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Eine Alternative zum Inflationsmodell

Falls die neue Kosmologie versagen sollte, zeichnet sich am Horizont eine Alternative zum Inflationsmodell ab. Einige Forscher spielen mit der Idee, die Lichtgeschwindigkeit könnte früher einen höheren Wert gehabt haben als heute – einstweilen freilich pure Spekulation.


Auch wenn die Theorie der kosmischen Inflation den Nimbus der Unbesiegbarkeit erlangt hat, ziehen alternative Theorien weiterhin einiges Interesse auf sich. Die Steady-State-Theorie, die bis in die sechziger Jahre als wichtigste Alternative zum Urknallmodell galt, wird von einer kleinen Gruppe von Befürwortern weiter am Leben erhalten. Die Vor-Urknall-Theorie – eine durch die String-Theorie angeregte Überarbeitung des Inflationsmodells – gewinnt ebenfalls einige Aufmerksamkeit. Aber die vielversprechendste und provokanteste Alternative ist wohl die Theorie der veränderlichen Lichtgeschwindigkeit oder VSL-Theorie (varying-speed-of-light theory), die meine Kollegen und ich seit einigen Jahren entwickeln. Diese abweichenden Ansichten bringen zumindest Abwechslung und Farbe in die Kosmologie – und verleihen einem nagenden Zweifel Ausdruck: Könnte der vom Inflationsmodell und seinen Abwandlungen ausgelöste Enthusiasmus einen monströsen Irrtum überdecken?

Die üblichen kosmologischen Theorien, etwa die der Inflation, beruhen auf einer entscheidenden Annahme: dass die Lichtgeschwindigkeit und andere fundamentale physikalische Parameter zu allen Zeiten denselben Wert hatten. Darum heißen solche Größen ja auch Naturkonstanten. Diese Annahme zwang die Kosmologen, die Inflation mitsamt ihren fantastischen Schlussfolgerungen zu akzeptieren. Und tatsächlich zeigen die Experimente, dass die mutmaßlichen Konstanten sich mit der Zeit nicht dramatisch verändern. Aber die Forscher haben die Größen nur über die letzten paar Milliarden Jahre hinweg untersucht. Das Postulat, sie seien seit Anbeginn des Universums konstant geblieben, kommt einer äußerst gewagten Extrapolation gleich. Könnten die vermeintlichen Konstanten in einem Urknall-Universum tatsächlich mit der Zeit variieren – so wie dessen Temperatur und Dichte?

Die Theoretiker finden, einige Konstanten könnten ihren Status eher aufgeben als andere. Zum Beispiel wurden die Gravitationskonstante G und die Elektronenladung e schon öfters ohne großes Aufsehen theoretisch in Frage gestellt. Von Paul Diracs bahnbrechender Arbeit über veränderliche Konstanten aus den dreißiger Jahren bis zu den neuesten String-Theorien gehört es schon fast zum guten Ton, die Gravitationskonstante G zu entthronen. Hingegen blieb die Lichtgeschwindigkeit c sakrosankt. Der Grund ist klar: Die Konstanz von c und ihr Status als universelle Grenzgeschwindigkeit sind Fundamente der Relativitätstheorie. Der Einfluss der Relativitätstheorie ist so groß, dass die Konstanz von c nun in allen mathematischen Werkzeugen der Physiker steckt. "Variable Lichtgeschwindigkeit" ist nicht einmal ein unfeines Wort; der Ausdruck existiert überhaupt nicht im physikalischen Vokabular.

Dennoch könnte es den Kosmologen nicht schaden, ihre Sprache zu erweitern. Im Zentrum der Inflationstheorie steht das so genannte Horizontproblem der Urknall-Kosmologie: Zu jeder beliebigen Zeit seit dem Urknall kann das Licht – und damit auch jede Wechselwirkung – nur eine begrenzte Entfernung zurückgelegt haben. Als das Universum zum Beispiel ein Jahr alt war, konnte das Licht nur – ungefähr – ein Lichtjahr hinter sich gebracht haben. Das Universum ist daher durch Horizonte fragmentiert, die Regionen abgrenzen, welche füreinander unsichtbar sind.

Die Kurzsichtigkeit des Universums ist für Kosmologen äußerst irritierend. Sie schließt physikalische Erklärungen – das heißt solche, die auf physikalischen Wechselwirkungen beruhen – für die Frage aus, warum das frühe Universum so gleichförmig war. Im Rahmen der Standard-Urknalltheorie lässt sich die Gleichförmigkeit nur durch Feinabstimmung der Anfangsbedingungen erklären – eigentlich ein Rückgriff auf Metaphysik.

