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Eine 'Giftalge' mit vielen Tarnkappen

Der Dinoflagellat Pfiesteria hält sich oft lange versteckt. Taucht der Einzeller auf, vernichtet er ganze Fischschwärme und kann sogar Menschen vergiften. In letzter Zeit bedroht der Winzling ganze Ökosysteme.


Unmassen blutiger Leiber regen sich an der Wasseroberfläche um uns her. Während das Boot im ruhigen Delta der Neuse sanft vor sich hin dümpelt, steigen immer neue Fische vom Fluß her kommend im Brackwasser hoch, schnappen nach Luft, zucken noch eine Zeitlang – bis sie schließlich reglos auf der Seite treiben. Hauptsächlich sind es Atlantische Menhaden, ökologisch und wirtschaftlich bedeutende Heringsfische der ostamerikanischen Küste, deren Sterben wir an diesem schwülwarmen Oktobernachmittag 1995 in North Carolina zusehen. Vereinzelt tauchen auch einmal eine Flunder, ein Umberfisch oder ein Aal auf.

Nachdem wir Wasserproben gezogen haben, lichten wir eiligst den Anker. Denn falls unser Verdacht zutrifft, daß hier wieder einmal Pfiesteria piscicida ihr Unwesen treibt, könnten auch wir uns schwer vergiften. Dem merkwürdigen Einzeller, den die Wissenschaft überhaupt erst seit Ende der achtziger Jahre kennt, wurden seitdem bereits etliche Fischsterben in größeren Mündungsgebieten der amerikanischen Atlantikküste angelastet. Menschen, die mit dem Gift in Berührung gekommen waren, hatten unter diversen Symptomen gelitten, wie Übelkeit, Atembeschwerden und Gedächtnisstörungen. Mitunter waren die Ausfälle so stark gewesen, daß Ärzte zunächst fälschlich eine Alzheimer-Erkrankung diagnostiziert hatten.

Unser Verdacht bestätigt sich, wie die anschließende Untersuchung ergibt. Diesmal fallen dem giftigen Mikroorganismus 15 Millionen Fische zum Opfer, deren silbrige Leiber eine Wasserfläche von 20 Quadratkilometern bedecken. 1991 gingen im selben Ästuar vor North Carolina rund eine Milliarde zugrunde. Seitdem hatte P. piscicida, manchmal im Verein mit einer eng verwandten, noch namenlosen ebenfalls giftigen Art, offenbar fast jedes Jahr Fischbestände in Mündungsgebieten dieses Staates heimgesucht – und üblicherweise Hunderttausende bis Millionen von Fischen vernichtet. Auch weiter im Norden, in der Chesapeake Bay Marylands, hatte der gefährliche Einzeller in kleineren Ausbrüchen bereits mehrmals Tausende von Fischen umgebracht.

Im folgenden meine ich mit Pfiesteria außer den beiden bereits erwähnten Arten auch andere Angehörige des "toxischen Pfiesteria-Komplexes" (Spezies, die ähnlich aussehen, aber noch nicht eindeutig identifiziert sind). Inzwischen wurde Pfiesteria in Wasserwegen entlang der nordamerikanischen Ostküste von Delaware bis Alabama nachgewiesen, also von Mündungsgebieten südlich von Philadelphia bis in den Golf von Mexiko. Allerdings ist ein Zusammenhang mit Fischsterben bisher nur für North Carolina und Maryland belegt.

Pfiesteria
ist ein geradezu vertrackter Einzeller. An sich ordnen Wissenschaftler ihn den Dinoflagellaten zu, doch fällt er in vielem aus dem Rahmen. Manches an ihm war uns von anderen Dinoflagellaten bisher nicht bekannt. Zu dieser Gruppe der Einzeller zählen Tausende von planktonischen Süß- und Salzwasserarten, die in bestimmten Lebensstadien charakteristische lange Geißeln tragen, peitschenartige Auswüchse, mit denen sie schwimmen.

