Direkt zum Inhalt

Ein ungewöhnlicher Gendefekt als Ursache eines erblichen Krampfleidens

Bei Mäusen wurde eine neue Mutationsform gefunden. Sie bewirkt, daß zu wenig Rezeptoren für den chemischen Signalüberträger bestimmter Nervenzellen gebildet werden. Die Folge ist eine Neigung zu spastischen Lähmungen, die der Schreck-Krankheit beim Menschen ähnelt.

Anfang der sechziger Jahre entdeckten Forscher in den Jackson-Laboratorien in Bar Harbor (Maine) eine eigenartige Maus-Mutante. Die Tiere entwickelten sich bis zu einem Alter von zwei Wochen völlig normal, bekamen dann aber gelegentlich Krämpfe und trippelten in kurzen Schritten auf den Zehenspitzen; berührte man sie, wurden sie steif, bogen den Rücken wie eine Katze, fingen an zu zittern und fielen um. Nach dem Anfall standen sie auf, als wenn nichts geschehen wäre.

Das gelegentliche Zittern der spastischen Mäuse, wie man sie nach ihrem Verhalten nannte, und ihre durch äußere Reize wie Berühren ausgelöste Steifheit glich den Symptomen einer menschlichen Erbkrankheit: der Hyperekplexie. Die betroffenen Personen zeigen übermäßige Schreckreaktionen, indem sie zum Beispiel beim geringsten Geräusch zusammenfahren.

Erst 1982 wiesen die amerikanischen Neurologen A. Heller, M. Hallet und F. White nach, daß die Symptome der spastischen Maus mit einer gestörten Übertragung von Nervensignalen zusammenhängen und denen einer Vergiftung mit Strychnin ähneln. Dieses Alkaloid aus dem Samen des indischen Brechnuß-Baumes wirkt auf die Motoneuronen im Rückenmark, welche die Muskeln innervieren. Genauer gesagt, verwehrt es einem Überträger von hemmenden Nervensignalen, dem Neurotransmitter Glycin, den Zugang zu seinem Rezeptor, indem es sich selbst daran heftet. Dadurch löst es Krämpfe aus, die bei höherer Dosis den Tod durch Atemstillstand herbeiführen können.

Cord-Michael Becker vom Zentrum für Molekulare Biologie und der Neurologischen Klinik in Heidelberg ging Ende der achtziger Jahre diesem Hinweis nach und untersuchte die Glycin-Rezeptoren im Rückenmark von normalen und spastischen Mäusen. Wie er herausfand, unterscheiden sich die Rezeptor-Moleküle jedoch nicht in Aufbau und Eigenschaften, nur haben die kranken Tiere weitaus weniger davon. Ihre Motoneuronen werden mithin kaum gehemmt und reagieren deshalb schon auf den geringsten Reiz; so kommt es zu den Muskelkrämpfen.

Demnach schien die Übererregbarkeit der spastischen Mäuse nicht auf einem veränderten Glycin-Rezeptor zu beruhen, sondern auf einer Mutation an einem Protein, das – womöglich indirekt – die Menge an Rezeptor reguliert. Diese Mutation im Netzwerk der 10000 Proteine einer Nervenzelle zu finden schien aber so gut wie aussichtslos.

Obwohl Becker damals als Heisenberg-Stipendiat darauf angewiesen war, in begrenzter Zeit positive Ergebnisse vorzuweisen, um seine Chancen auf eine weitere wissenschaftliche Karriere zu wahren, wagte er es, das schwierige Problem mit ungewissem Ausgang weiterzuverfolgen. So fand er vor gut fünf Jahren schließlich heraus, daß es zwei Varianten des Glycin-Rezeptors gibt: eine embryonale und eine adulte. Die embryonale besteht aus alpha2-Untereinheiten und wird, wenn die Maus zwei Wochen alt ist, von der adulten abgelöst. Zur gleichen Zeit aber entwickeln sich bei der Mutante die spastischen Symptome. Dies deutete darauf hin, daß dem Leiden eben doch eine Mutation in den (adulten) Glycin-Rezeptor-Genen zugrunde liegen muß; denn die embryonale Form war im Gegensatz zur adulten in der richtigen Menge vorhanden. Dagegen sollten bei einer Mutation in einem regulatorischen Protein beide Formen in zu geringer Zahl gebildet werden.

Nun wußte man Anfang dieses Jahrzehnts zwar immer noch nicht, welches Gen von der Mutation spastic betroffen ist; aber schon seit Beginn der achtziger Jahre war bekannt, daß es auf Chromosom 3 liegt. Becker versuchte deshalb, die Position der Glycin-Rezeptor-Gene zu bestimmen. Läge eines davon gleichfalls auf Chromsom 3, wäre dies ein starkes Indiz, daß es sich um dasselbe handelte, das bei kranken Tieren mutiert ist. Auf Beckers Anregung hin unternahm es deshalb Jean-Louis Guenet vom Institut Pasteur in Paris, ein Spezialist für die Kreuzung von Mäusestämmen, das Gen für die beta-Untereinheit des Glycin-Rezeptors zu lokalisieren. Tatsächlich stellte sich heraus, daß es auf Chromosom 3 liegt – und zwar ungefähr an derselben Stelle wie spastic.

