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Eine frühneuzeitliche wissenschaftliche Bibliothek - Ausstellung in Schweinfurt

Gut 450 Jahre sind vergangen, seit Copernicus das moderne heliozentrische Weltbild begründet hat. Archiv und Bibliothek der Stadt Schweinfurt nahmen dies zum Anlaß, in Zusammenarbeit mit der dortigen Bibliothek Otto Schäfer eine bemerkenswerte Sammlung astronomischer und mathematischer Drucke, Handschriften und Instrumente allgemein zugänglich zu machen.

Der am 19. Februar 1473 in Thorn an der Weichsel geborene Nikolaus Koppernigk hat sein Hauptwerk "De revolutionibus orbium coelestium libri sex" ("Sechs Bücher über die Umdrehungen der Bahnen der Himmelskörper") womöglich noch gedruckt gesehen: Ein erstes Exemplar, so berichtete der vertraute Freund Tiedemann Giese, sei am Todestage des Domherren, dem 24. Mai 1543, aus Nürnberg nach Frauenburg gelangt.

Dieses doppelt denkwürdige Datum ist – anders als vor zwei Jahrzehnten das 500. Geburtsjubiläum, das eine Fülle wissenschaftlicher und populärer Aktivitäten auslöste – merkwürdig unbeachtet geblieben. Eine Ausnahme bildet das Schweinfurter Ausstellungsprojekt. Die hier erstmals öffentlich gezeigten Copernicana aus der Schweinfurter Stadtbibliothek bilden eine in dieser Zusammensetzung einzigartige Gruppe:

- "De revolutionibus" in der von Jo-hannes Praetorius (1537 bis 1616) reich annotierten Erstausgabe von 1543,

- ein in nur drei Exemplaren (aus Schweinfurt, Krakau und Prag) bekannter Porträtstich, Copernicus mit dem Buch darstellend (Bild links),

- eine von sechs bekannten Abschriften des sogenannten Wapowski-Briefes (die übrigen werden in Berlin, Oxford, Paris, Uppsala und Wien aufbewahrt), in dem sich Copernicus 1524 mit der Trepidationstheorie – einer auf fehlerhaften Messungen beruhenden Annahme einer unregelmäßigen Kreiselbewegung der Erdachse – in der Formulierung des Nürnberger Mathematikers Johannes Werner (1468 bis 1522) kritisch auseinandersetzte, und

- die sogenannte "Narratio prima" des Georg Joachim Rheticus (1514 bis 1574), in der zweiten Auflage von 1541, in der dieser Wittenberger Mathematiker und Astronom – dem auch die Drucklegung des epochalen kopernikanischen Werkes zu verdanken ist – 1540 erstmals zusammenfassend über dessen Hauptinhalt berichtet hatte.

Diese vier Copernicana gehören zum Schweinfurter Bestand der Praetorius-Saxonius-Bibliothek, der bereits 1687 im Katalog der dortigen reichsstädtischen Bibliothek verzeichnet worden ist. Auf diese Sammlung war der Astronomiehistoriker Ernst Zinner in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts aufmerksam geworden. Er fand damals einen großen Teil der Bücher und Handschriften und einige Instrumente aus dem in der Wiener Nationalbibliothek aufbewahrten "Catalogus librorum et instrumentorum mathematicorum P. Saxonii" in der Stadtbibliothek Schweinfurt, in der Erlanger Universitätsbibliothek und in der Münchner Staatsbibliothek wieder; und es gelang ihm, viele dieser Bücher und Handschriften als früheren Besitz des Johannes Praetorius – nach dem Urteil des dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546 bis 1601) einer der führenden "mathematici" seiner Zeit – zu identifizieren, dessen Schüler und späterer Nachfolger als Mathematikprofessor an der Altdorfer Universität Petrus Saxonius (1591 bis 1625) war.

Auf der Grundlage von Zinners Forschungsarbeit und eigener Herkunftsanalysen im Altbestand der Schweinfurter Stadtbibliothek während der letzten Jahre konnte ich einen erneuten Versuch zur Rekonstruktion der Praetorius-Saxonius-Bibliothek unternehmen. Demnach können von dem im Wiener "Catalogus" inventarisierten Bestand, der 248 Bände mit Druckschriften, 70 Bände mit Handschriften und 33 Instrumente umfaßt, 118 Bände mit Druckwerken, 56 Bände mit Handschriften und drei Instrumente als identifiziert gelten.

Der in Schweinfurt überlieferte Teil dieser singulären Sammlung steht im Zentrum der Ausstellung. Ergänzt wird er durch Leihgaben gleicher Herkunft aus der Bayerischen Staatsbibliothek München, der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg und der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Abgerundet wird die Präsentation durch einschlägige Werke aus der Bibliothek Otto Schäfer und Leihgaben aus dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, den Städtischen Sammlungen Schweinfurt und aus Privatbesitz.

Aufgrund der herausragenden Qualität der Praetorius-Saxonius-Bibliothek umfaßt die Ausstellung das gesamte Spektrum der damaligen theoretischen und angewandten Mathematik und Astronomie – von der Antike (mit Werken von Archimedes, Aristoteles, Euklid, Proclus und Ptolemäus) über die arabische Astronomie bis hin zur Präzisierung und Revision des überkommenen und zur Entstehung des modernen Weltsystems im 15. und 16. Jahrhundert.

Für den Katalog haben die Astronomie-, Mathematik- und Wissenschaftshistoriker Menso Folkerts von der Universität München, Owen Gingerich vom Harvard-Smithsonian Center of Astrophysics in Cambridge (Massachusetts), David A. King von der Universität Frankfurt am Main, Uta Lindgren von der Universität Bayreuth und Felix Schmeidler von der Copernicus-Forschungsstelle der Universität München Beiträge geschrieben, die fachliche Orientierungshilfen bieten. Mit der Rekonstruktion der Praetorius-Saxonius-Bibliothek und ihrer bibliothekarischen Aufarbeitung, der Analyse ihrer Manuskripte und der Beschreibung ihrer Instrumente ist nun eine wichtige, bisher von der Forschung kaum genutzte Quelle zur Geschichte der mathematischen und astronomischen Wissenschaften im 16. Jahrhundert erschlossen.

Die Ausstellung "450 Jahre Copernicus ,De revolutionibus' – Astronomische und mathematische Bücher aus Schweinfurter Bibliotheken" ist noch bis zum 19. Juni 1994 jeweils am Mittwoch, Donnerstag und Sonntag von 14 bis 18 Uhr zu sehen. Der Katalog (440 Seiten, 200 Abbildungen) kostet DM 48,-.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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