Pfiesteria
piscicida kommt in verschiedenen Gestalten daher – als Cyste, Amöbe oder begeißelter Organismus – und kann sich rasch verwandeln. Nicht in allen seiner rund zwei Dutzend Erscheinungsformen ist dieser Organismus giftig. In den letzten zehn Jahren haben meine Kollegen und ich eine Menge über den komplizierten Lebenszyklus dieses Plagegeistes herausgefunden (Diagramm auf der folgenden Doppelseite). Wir wissen nun auch einiges darüber, wieso er sich mitunter massenhaft vermehrt und unter welchen Bedingungen es zu toxischen Ausbrüchen kommt.

Wie unsere Forschungen zeigten, kann Pfiesteria auch anderen Meeresbewohnern schaden, und das geschieht oft auf eine viel subtilere Weise, was den Beständen unter Umständen letztlich viel mehr zusetzt als ein plötzlicher dramatischer Massenuntergang. Wale und Schalentiere wie Muscheln bringt der Einzeller nicht unbedingt gleich um, sondern er beeinträchtigt zum Beispiel ihr Fortpflanzungsvermögen und ihre Widerstandskraft gegen Krankheiten.

Allerdings nimmt nicht nur Pfiesteria an diesem stillen Vernichtungswerk teil. Wir wissen durch die Forschungen einer Reihe von Meeresbiologen von anderen "Giftalgen". Diese Bezeichnung ist allerdings bei Pfiesteria irreführend. Denn unter die Kategorie "Gift-" oder auch "Schadalgen" fallen zwar auch wirkliche einfache Pflanzen: echte Algen, die Chlorophyll bilden und Photosynthese betreiben. Doch dazu rechnen auch verschiedene – gewöhnlich einzellige – Organismen, die (wie Pfiesteria) zwar algenartig aussehen, aber keineswegs zu den Pflanzen zählen, sondern eher zu den Tieren. "Giftalgen" meint also im Grunde ein Sammelsurium von Lebewesen, die, wenn sie sich massenhaft vermehren, für Tiere gefährliche Konzentrationen von Giften absondern. (Spricht man in einem weiteren Sinne von "Schadalgen", können damit auch Organismen gemeint sein, deren Populationen so rasch wachsen, daß Fische ersticken, weil das Wasser allen Sauerstoffs beraubt wird.)

Verschiedenste Vertreter der Dinoflagellaten sind als Verursacher von Massenfischsterben berüchtigt. Wir wissen, daß auch Menschen, andere Säugetiere und Wasservögel schwer krank werden können, wenn sie mit den Giften in Berührung kommen, ob durch verseuchtes Wasser oder über Nahrung aus dem Meer (siehe "Giftalgenblüten", Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, S. 70). So sind bestimmte Dinoflagellaten für die "roten Tiden" verantwortlich, die seit Jahrtausenden an Küsten auftreten. Allerdings sind "Algenblüten" längst nicht alle toxisch. Viele rühren von nicht giftigen Mikroorganismen her.

Pfiesteria
wurde erst 1988 überhaupt entdeckt, von Veterinärmedizinern der Staatsuniversität von North Carolina in Raleigh. In einem Brackwasser-Zuchtbecken nach dem anderen gingen dort damals die Fische ein. Die Veterinäre bemerkten im Wasser der Fischbehälter einen schwimmenden Mikroorganismus, den sie als Dinoflagellaten bestimmten. Dann fiel ihnen auf, daß sich diese Zellen immer kurz vor Beginn des Fischsterbens anscheinend massenhaft vermehrten und anschließend verschwunden zu sein schienen. Doch sobald neue Fische in die Becken kamen, tauchten auch die Einzeller wieder auf.

In diesem Institut untersuchten die Forscher damals Fische aus aller Welt. Deswegen wußten sie nicht, woher der mysteriöse Organismus kam – und ob die Fachwelt ihn überhaupt kannte. So baten die Wissenschaftler 1989 meine Arbeitsgruppe vom Botanischen Institut der Universität um Unterstützung dabei, den Einzeller zu identifizieren und zu klären, ob er vielleicht für das Fischsterben verantwortlich sei.