Becker hatte freilich nicht von ungefähr in der beta-Untereinheit das langgesuchte Corpus delicti vermutet, sondern aus anderen Versuchen bereits einen begründeten Verdacht geschöpft. Bei einem davon trennten er und sein Doktorand Cornel Mülhardt die gesamte Boten-RNA (mRNA) des Rückenmarks von gesunden und kranken Tieren jeweils in einem Gel der Größe nach auf und zogen sie auf eine Membran auf. Zu diesen Präparaten gaben sie radioaktiv markierte Teilstücke von beta-Untereinheit-DNA, welche die Gruppe von Heinrich Betz am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main zur Verfügung stellte (sie arbeitet an der Struktur der Glycin-Rezeptor-Gene normaler Mäuse). Diese DNA-Abschnitte verbanden sich nun jeweils mit den passenden RNA-Gegenstücken auf der Membran und schwärzten an diesen Stellen einen darübergelegten Film.

Das Ergebnis war aufschlußreich: Bei normalen Mäusen heftete sich die Sonden-DNA nur an einer Stelle an die Membran und erzeugte somit lediglich einen Fleck; bei spastischen Mäusen tauchten dagegen drei Banden auf – eine, die der beta-mRNA von gesunden Tieren entsprach, und zwei mit kürzeren Nucleinsäureketten. Offensichtlich ist bei spastischen Mäusen die meiste beta-mRNA verstümmelt, so daß unvollständige beta-Untereinheiten entstehen. Der Glycin-Rezeptor bildet sich aber nur, wenn sich zwei vollständige beta- und drei alpha1-Untereinheiten zusammenlagern. Es können also nicht mehr Glycin-Rezeptoren entstehen, als intakte beta-mRNA vorhanden ist – und das ist bei spastischen Mäusen zu wenig. Da die Zelle die verstümmelten mRNAs und die unvollständigen beta-Untereinheiten schnell abbaut, hatte Becker in den kranken Tieren anfangs nur intakte Glycin-Rezeptoren gefunden.

Wie aber kommt es zu der Verstümmelung? Dazu muß man wissen, daß die Gene höherer Lebewesen zwischen DNA-Abschnitten, in denen die einzelnen Teile des entsprechenden Proteins verschlüsselt sind (sogenannte Exons), Bereiche enthalten (Introns), die keine erkennbar sinnvolle Information tragen und deshalb vor der Translation, also der Übersetzung der mRNA in das Protein, herausgeschnitten werden – ein als Spleißen bezeichneter Vorgang.

Mülhardt analysierte nun die verstümmelten mRNAs und stellte fest, daß ihnen das fünfte und teilweise zusätzlich das vierte der insgesamt acht Exons fehlt (Bild 1). Zur Überprüfung dieses Befundes fügte er zu Hirnschnitten normaler und spastischer Mäuse kurze radioaktive DNA-Stücke, die sich nur an Exon V anlagern und damit Ort und Menge der kompletten beta-mRNA im Hirn anzeigen. Tatsächlich band sich an die Schnitte spastischer Mäuse fast keine Sonden-DNA (Bild 2). Diese Nager verlieren also beim Spleißen Exons.

Was ist der Grund dafür? Die gemeinschaftliche Untersuchung des beta-Gens in den Labors von Mülhardt und Betz zeigte, daß das Intron 5 bei der spastischen Maus um etwa 7000 Basenpaare länger ist als bei der normalen. Als Mülhardt einen Teil des Einschubs sequenzierte, fand er Abschnitte, die denen von Retrotransposonen ähneln – Genen, die von Chromosom zu Chromosom springen können. Dieses Transposon bewirkt, daß beim Spleißen der RNA-Abschrift des Gens für die beta-Untereinheit das Exon V (und manchmal zusätzlich Exon IV) mit herausgetrennt wird. Damit war nicht nur der genetische Hintergrund der Krampfanfälle spastischer Mäuse erklärt, sondern auch eine neue Form der Rezeptor-Mutation gefunden worden ("Neuron", Band 13, Seite 1003, Oktober 1994).

Parallel zur Veröffentlichung von Becker und Mülhardt in der Zeitschrift "Neuron" erschien in "Nature Genetics" ein Artikel, in dem Stephen Kingsmore und seine Mitarbeiter am Howard-Hughes Medical Institute in Dallas (Texas) die Mutation der spastischen Maus ebenfalls mit dem Einbau eines Transposons in Verbindung brachten. Allerdings orteten die amerikanischen Forscher den Einschub fälschlicherweise in Intron 6 statt 5 und übersahen zudem die Verstümmelung der beta-mRNA.

Inzwischen haben sich bei anderen Mausmutanten auch Veränderungen im alpha1-Gen des Glycin-Rezeptors gefunden. Damit stehen jetzt Modelle für die erblichen Formen der Hyperekplexie des Menschen zur Verfügung.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.