Das Inflationsmodell umgeht dieses Problem geschickt. Es profitiert von der Tatsache, dass für eine Lichtwelle in einem expandierenden Universum die Entfernung zum Startpunkt größer ist als die zurückgelegte Strecke – denn die Expansion dehnt den bereits zurückgelegten Weg immer weiter aus. Zur Veranschaulichung stellen wir uns einen Autofahrer vor, der eine Stunde lang mit einer Geschwindigkeit von 60 Kilometer pro Stunde fährt. Der Fahrer hat zwar auf der Straße 60 Kilometer zurückgelegt, aber wenn die Straße selbst in der Zwischenzeit länger wurde, ist die Entfernung vom Ausgangspunkt am Ende größer als 60 Kilometer. Die Inflationstheorie postuliert nun für das frühe Universum eine derart schnelle Expansion, dass die Reichweite des Lichtes ungeheuer groß war. Scheinbar unzusammenhängende Regionen standen dadurch miteinander in Verbindung und erreichten eine gemeinsame Temperatur und Dichte. Erst als die inflationäre Expansion aufhörte, verloren diese Regionen den Kontakt.

Wie leicht einzusehen ist, könnte dasselbe ebenso gut durch eine im frühen Universum erhöhte Lichtgeschwindigkeit erreicht worden sein. Dieser Gedanke brachte Andreas Albrecht von der University of California in Davis, John Barrow von der Universität Cambridge und mich auf die VSL-Theorie. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung verfolgten wir damit nicht die Absicht, die Befürworter der Inflation zu ärgern; Albrecht ist sogar einer der Väter der Inflationstheorie. Wir meinten, Vorzüge und Mängel der Inflation würden deutlicher, wenn es eine Alternative gäbe, und sei sie noch so unausgegoren.

Brutaler Anschlag auf Einstein

Natürlich verlangt die VSL-Theorie ein Überdenken der Grundlagen und der Sprache der Physik, und aus diesem Grund sind viele verschiedene Realisierungen denkbar. Unser allererster Vorschlag kam einem brutalen Anschlag auf die Relativitätstheorie gleich – allerdings mit dem mildernden Umstand, dass er außer dem Problem des gleichförmigen Universums viele weitere Rätsel löste. Zum Beispiel erklärt unsere Theorie den winzigen, aber von Null verschiedenen Wert der kosmologischen Konstante im heutigen Universum. Der Grund ist, dass die von der kosmologischen Konstante repräsentierte Vakuumenergiedichte sehr stark von der Lichtgeschwindigkeit c abhängt. Eine angemessene Senkung von c reduziert die andernfalls dominierende Vakuumenergie auf ein harmloses Niveau. In den üblichen Theorien hingegen lässt sich die Vakuumenergie nicht verdünnen.

Aber unsere Formulierung ist nur eine Möglichkeit, und das Bemühen, die VSL-Theorie mit der Relativitätstheorie zu versöhnen, regt zur Zeit einige Forschungsarbeiten an. John Moffat von der Universität Toronto (Kanada) und später Ian T. Drummond von der Universität Cambridge versuchten durch behutsamere Versionen der VSL-Theorie den Relativitätstheoretikern entgegenzukommen. Wie es scheint, ist die Konstanz von c letztlich gar nicht wesentlich für die Relativitätstheorie; die Theorie kann auf anderen Postulaten aufgebaut werden. Wenn das Universum der String-Theorie zufolge eine dreidimensionale Membran in einem höherdimensionalen Raum ist, könnte die scheinbare Lichtgeschwindigkeit in unserer Welt variieren, während das eigentlich fundamentale c konstant bleibt.

Letztlich vermag nur das Experiment zu entscheiden, ob die Natur sich anfangs inflationär verhielt oder ob sie ein variables c vorzieht. Die VSL-Theorie ist derzeit viel weniger weit entwickelt als das Inflationsmodell; sie muss erst noch konkrete Aussagen über die kosmische Hintergrundstrahlung machen. Andererseits deuten einige Experimente darauf hin, dass die so genannte Feinstrukturkonstante vielleicht gar nicht konstant ist. Eine variable Lichtgeschwindigkeit würde solche Resultate erklären.

Ob diese Beobachtungen genauerer Prüfung standhalten, bleibt abzuwarten; zunächst stellt die VSL-Theorie die Theoretiker vor große Herausforderungen, denn sie rüttelt viel stärker an den Grundfesten der Physik als das Inflationsmodell. Vorläufig ist die VSL-Theorie noch weit davon entfernt, zur etablierten Physik zu gehören: Sie ist pure Spekulation.

Literaturhinweise


The Varying Speed of Light as a Solution to Cosmological Puzzles. Von Andreas Albrecht und João Magueijo in: Physical Review D, Bd. 59, Heft 4, Paper Nr. 043516; 15. Februar 1999.

Big Bang Riddles and Their Revelations. Von João Magueijo und Kim Baskerville in: Philosophical Transactions of the Royal Society A, Bd. 357, Heft 1763, S. 3221; 15. Dezember 1999.

Covariant and Locally Lorentz-Invariant Varying Speed of Light Theories. Von João Magueijo in: Physical Review D, Bd. 62, Heft 10, Paper Nr. 103521; 15. November 2000.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2001, Seite 42
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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