Schon bald erkannten wir, daß dieses Geschöpf unter den Dinoflagellaten etwas Einzigartiges darstellt. Mitunter nahm es Gestalten an, die wir weder von toxischen noch von ungiftigen Vertretern dieser bunten Gruppe kannten. Solche Stadien erinnerten vielmehr an Goldalgen. Aber auch von den etwa sechzig Arten giftiger Dinoflagellaten hob der neue Mikroorganismus sich ab. Sie alle erzeugen zwar Toxine, die zu den giftigsten Stoffen in der Natur überhaupt gehören. Doch für die übrigen Arten ist bisher nicht erkennbar, daß sie sich dies irgendwie zunutze machen würden. Nicht so unser Neuling: Er vergiftet die Fische nicht nur – er frißt sie auch! Wir nannten ihn Pfiesteria piscicida (nach dem Dinoflagellaten-Experten Lois Pfiester und nach lateinisch pisces für Fisch).

Bald stellte unser Forschungsteam fest, daß dieser ungewöhnliche Mikroorganismus ungiftig ist, solange in der Nähe keine Fische auftreten. Enthält das Wasser aber Fischabsonderungen, ob Kot oder Sekrete, dann schüttet Pfiesteria Toxine aus – und schwimmt der Duftspur direkt entgegen. Das Gift zerfrißt die Haut der Fische, schädigt ihr Nervensystem und andere lebenswichtige Organe und macht sie zu träge für eine Flucht. Über das wehrlose Opfer fallen dann zumeist noch andere zerstörerische Mikroben her und verwandeln die Hautwunden in blutige Schwären. Die Dinoflagellaten selbst vertilgen Hautfetzen, Blut und andere Wundabsonderungen. Später durchlaufen sie eine Metamorphose: Aus schwimmenden Geißelträgern werden formveränderliche Amöben, die ihre Füßchen ausstrecken und wieder einziehen können. Diese mästen sich regelrecht an den Leichen, manchmal so exzessiv, daß sie fast nicht mehr kriechen können.

Toxische P. piscicida töten ausgesprochen effektiv. Schon leicht verseuchtes Wasser kann Fische und Muscheln umbringen, wie viele Labortests zeigten. Mein Mitarbeiter Howard B. Glasgow jr. hat dies genauer untersucht. Demnach sterben junge Tiere, und von empfindlichen Arten auch ältere, oft binnen Minuten nach Kontakt mit dem Gift, robustere binnen Stunden.

Etwas Besonderes ist auch die extreme Wandelbarkeit des Einzellers. Wir entdeckten, daß P. piscicida im Verlauf seines Lebenszyklus 24 verschiedene Gestalten annehmen kann – mindestens! Dergleichen war bisher von keinem toxischen Dinoflagellaten bekannt. Die Zelle ändert ihre Gestalt und Größe je nach vorhandener Nahrung. Sie frißt sich regelrecht quer durch die gesamte Nahrungskette des Meeres vom Bakterium bis zum Säugetiergewebe. Bei manchen Gestaltwechseln gewinnt sie – unter Umständen in kaum zehn Minuten – das 125fache an Volumen.

Zwei Jahre lang hatten wir Pfiesteria bereits im Aquarium untersucht und wußten immer noch nicht, woher der Organismus gekommen sein könnte. Die Forschungsergebnisse gaben uns aber erste Anhaltspunkte. Manches sprach dafür, daß diese Mördermikrobe in der Natur praktisch vor unserer Haustür lebt. Seit Mitte der achtziger Jahre, wenn nicht länger, wird das Albemarle-Pamlico-Ästuarsystem North Carolinas, zu dem auch der Fluß Neuse gehört, regelmäßig von Massenfischsterben heimgesucht. 1991 konnten wir mit Unterstützung behördlicher Biologen Wasserproben entnehmen, als in der Mündung des Pamlico eine Million Atlantische Menhaden verendeten.

