenfalls den halbzahligen Flußquanteneffekt und bewiesen damit, daß das Resultat von der inneren Symmetrie des Supraleiters bestimmt wird und nicht von der Geometrie der Probe (Bild 1).

Im vergangenen Jahr haben wir die Experimente mit drei anderen Cupraten wiederholt: Wismut-Strontium-Calcium-Kupferoxid (etwas komplizierter gebaut als YBCO), Gadolinium-Barium-Kupferoxid (dem YBCO ähnlich) und Thallium-Barium-Kupferoxid (einfacher gebaut als YBCO). Wir erhielten dieselben Ergebnisse. Unsere Versuche sowie diejenigen, die an der Universität von Illinois, der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und der Universität von Maryland in College Park durchgeführt wurden, sind allesamt mit d-Wellen-Symmetrie vereinbar.

Nun läßt sich kaum noch bezweifeln, daß bei mehreren supraleitenden Kupferoxid-Verbindungen die Wellenfunktionen d-symmetrisch sind. (Einige Experimente ergaben zwar s-Wellen-Symmetrie, doch dies läßt sich vielleicht damit erklären, daß in den neuen Materialien unter gewissen Umständen beide Symmetrietypen kombiniert auftreten.) Wie sich damit bestätigt, kann das herkömmliche BCS-Modell nicht für Hochtemperatur-Supraleiter gelten, während Spinwellen ein aussichtsreicher Kandidat für die Vermittlerrolle bei der Paarbildung bleiben.

Leider läßt sich auch fast jeder andere Paarungsmechanismus (Exzitonen, Polaronen und andere) mit diesen Ergebnissen in Einklang bringen. Man braucht nur anzunehmen, daß die Ladungsträger in einem Cooper-Paar einander stark abstoßen: Eine derartige Wechselwirkung begünstigt eine Paar-Symmetrie mit Vorzeichenwechsel.

Dennoch kann die Erforschung der Symmetrie dazu beitragen, die Vielfalt möglicher Paar-Mechanismen einzuschränken. Wichtig ist vor allem, die Experimente mit anderen Cuprat-Supraleitern zu wiederholen. Beispielsweise scheint Neodym-Cer-Kupferoxid, wenn man es mit Elektronenspendern dotiert, s-Wellen-Symmetrie zu haben. Sollte sich dies bestätigen, wäre es ein schwerer Schlag für das Spinwellen-Modell, denn die meisten Forscher würden einen einheitlichen Mechanismus für alle Hochtemperatur-Supraleiter vorziehen. Zudem würde es bedeuten, daß die neuen Substanzen noch komplizierter aufgebaut sind als bisher angenommen. Durch systematisches Untersuchen der Symmetrie bei unterschiedlich zusammengesetzten Cupraten könnte man unzutreffende Theorien ausscheiden.


Supraleitung bei Zimmertemperatur?

Die Vision einer neuartigen Elektrotechnologie ist von alledem nicht beeinträchtigt worden. Fast alle zur Debatte stehenden Mechanismen schließen einen Supraleiter bei Zimmertemperatur keineswegs aus. Nach groben Schätzungen mit dem Spinwellen-Modell könnte es Supraleitung sehr wohl bei mehr als 20 Grad Celsius geben – theoretisch sogar noch bei mehreren hundert Grad, wenngleich dies unrealistisch zu sein scheint. Solche Aussichten sind jedenfalls ein großer Fortschritt gegenüber den Vorhersagen der traditionellen BCS-Theorie, wonach die kritische Temperatur bei höchstens -233 Grad Celsius (40 Kelvin) liegen kann.

Gewiß sind die Physiker noch nicht so weit, den Mechanismus der Cooper-Paarbildung schlüssig zu bestimmen. Doch mit dem Einfangen und Zählen magnetischer Flußquanten in winzigen Ringen haben sie nun eine aussichtsreiche Methode an die Hand bekommen, den rätselhaften neuen Substanzen ihr Geheimnis zu entreißen. Gelingt das, sollten sich gezielt weitere Hochtemperatur-Supraleiter entwickeln und Anwendungen dafür finden lassen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 86
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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