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Ein seltsames Bild vom Schall

Man stelle sich vor, Töne würden durch einen sehr einfachen mathematischen Prozeß erzeugt. Das stimmt zwar nicht; trotzdem gewinnt man aus der Analyse des falschen Prozesses richtige Erkenntnisse.

Es gibt eine verblüffend einfache Art, Töne in Bilder umzusetzen. Diese lassen den Betrachter zudem noch auf einen Blick erkennen, ob es sich um ein regelhaftes oder eher zufallsbestimmtes Schallereignis handelt. Zwei australische Wissenschaftler, die Mathematiker Gordon Monro von der Universität Sydney und Jeff Pressing vom Psychologischen Institut der Universität Melbourne, haben eine spezielle Form dieser Visualisierung erprobt.

Die CD-Technologie liefert das Datenmaterial für diese Art der Analyse in großen Mengen. Ungefähr 44000mal in der Sekunde mißt das Aufnahmegerät den Schalldruck – als elektrische Spannung im Stromkreis des Mikrophons – und verwandelt dadurch einen kontinuierlichen Vorgang in eine Folge diskreter Einzelereignisse. Es ist im wesentlichen die Folge dieser Meßwerte, die auf einer Compact Disk aufgezeichnet ist.

Nennen wir diese Zahlenwerte der Reihe nach s1, s2, s3, … und zeichnen wir in ein Koordinatensystem die Punkte (sj,sj+1). Normalerweise dient ein Koordinatensystem der Darstellung einer Funktion: die unabhängige Variable entlang der x-Achse, die abhängige entlang der y-Achse. Demnach wäre sj+1 von sj abhängig, jeder Datenwert eine Funktion seines unmittelbaren Vorgängers: sj+1=f(sj). Das stimmt natürlich nicht; gleichwohl kann diese Darstellungsweise zum Vorschein bringen, welche Beziehungen ("Korrelationen") zwischen Datenwerten und ihren Vorgängern, anders ausgedrückt, zwischen der Folge und einer zeitverschobenen Version ihrer selbst bestehen; daher der Name "Autokorrelationsdiagramm" für das aus vielen (einigen tausend oder mehr) Einzelpunkten entstehende Bild.

Was für ein Bild ergibt sich aus dieser Prozedur? Zunächst ein ziemlich langweiliges. Der Wiedergabetreue zuliebe ist die Abtastfrequenz (44000 mal pro Sekunde) so hoch, daß sich zwischen zwei Meßpunkten nichts Dramatisches abspielt. sj und sj+1 sind also fast gleich, und der zugehörige Bildpunkt liegt sehr nahe an der Geraden y=x, der Winkelhalbierenden des ersten Quadranten.

Interessanter wird es, wenn man die Abtastung vergröbert, zum Beispiel nur jeden zehnten Wert der Datenfolge verwendet oder – was fast auf dasselbe hinausläuft – statt der Punkte (sj,sj+1) die Punkte (sj,sj+10) in das Koordinatensystem einträgt. Anstelle von 10 kann man allgemeiner einen Zeitverzug von k Abtasteinheiten wählen, und das zweckmäßig so, daß sich ein möglichst instruktives Bild ergibt. Bei k=10 und einem Ton von 1000 Hertz – das entspricht einem sehr hohen Sopranton – liegen die beiden gegeneinander aufzutragenden Werte ungefähr eine Viertelperiode auseinander; das ist der für die Darstellung optimale Zeitverzug.

Das so erzeugte Bild einer Sinusschwingung ist eine Ellipse (wenn der Verzug genau eine Viertelperiode ist, sogar ein Kreis). Kommt die erste Oberschwingung (der Ton eine Oktav höher) mit etwas geringerer Intensität hinzu, deformiert sich die Ellipse oder verknotet sich sogar (Bild links unten, links). Interessanterweise macht sich ein – nicht hörbarer – Unterschied in der Phase der beiden Schwingungen im Bild bemerkbar. Höhere Oberschwingungen ergeben merkwürdige blütenförmige Muster, wenn der Zeitverzug geeignet gewählt wird (Bild links unten, rechts), und ein Dreiklang wird zu einer komplizierten Kringelkurve, die – etwas ausgebaut – schon fast eine Verzierung für den alten Zehnmarkschein abgegeben hätte (Bild oben). Dagegen macht ein hoher, sehr geräuschreicher Flötenton ein Graufeld, in dem kaum noch Struktur zu erkennen ist (Bild Seite 115 unten).