Diese Proben brachten uns endlich auf die Spur. Im Rasterelektronenmikroskop erkannten wir kleine Dinoflagellaten, die genau wie diejenigen aus dem vergifteten Aquarienwasser aussahen. Und auch diese Mikroben schienen sich kurz nach dem Desaster regelrecht in nichts aufzulösen: Einen Tag später ließen die Einzeller sich in den Wasserproben, gewonnen direkt zwischen den Kadavern, schon nicht mehr nachweisen. War Pfiesteria etwa Schuld an dem Massenfischsterben? Alles sprach dafür. Offenbar hatten die Veterinäre unserer Universität die gefährlichen Einzeller aus der Umgegend in ihre Aquarien eingeschleppt.

 

Hochsicherheits-Labors


Doch rätselhaft blieb, wie es neuerdings zu den toxischen Ausbrüchen gekommen war. Was hatte sie ausgelöst? Eine Reihe von Labor- und Freilandstudien lassen inzwischen vermuten, daß unter anderem ein Überangebot an Nährstoffen, wie Stickstoff- und Phosphorverbindungen, die Katastrophen heraufbeschwört. Solche Substanzen gelangen allzu leicht vom Umland her in die vielfach flachen, langsam strömenden Fließgewässer North Carolinas, ob dies menschliche Abwässer sind, Düngemittel, Ableitungen der Industrie (insbesondere phosphatreiche Nebenprodukte) oder etwa Fäkalien aus Tierfarmen. In den überdüngten Gewässern wuchern aber die Algen, und diese bieten Pfiesteria in bestimmten seiner Lebensstadien hervorragende Weidegründe. Die Mikrobe vermehrt sich unter diesen Bedingungen stark – und diese Heerscharen stehen bereit, sowie Fischschwärme in ihrer Nähe erscheinen.

Außerhalb Alaskas ist das Mündungsgebiet Albemarle-Pamlico das zweitgrößte Ästuarsystem der USA. Es umfaßt etwa die Hälfte aller Jungfischgründe zwischen Maine und Florida. Das heißt: Die jungen Fische suchen gerade diese Gebiete auf und wachsen hier heran, bevor sie schließlich weiter nach Norden oder Süden ziehen. Wenn nun aber so viele davon eingehen, fehlt den anderen Populationen der Nachschub. Damit sind die Bestände an der gesamten Küste betroffen.

Leider mußten, wie gesagt, auch wir selbst Lehrgeld zahlen. Andere toxische Dinoflagellaten schaden dem Menschen für gewöhnlich durch den Verzehr vergifteter Meeresfrüchte. Die Arbeitsgruppe von David P. Green an unserer Universität fand aber keine Hinweise darauf, daß sich die Pfiesteria-Gifte im Fleisch von Fischen anreichern. Fische oder Schalentiere aus verseuchten Gewässern dürften uns demnach nichts ausmachen. Die Gefahr droht viel direkter: Durch Kontakt der Haut mit vergiftetem Wasser, ja selbst durch Einatmen der Luft über Fischen im Todeskampf.

Nach bestem Wissen hatten wir Vorsichtsmaßnahmen getroffen – gemäß der Auskunft von Experten für andere giftige Dinoflagellaten, daß nur der direkte Kontakt mit toxinversetztem Wasser gefährlich sei. Wir rechneten nicht damit, daß Pfiesteria ein flüchtiges Nervengift erzeugt, das wir bei den Laborarbeiten einatmeten. Von anderen Dinoflagellaten war dergleichen nicht bekannt.

Die ersten diffusen Symptome führten wir zunächst auf anderes zurück: Kurzatmigkeit auf Asthma, Juckreiz, Augentränen und Halskratzen auf Allergien, Kopfschmerzen und Vergeßlichkeit auf Stress. Bis eines Abend – 1992 – Howard Glasgow in ein kleines Labor ging, in dem wir anfangs mit Pfiesteria gearbeitet hatten. Der Raum war lange nicht mehr gereinigt worden, und Glasgow machte sich daran, Verdunstungsrückstände von toxischen Pfiesteria-Kulturen von den Wänden zu wischen. Aber nach wenigen Minuten begannen ihm die Augen zu brennen, und er bekam keine Luft mehr. Seine Glieder wollten ihm nicht mehr gehorchen, die Beine wurden taub, und er mußte sich übergeben. Irgendwie konnte er noch aus dem Labor hinauskriechen. Wir gaben dem Dreck in dem Raum die Schuld. In einem sauberen Labor, meinten wir, wäre das nicht passiert.

