Direkt zum Inhalt

Eine kurze Kulturgeschichte der Biologie. Mythen – Darwinismus – Gentechnik.

Primus, Darmstadt 1998. 165 Seiten, DM 39,80.

Franz M. Wuketits ist Professor für Wissenschaftstheorie mit Schwerpunkt Biowissenschaften an den Universitäten Wien und Graz. Er hat bereits eine Vielzahl von Büchern zu biologiegeschichtlichen Themen veröffentlicht, darunter eine Biographie des Verhaltensforschers Konrad Lorenz (1903 – 1989).

Wie es sich für ein Buch zur Kulturgeschichte gehört, beginnt auch dieses bei den antiken Griechen, in diesem Falle bei Aristoteles. Aber Wuketits referiert die Zeit vor dem 19. Jahrhundert nur flüchtig, klischeehaft und ohne Bezug auf den jeweiligen kulturellen Kontext, obwohl gerade dazu zahlreiche neuere Arbeiten vorliegen; er verschweigt sogar große kulturelle Brüche wie die Französische Revolution und deren Auswirkungen auf die Naturbetrachtung.

Ein Beispiel: „Im Mittelalter waren eigenständige Studien von Naturphänomenen im großen und ganzen überflüssig, weil der christliche Glaube alle ,relevanten Erklärungen‘ vorgab… Daß sich dabei auch abenteuerliche Vorstellungen entwickeln konnten, darf nicht verwundern. Hildegard von Bingen (1098 – 1179), Äbtissin der Benediktinerabtei in Bingen, … war eine Heilkundige und studierte verschiedene Pflanzen und Tiere. Über den Pirol schrieb sie, er sei ,warm und unstet‘, habe ,eine traurige Natur‘. Daher die Empfehlung: ,Wenn jemand an Gelbsucht leidet, so bind man ihm dies Vögelein mit all seinen Federn sterbend über den Magen…‘ Hildegard von Bingen war… eine Heilkundige, die magische mit nichtmagischen Heilmittelempfehlungen vermischte“ (S. 23/24).

Wuketits beläßt es bei diesen Allgemeinplätzen und verschweigt viel Wichtigeres: daß Hildegard von Bingen erstmals einheimische Pflanzen nach ihrer Natur beschrieb, die Kenntnis von deren medizinischer Wirkung verbreitete und daß ihr ob ihres Forscherdrangs eine Anklage wegen Ketzerei drohte. Solche Dinge gehören in eine Kulturgeschichte der Biologie ebenso wie der Wandel des Wahrheitsbegriffs und – damit verbunden – der Wahrheitskriterien im Laufe der Zeit. Doch all dies sucht man in dem vorliegenden Werk vergebens.

Anregendes findet sich erst bei der Darstellung der Evolutionstheorie des französischen Naturforschers Jean Baptiste Lamarck (1744 – 1829), die dieser im Geburtsjahr Charles Darwins (1809 – 1882) veröffentlichte. Im folgenden widmet Wuketits ein ganzes Kapitel („Darwin und die Affenfrage“) der Kränkung der Menschheit durch die in der Evolutionstheorie behauptete verwandtschaftliche Nähe zum Tier; im nächsten Kapitel stellt er die Wechselbeziehung zwischen den Evolutionstheorien Lamarcks und Darwins und der Sozialtheorie des britischen Philosophen Herbert Spencer (1820 – 1903) dar, mit der dieser die Grundlagen für den Sozialdarwinismus jeglicher Couleur schuf.

Die Umdeutung der Theorie Darwins in eine Grundlage für Ernst Haeckels (1834 – 1919) Religion, den Monismus, ist in dieser Deutlichkeit nur bei wenigen Autoren zu finden. Im gleichen Kapitel führt Wuketits weitere Beispiele für verschiedene Interpretationen der Evolutionstheorie an: den italienischen Mediziner Cesare Lombroso (1836 – 1909), der in seiner Kriminalanthropologie in Anlehnung an Haeckels biogenetisches Grundgesetz davon ausging, daß die Psyche des Menschen frühere stammesgeschichtliche Zustände durchlaufe, und Verbrechen als Rückfälle in atavistische Verhaltensweisen erklärte, sowie den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856 – 1939), dessen Lehre nicht verständlich sei, „wenn man nicht die durch die Evolutionstheorie begründete bzw. verdeutlichte archaische Struktur des menschlichen Verhaltens in Betracht zieht“ .

Die Anthropologie und deren Rassenlehren lieferten Ende des letzten Jahrhunderts durch Verbindung mit sozialdarwinistischen Vorstellungen die ideologische Grundlage für den Holocaust. Diesen Aspekt vertieft der Autor im Kapitel „Biologie und Ideologie – eine unselige Beziehung“ noch weiter; ferner geht er kurz auf die Verquickung von Biologie und Ideologie im Stalinismus ein, deren einflußreichster Vertreter der Botaniker Trofim D. Lysenko (1898 – 1976) war.

Die letzten beiden Kapitel handeln von den ethischen Anforderungen, die durch die Möglichkeiten der Gentechnologie entstehen, und der Verantwortung der Wissenschaftler, welche die Auswirkungen ihrer Forschungen einschätzen können. Endnoten, Glossar, Literaturverzeichnis sowie Personen- und Sachregister schließen den Band ab.

Die Lektüre läßt den erwartungsvollen Leser enttäuscht zurück. In der Darstellung des 19. und 20. Jahrhunderts hat Wuketits zwar die zentrale Stellung verschiedener Darwinismen für unterschiedlichste soziale Theorien deutlicher herausgestellt als sonst in der Literatur üblich. Das gilt für die Kriminalanthropologie Lombrosos und die Psychoanalyse Freuds ebenso wie für Theorien in der Anthropologie, die der Rechtfertigung des Kolonialismus und dann – als Rassenhygiene – den Nationalsozialisten als Rechtfertigung ihres Völkermordes dienten. Dagegen streift er den Lysenkoismus, der in der Sowjetunion bis zum Sturz Nikita Chrustschows 1964 und länger mit tödlicher Stringenz vertreten wurde, nur sehr kurz und ohne Hintergrundinformation. Gerade hierzu wäre im deutschsprachigen Raum eine große Lücke zu füllen gewesen.

Auch für den aktuellen Umgang mit der Gentechnik erhält der Leser keine neuen Impulse. Aus den Erfahrungen des ideologischen Mißbrauchs biologischer Theorien mahnt der Autor einen sensiblen Umgang mit der Gentechnik und ihren Gefahren an, beläßt es aber dabei, ohne auf die aktuelle Diskussion weiter einzugehen.

Insgesamt leidet das Buch sehr unter der oberflächlichen Betrachtungsweise, die auf Begründungen und Zitate weitgehend verzichtet. Ich konnte mich auch des Eindrucks nicht erwehren, daß der Autor das Manuskript vor dem Druck nicht mehr korrigiert hat. Anders kann ich mir zum Beispiel das Verschweigen der Französischen Revolution, die Verkürzung des viktorianischen Zeitalters im Glossar auf die Zeit von 1848 bis 1886 (Königin Viktoria regierte von 1837 bis 1901) und offensichtliche Widersprüche im Text nicht erklären: Lysenko „wurde der Paradebiologe der stalinistischen Sowjetunion, der ,Diktator der sowjetischen Biologie‘… zwischen 1948 und 1964; sein Einfluß versiegte nach Stalins Tod“ (S. 112); Stalin starb 1953.

Das Buch ist gut zu lesen, wird seinem Titel jedoch nur in bezug auf den Darwinismus gerecht.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.