Unter welchen Bedingungen fügen sich diese isolierten Einzelpunkte, wenn man nur genügend viele von ihnen nimmt, zu so wohlgeformten Kurven? Stellen wir uns vorübergehend vor, die oben genannte funktionale Abhängigkeit sj+1=f(sj) würde tatsächlich gelten. Wenn dann nur der erste Wert s1 der Folge vorgegeben ist, sind alle anderen bereits eindeutig bestimmt und durch Anwendung der Vorschrift f berechenbar: s2=f(s1), s3=f(s2), s4=f(s3) und so weiter. Weil f immer wieder (iteriert) angewandt wird, nennt man sie auch Iterationsfunktion.

Dies ist ein diskretes dynamisches System, "diskret" deshalb, weil die Zeit nicht kontinuierlich, sondern in Einzelschritten verläuft: Der Zustand des Systems ändert sich nicht allmählich, sondern sprunghaft jedesmal, wenn eine gedachte Uhr tickt. Trägt man nun wie oben für ein solches dynamisches System die Wertepaare (sj,sj+1) in ein Koordinatensystem ein, so ergibt sich eine wohlgeformte Kurve. Auf den zweiten Blick ist das einleuchtend: Da stets sj+1=f(sj) ist, handelt es sich um die Punkte (sj,f(sj)), und die gehören sämtlich zur Kurve der Funktion f. Wenn man eine feste Anzahl von Datenpunkten überspringt, ergibt sich immer noch eine – im allgemeinen etwas kompliziertere – Kurve: Die Punkte (sj,sj+k) gehören zur Kurve der Funktion g, die darin besteht, k-mal hintereinander die Funktion f anzuwenden.

Ein Sinuston erzeugt also eine ebenso schöne Kurve wie ein diskretes dynamisches System der beschriebenen Art. Der Umkehrschluß, daß dann der Ton selbst durch ein solches System erzeugt sein müsse, trifft zwar schon deswegen nicht zu, weil die Tonerzeugung – vom CD-Spieler und ähnlichen Geräten abgesehen – ein kontinuierlicher und kein diskreter Prozeß ist. Trotzdem sagt uns die Ähnlichkeit der Autokorrelationsbilder etwas über den Ton aus: Eine Sinuskurve (gegebener Frequenz) ist so durchschaubar, daß man nur einen Meßwert braucht, um den Wert der Funktion eine Viertelperiode – oder einen beliebigen Bruchteil einer Periode – später vorherzusagen. Na ja, fast: Da aus dem einen Meßwert noch nicht hervorgeht, ob die Sinuskurve in diesem Moment steigt oder fällt, stehen für den vorherzusagenden Zukunftswert zwei Möglichkeiten zur Auswahl. In der Tat hat die Ellipse für jeden x-Wert zwei y-Werte zu bieten. Aber es sind eben nur zwei und nicht unendlich viele mögliche Werte, wie das bei einem zufallsbestimmten Prozeß der Fall wäre.

Ein Autokorrelationsbild kann indes nicht nur bestätigen, daß eine Zahlenfolge wie die der Werte eines Sinustons sich so verhält, als ob sie aus einer einfachen Iterationsfunktion hervorgegangen wäre. Es hilft auch, zwischen echtem Zufall und deterministischem Chaos zu unterscheiden. Im ersten Fall ergibt sich ein mehr oder weniger strukturloses Graufeld, im zweiten möglicherweise die wohlgeformte Kurve der Iterationsfunktion – oder etwas Komplizierteres.