Wir weigerten uns, dieses Labor weiter zu benutzen, und erhielten neue Räume. Nach den Konstruktionsplänen hätte deren Belüftung abgeschottet sein müssen, doch aufgrund eines unerkannten Baufehlers wurde die Abluft aus dem neuen Pfiesteria-Kulturraum direkt in Howards Büro geblasen. Im Laufe der nächsten Monate verwandelte sich unser freundlich-heiterer, umsichtiger, zuverlässiger Kollege in einen höchst launischen Menschen, der ständig Dinge vergaß und verwechselte und einfachste Arbeiten nicht mehr fertigbrachte. Dieser hochintelligente Mann mit dem genauen Gedächtnis erinnerte sich plötzlich nicht mehr an Gespräche vom selben Tag. Schließlich ließ ihn nach einer Zeit intensiver Laborarbeit auch sein Langzeitgedächtnis im Stich: Er fand nicht mehr heim, wußte seine Telefonnummer nicht mehr, konnte kaum noch lesen und nur mühsam sprechen. Nach zwei Monaten erholte er sich und konnte wieder arbeiten. Aber noch zwei Jahre lang bekam er bei Anstrengungen immer wieder Rückfälle: Er bekam dann Gelenk- und Muskelschmerzen und war manchmal auch desorientiert.

Als wir endlich erkannten, daß Pfiesteria ein flüchtiges Gift produziert, hatte das Toxin insgesamt zwölf Mitarbeitern von vier verschiedenen Labors zugesetzt. Drei dieser Personen – darunter auch ich – leiden seitdem an chronischen Defekten, die wir zuvor nicht gehabt hatten. Ich selbst bekomme ständig Bronchitis und muß deswegen etwa ein Drittel des Jahres Antibiotika einnehmen. In den letzten sechs Jahren hatte ich 16 Lungenentzündungen.

Inzwischen arbeiten wir in Labors der Sicherheitsstufe III für bestimmte Klassen biologischer Gefahrenstoffe. Die Standards sind strenger als vielfach in der AIDS-Forschung. Es gibt unter anderem Luftschleusen und Räume zur Dekontaminierung. Außerdem tragen die Mitarbeiter Schutzanzüge mit integriertem Atemgerät für saubere Luft.

Die gleichen Symptome wie im Labor treten auf, wenn Menschen in der Natur mit dem Pfiesteria-Gift in Berührung kommen. Bei Fischsterben, die allen Anzeichen nach auf den Mikroorganismus zurückgingen, erlitten Fischer, Taucher und andere Personen Atemnot, Kopfschmerzen und starke Stimmungsschwankungen. Viele klagten über Gliederschmerzen, Verwirrung und Gedächtnisverlust. Klinische Untersuchungen haben dies bestätigt.

1997 hatte der Gouverneur von Maryland Teile der Chesapeake Bay nach drei kleineren Pfiesteria-Ausbrüchen für mehrere Wochen zum Sperrgebiet erklärt. Alarmiert von Berichten über seltsame Symptome bei Leuten, die sich dort aufgehalten hatten, veranlaßte das Gesundheitsministerium eine medizinische Nachforschung. Unter den Erkrankten waren einheimische Fischer, die diese Bucht von Jugend an kannten. Plötzlich hatten sie sich nicht mehr zurechtgefunden. Manche konnten das Gleichgewicht nicht mehr halten, viele sich nicht mehr auf etwas konzentrieren. Ein Ärzteteam unter Leitung von J. Glenn Morris jr. von der Universität von Maryland wies mit neurophysiologischen Tests "erhebliche" Lernbehinderungen bei den Fischern nach. Das Ausmaß hing direkt mit dem Grad der Exposition zusammen. Erst im Laufe von Monaten kamen die alten Fähigkei-ten wieder.

