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Ein virtueller Dummy zur Simulation des Schädel-Hirn-Traumas



Bei fast 70 Prozent aller Autounfälle mit Personenschäden werden Kopf und Gehirn schwer verletzt. Entsprechend wichtig ist es für die Behandlung eines solchen Traumas wie auch für die Entwicklung geeigneter Schutzvorrichtungen, die physikalischen Abläufe besser zu verstehen, die eine Verletzung der Gewebe verursachen.

Adolf Anzelius vom Pathologischen Institut der Universität Lund (|Schweden|) versuchte 1943 als erster, das Gehirn zu modellieren: Er verfolgte die Ausbreitung von Wellen in einer kugelförmigen flüssigen Masse. In der Folge entstanden nicht nur weitere physische, sondern auch mathematische Phantome.

Allerdings lassen sich Gleichungen, die das Einwirken von Kräften auf den Kopf beschreiben, nur dann exakt lösen, wenn der als Kugel oder Ellipsoid idealisiert wird. Numerische Näherungsverfahren erlauben es, diese Beschränkungen zu überwinden; meist nutzt man die Finite-Elemente-Methode (|FEM|).

Grundlage der dafür benötigten Geometriebeschreibung von Schädel und inneren Gewebestrukturen sind dreidimensionale Datensätze, die man mit einem Magnetresonanztomographen aufnimmt. Bildelemente, die zur gleichen organischen Struktur gehören, werden in einer Vorverarbeitung einheitlich gekennzeichnet (|Spektrum der Wissenschaft, Juni 1997, Seite 107|); nach diesem Schlüssel lassen sich dann den geometrischen Teilbereichen Materialeigenschaften zuschreiben.

Die Methode der finiten Elemente erfordert, wie der Name schon sagt, eine diskrete Beschreibung des kontinuierlichen Objekts Kopf (|Spektrum der Wissenschaft, März 1997, Seite 90|). Dazu ersetzt man es durch Volumeneinheiten (Voxel), die über gemeinsame Knotenpunkte interagieren. Im einfachsten Falle generiert ein Programm ein isotropes, also in jeder Richtung gleichartiges Netz aus Würfeln, indem es für jeden eine definierte Anzahl ohnehin würfelförmiger Voxel des segmentierten Datensatzes vereint. Die am häufigsten in einem finiten Element vorkommenden Materialien bestimmen sein charakteristisches mechanisches Verhalten (|Bild 1|).

Unter der Annahme, die verschiedenen Gewebe seien elastisch, isotrop und in sich homogen, läßt sich ihre Reaktion auf einwirkende Kräfte mit zwei Parametern beschreiben: Der Elastizitätsmodul gibt ihre Steifigkeit an und die Poissonsche Zahl das Verhältnis von Längsdehnung und Querkontraktion unter Zug.

Die räumliche Auflösung des Netzes, also die Größe der Elemente, und die Form dieser Voxel bestimmen maßgeblich die Qualität der Ergebnisse und die Stabilität des Verfahrens. Denn je feiner man das Kopfvolumen unterteilt, desto genauer läßt sich rechnen und desto besser werden auch die Konturen der Gehirnstrukturen erfaßt. Deswegen nutzt unser Netzgenerator den Umstand, daß sich ein Würfel in sechs identische Tetraeder zerlegen läßt.

Die dynamische FE-Analyse ermöglicht nun, die zeitliche Entwicklung von Deformationen infolge schockartig einwirkender Kräfte zu studieren. Dazu werden Differentialgleichungen, welche die physikalischen Vorgänge allgemein modellieren, in Matrixgleichungen umgewandelt: Die Steifigkeitsmatrix spiegelt das elastomechanische Verhalten des Kopfes wider, die Massenmatrix modelliert je nach Materialdichte die Trägheit des beschleunigten Systems, und eine dritte beschreibt die Dämpfung der sich im Kopf ausbreitenden Druckwellen. Mit mathematischen Standardverfahren lassen sich dann Beschleunigungen, Geschwindigkeiten und Verschiebungen der Netzknoten für beliebige Zeitpunkte berechnen.

In unserer ersten klinischen Simulation analysierten wir das Stoß-Gegenstoß-Phänomen (|Coup-Contrecoup genannt|): Wird beispielsweise der Kopf eines Autofahrers durch das Auffahren eines nachfolgenden Wagens nach hinten beschleunigt, schlägt das in Flüssigkeit gepolsterte Gehirn zunächst aufgrund seiner Trägheit gegen das Schädelinnere im Stirnbereich, wird daraufhin in Gegenrichtung beschleunigt und prallt dann, weil die Rückwärtsbewegung der festen Kopfstrukturen inzwischen gestoppt ist, auch noch auf den Knochen im Hinterhauptsbereich.

Wir modellierten diese Vorgänge, indem wir an einem Netzknoten in der Stirngegend eine Kraft angreifen ließen, deren Zeitverlauf Experimenten zufolge etwa einer halben Sinusschwingung folgt. Das Maximum ist nach fünf Millisekunden (|tausendstel Sekunden|) erreicht, der typischen Einwirkungsdauer schockartiger Schläge.

Anfangs breiten sich die mechanischen Spannungen schnell im Schädel aus (|Bild 2|). Im Stirnhirn entsteht dann allmählich ein Gebiet negativer, im Okzipitalhirn ein sich ausbreitendes Areal positiver mechanischer Spannung. Da erstere der einwirkenden Kraft entgegenwirkt, wird im Stirnhirn der Druck zu- und auf der Gegenseite abnehmen. Eine solche Interpretation entspricht recht gut dem medizinischen Wissen über das Coup-Contrecoup-Phänomen.

Um von der qualitativen zu einer quantitativen Validierung der Simulation zu kommen, verglichen wir die Berechnungen mit den Daten von Kadaver- Experimenten, die der amerikanische Mediziner Alan Nahum 1977 an der Universität San Diego (|Kalifornien|) durchgeführt hat. Er setzte Leichen einem definierten Stoß aus und maß die resultierenden Druckveränderungen an mehreren Stellen im Gehirn. Die weitgehende Übereinstimmung dieser und unserer Werte bestätigt ebenfalls die Eignung des virtuellen Gehirndummys.

Unser Modell bedarf freilich weiterer Entwicklung. So sind die Hirnhäute noch nicht berücksichtigt. Auch das nichtlineare Materialverhalten, wie es etwa beim Bruch des Schädelknochens vorkommt, soll einbezogen werden. Nach entsprechenden Ergänzungen dürfte sich das Computer-Phantom außer zum Studium traumatischer Verletzungen auch dafür eignen, andere Massenveränderungen im Kopf zu prognostizieren, wie sie etwa nach der Operation eines Gehirntumors auftreten, so daß sie besser behandelt werden können.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1997, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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