Daß jeder Wert ausschließlich von seinem unmittelbaren Vorgänger abhängt, ist nämlich nur der einfachste Fall eines diskreten dynamischen Systems. Es könnten auch die zwei letzten Werte sein. Die Iterationsvorschrift hat in diesem Fall die Form sj+1=f(sj,sj–1). Entsprechend gibt es auch dynamische Systeme, deren jeweils neuester Wert von den drei, vier, … letzten Werten abhängt. Man sagt dann, ein solches System habe die Dimension 2, 3, 4 und so weiter, je nachdem, auf wie viele frühere Werte die Iterationsfunktion zurückgreift. Die Dimension ist hier wie im mathematischen Sprachgebrauch üblich die Anzahl der Zahlen, die benötigt werden, um den Zustand eines Systems vollständig zu beschreiben. In der Tat ist die Zeitentwicklung eines zweidimensionalen Systems erst vollständig bestimmt, wenn zwei Anfangswerte vorgegeben sind.

Der Unterschied zwischen

Zufall und Chaos

Die Rekonstruktion einer Iterationsfunktion aus dem Autokorrelationsbild kann für höherdimensionale Iterationsfunktionen nicht mehr so ohne weiteres funktionieren. Eine Funktion zweier Variablen braucht zu ihrer graphischen Darstellung schon drei Koordinaten (und sieht dann aus wie eine Gebirgslandschaft auf ebener Grundfläche). Man müßte also, um nicht eine von drei Koordinaten zu vernachlässigen, die Punkte (sj,sj+1,sj+2) beziehungsweise (sj,sj+k,sj+2k) in eine dreidimensionale Darstellung eintragen. Die zwei Dimensionen des Papiers sind dafür etwas knapp; Monro und Pressing behelfen sich, indem sie zum Beispiel die dritte Dimension durch Farbe darstellen (Bild oben).

Dabei ergibt sich eine Überraschung. Selbst bei Vernachlässigung der Farbe (sprich der dritten Dimension) scheint das Bild keineswegs eine ganze Fläche zu füllen. Es sieht vielmehr aus wie eine einzelne, etwas verschwommene Kurve oder wie sehr viele Kurven mit Lücken dazwischen: mehr als eindimensional, aber nicht ganz zweidimensional.

Dieser erste Eindruck läßt sich mathematisch zu einem wohldefinierten, verallgemeinerten Dimensionsbegriff ausbauen. Dieser ist auch nicht davon abhängig, ob das dynamische System diskret oder kontinuierlich ist oder in welcher von vielen möglichen Formen es dargestellt wird. Es stört also auch nicht, daß die Vorstellung, ein Ton werde durch eine Iterationsfunktion erzeugt, völlig realitätsfern ist.

Ein Satz von Floris Takens von der Universität Groningen (Niederlande) versichert uns, daß diese Art der Analyse auf dynamische Systeme der verschiedensten Art anwendbar ist. Vielleicht wissen wir nicht, wie viele Variable zur vollständigen Beschreibung eines Systemzustands benötigt werden. Aber wenn es nur endlich viele sind – Chaos ist erlaubt, aber der reine Zufall nicht –, dann genügt es, eine einzige der Systemvariablen hinreichend häufig zu messen und die Verallgemeinerung eines Autokorrelationsbildes mit hinreichend vielen Dimensionen aufzustellen. Abgesehen von exotischen Sonderfällen kann man daraus so gut wie immer die Dimension eines Prozesses berechnen; sie ist im allgemeinen keine ganze Zahl ("fraktale Dimension").

Das ist das Schöne an der Chaostheorie: Ihre abstrakten Sätze sind alles andere als einfach; aber die wesentlichen Phänomene werden bereits sichtbar, wenn man eine Serie von Meßwerten auf geschickte Weise bildlich darstellt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2000, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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  • Infos
Gordon Monro´s Homepage -> http://www-personal.usyd.edu.au/~gmonro/
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