Noch ist es schwierig, das "Pfiesteria-Syndrom" an Patienten überhaupt sicher zu diagnostizieren. Die Toxine konnten – wie die vieler Giftalgen – noch nicht identifiziert werden. Solange aber läßt sich weder untersuchen, wie die Substanz in die Körperchemie eingreift, noch kann man Tests entwickeln, um sie im Gewebe oder Blut nachzuweisen. Doch Peter D. R. Moeller und John S. Ramsdell vom National Ocean Service in Charleston (US-Bundesstaat South Carolina) gelang es bereits, Komponenten von Pfiesteria-Toxinen anzureichern. Die Konzentrate zerstören die Fischhaut und greifen das Nervensystem von Ratten an.

Unsere eigenen langwierigen Gesundheitsprobleme haben uns auf die Idee gebracht, daß womöglich auch Tiere im Wasser durch geringe Pfiesteria-Giftmengen bleibende Schäden davontragen. Deswegen setzten wir im Labor Fische niedrigen Konzentrationen des toxischen Einzellers aus und beobachteten sie bis zu drei Wochen lang. Die Tiere wirkten wie benommen, und sie bekamen Hautwunden und Infekte. Blutanalysen ergaben dann 20 bis 40 Prozent zu wenig weiße Blutkörperchen. Demnach scheint das Gift das Immunsystem zu schwächen. Autopsien enthüllten auch Schäden an Gehirn, Leber, Bauchspeicheldrüse und Nieren.

 

Ökologisches Desaster


Doch ein vermehrtes Krankheitsaufkommen oder ein wiederholtes Massensterben sind es nicht allein, die zum Rückgang von Fischbeständen beitragen. Bedenklich wird dergleichen, wenn die Populationen sich nicht erholen können, weil nicht genügend Nachwuchs hochkommt. Nachweislich entwickeln sich die Eier von manchen ökonomisch bedeutenden Fischarten in Pfiesteria-kontaminiertem Wasser nicht richtig. Sandra E. Shumway vom Southampton College und mein Doktorand Jeffrey J. Springer haben experimentell zeigen können, daß Pfiesteria auch Muschellarven tötet, manchmal in Sekundenschnelle.

War das Fischsterben nur Teil einer weiterreichenden Entwicklung? Seit langem hatte gegolten, daß Fische und Schalentiere durch geringe Dosen von Giftalgen-Toxinen nicht wirklich Schaden nehmen. Waren gewisse subtile Beeinträchtigungen durch solche Gifte vielleicht einfach nicht bemerkt worden? Wenn die Tiere sich weniger fortpflanzen, mehr Junge sterben und mehr Krankheiten auftreten, muß dies nicht gleich auffallen. Wir begannen uns nun auch Sorgen zu machen, ob manche andauernden oder zeitweisen Gesundheitsprobleme des Menschen mitunter nicht vielleicht auch mit dem Genuß von Meerestieren zusammenhängen, die solche Gifte aufgenommen haben.

Dieser Frage haben sich bisher erst wenige Wissenschaftler angenommen. Auch Langzeiteffekte von Giftalgenblüten auf Ökosysteme sind wenig erforscht. Die derzeitigen Erkenntnisse sind zumindest beunruhigend, um so mehr, als Schadalgen (im weiten Sinne, eingeschlossen auch Pfiesteria) anscheinend immer öfter auftreten. Experten meinen zu erkennen, daß Massenvorkommen bestimmter "Giftalgen" in den letzten 15 Jahren vielerorts häufiger und auch heftiger geworden sind und daß auch die Verbreitung zunimmt.

Es gibt genug Beispiele dafür, daß man die Giftwirkungen nicht unterschätzen darf und auch nicht die Gefahr für den Menschen. So können geringe Giftmengen des Dinoflagellaten Alexandrium tamarense Kammuscheln durchaus schädigen: Die Darmschleimhaut wird zerfressen, Herzschlag und Atemrhythmus verlangsamen sich.

Andere Dinoflagellaten tropischer und subtropischer Meere erzeugen die gefürchteten Ciguatera-Toxine (nach spanisch ciguatera: "Eiweißvergiftung"), die sich über die Nahrungskette anreichern und dann vom Menschen mit Speisefischen aufgenommen werden. Daran vergiften sich jährlich einige zehntausend Personen, teilweise lebensgefährlich. Dies ist die häufigste Ursache für "Eiweißvergiftungen" durch Meeresfrüchte. Die Symptome können über Jahre wiederkehren, zum Beispiel oft nach Alkoholgenuß. Ciguatera-Toxine vermögen außerdem das Immunsystem anzugreifen, indem sie bestimmte weiße Blutkörperchen, die T-Lymphocyten, beeinträchtigen. Nach neueren Erkenntnissen könnten diese Gifte auf Fische ganz ähnlich wirken. Sie würden bei ihnen Verhaltensstörungen auslösen, Pilzinfektionen begünstigen und schwere innere Blutungen erzeugen.

Zwei Arten von Krebs bei Mies- und Klaffmuscheln stehen nachweislich mit Saxitoxinen in Zusammenhang – ebenfalls bestimmte Dinoflagellaten-Gifte. Die eine Krebsart ähnelt Leukämie, die andere befällt die Fortpflanzungsorgane. Saxitoxine sind als Verursacher von Muschelvergiftungen berüchtigt, die nicht selten tödlich ausgehen. Wer die akute Vergiftung überlebt, kann noch Jahre später Rückfälle mit malariaartigen Symptomen erleiden.

Okadainsäure, die Muscheln europäischer Küsten von Dinoflagellaten aufnehmen, verursacht beim Menschen schweren Durchfall. Auch dieses Gift kann, wie die ähnliche Okadasäure, tödlich wirken. Es ist zudem krebsauslösend: Kleine Mengen davon, über einen längeren Zeitraum verabreicht, verursachen bei Laborratten und in kultivierten menschlichen Geweben Tumoren. Nachgewiesen ist auch, daß Okadainsäure Zellen des Hippocampus zerstören kann, einer für das Gedächtnis wichtigen Hirnregion. Und auch dieses Gift schwächt die Immunabwehr.

Gefahr durch Algen droht nicht nur im Meer. Blüten von Cyanobakterien (blaugrüne Algen) können einem Binnengewässer über Nacht fast den gesamten Sauerstoff entziehen. Einige dieser einzelligen Organismen sondern zudem hochgiftige Toxine ab, die bei Mäusen Leber-, Lungen- und Unterleibstumoren hervorrufen. Der Mensch kann davon einen – unter Umständen schweren – Leberschaden erleiden.

Um Gegenmaßnahmen gegen "Gift-" und andere Schadalgen treffen zu können, muß man den "Feind" dringend besser einschätzen lernen. Von vielen Arten verstehen die Forscher bisher noch nicht einmal grundlegende Zusammenhänge des Lebenszyklus. Wichtig wäre zudem, mehr von den Toxinen chemisch zu charakterisieren. Dies sollte zu besseren Frühwarnsystemen führen, um verseuchte Gewässer rechtzeitig zu erkennen.

Diese Grundlagen werden helfen, die Reaktionswege der Gifte im menschlichen Körper aufzuklären. Dann wird sich erst zeigen, ob und wo unser Organismus sie speichert. Die Mediziner könnten so endlich genauer untersu-chen, wie die Stoffe Nerven- und Immunsystem angreifen, welche akuten und chronischen Veränderungen sie im Körper bewirken und wie bleibend die Schäden sind.

Auch dürfte die Kenntnis von mehr chemischen und ökologischen Details dazu dienen, die Auswirkungen der Toxine auf die Tierwelt der Gewässer zu erfassen. Und wir müssen erforschen, in welcher Weise "Giftalgen" mit anderen Mikroorganismen und mit vom Menschen erzeugten umweltbelastenden Stoffen wechselwirken und inwiefern dies uns und die Tierwelt gefährdet.

Von vielen der schädlichen Arten wissen die Forscher noch nicht einmal genau, was eigentlich einen Aktivitätsschub, also eine Massenvermehrung mit giftigen Formen, auslöst. Im Falle von Pfiesteria und bestimmten anderen Angehörigen dieser Gruppe allerdings dürfte eindeutig ein übermäßiges Nährstoffangebot mit daran Schuld sein. Nach Auffassung mancher Ökologen scheinen viele aquatische Ökosysteme völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Die Wissenschaftler nehmen an, daß die Eutrophierung wie auch Einträge von Schadstoffen dazu beigetragen haben. Leider sind großflächige Algenblüten und Ausbrüche toxischer Formen nicht nur Symptome für den gestörten Zustand. Mit den Verheerungen, welche die Mikroorganismen anrichten, fördern sie das Durcheinander erst recht.

Dieser ökologische Zusammenbruch vielerorts dürfte zahlreiche Ursachen haben. So wird die Selbstreinigungskraft der Gewässer durch den Verlust von immer mehr Feuchtgebieten geschwächt, die gewissermaßen als die Nieren unseres Planeten wirken. Manche Algenblüten fielen mit El-Niño-Erscheinungen zusammen, jenen unregelmäßig alle paar Jahre auftretenden weiträumigen Klimaanomalien, die auf außergewöhnliche Meeresströmungen im südlichen Pazifik zurückgehen. Das könnte ein Hinweis sein, daß sich die gefährlichen Planktonorganismen infolge globaler Trends zur Klimaerwärmung ausbreiten. Derartige Klimaverschiebungen begünstigen Überschwemmungen, die noch mehr Nähr- und Schadstoffe in Flüsse und Küstengewässer spülen. In Nordamerika lebt rund zwei Drittel der Bevölkerung keine 100 Kilometer von einer Küste entfernt. Die amerikanischen Umweltschutzbestimmungen genügen nicht, um die Gewässer im Gleichgewicht zu halten. Die wachsende Erdbevölkerung – sie wird jetzt auf sechs Milliarden geschätzt – verbraucht zunehmend das kostbare Süßwasser und verunreinigt immer stärker die Salz- wie Süßwasservorkommen.

Als wir im Oktober 1995 nach unserer Besichtigung des massenhaften Fischsterbens vor North Carolina wieder den Anker lichteten, ging mir vieles durch den Kopf. Pfiesteria ist nur einer von vielen Mikroorganismen, die sowohl für Fischbestände als auch für die menschliche Gesundheit eine Gefahr darstellen. Letztendlich hängen die Wasserqualität, unser Wohlergehen und das der Fischbestände eng zusammen. Wir müssen alle gemeinsam darauf hinwirken, die Giftalgenblüten, ihre Ursachen und ihre Folgen besser zu verstehen. Jeder ist gefragt, vom Wissenschaftler bis zum Politiker, vom Fischer bis zum Umweltmanager. Auch müssen wir dringlich zu einem vorbeugenden Gewässerschutz finden, anstatt jeweils erst im nachhinein zu reagieren, als wäre jedes Fischsterben ein Einzelfall ohne größere und langfristige Konsequenzen. Sensible Fischpopulationen zu beschützen, ist letztlich Gesundheitsfürsorge auch für unsere eigene Art.

Literaturhinweise


Implications of Harmful Microalgae and Heterotrophic Dinoflagellates in Management of Sustainable Marine Fisheries. Von JoAnn M. Burkholder in: Ecological Applications, Bd. 8, Heft 1 (Ergänzungsband), S. 537–562, Februar 1998.

Marine Ecosystems: Emerging Diseases and Indicators of Change. Von Paul Epstein et al. in: Year of the Ocean Special Report. Center for Health and the Global Environment, Harvard Medical School, Boston 1998.

Killeralgen. Von Rodney Barker, Bern 1999.

Das Aquatic Botany Laboratory der N.C.S.U. hat zum toxischen Pfiesteria-Komplex eine Website eingerichtet: www.pfiesteria.org


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2000, Seite 66
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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