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Eine Mangroveninsel vor Belize

Die charakteristischen Mangrovensümpfe entlang vieler tropischer Küsten und Strände sind Lebensraum für eine Fülle einzigartiger Organismen. Wegen der oft extremen Anpassungen ist dieses Ökosystem gegen menschlichen Eingriff besonders empfindlich.

Ein Gewirr knorriger Bäume unter sengender Sonne scheinbar noch mitten im Meer, doch kaum ein Durchkommen unter ihre schattigen Kronen bei der Unzahl von wirr verzweigten Stelzwurzeln, mit denen sie sich im tiefen, schwarzen, fauligen Schlick halten, die Luft voller summender Insekten – so erlebt der Ankömmling beim Anlanden eine typische tropische Küste. Im Mangrovensumpf verschwimmen die Grenzen zwischen Wasser und Land, Ozeane und Kontinente dringen ineinander ein – ist das nun das Forschungsgebiet eines Meeresbiologen oder eines Waldökologen?

Diesen extremen Lebensraum einzuordnen, darum bemühen sich Wissenschaftler seit langem. Soll man Mangrovensümpfe als besondere Erscheinungsform des Korallenriffs ansehen? Oder eher als überfluteten Küstenwald? Verglichen mit gewissen Tropenwäldern landeinwärts, die manchmal rund 100 Baumarten auf dem Hektar beherbergen, erscheinen die Baumbestände der Mangrovensümpfe kümmerlich und eintönig. Selbst an den indo-pazifischen Küsten, wo diese Gehölzformation am reichsten entwickelt ist, sind auf gesamter Länge nur an die 40 Arten überhaupt anzutreffen – am Atlantik sind es sogar nur rund acht, und lediglich drei davon sind wirklich häufig.

Schon der Gebrauch des Begriffs Mangrove ist etwas verwirrend. Darunter verbirgt sich keine botanische taxonomische Einheit, sondern er bezeichnet schlicht diesen charakteristischen Vegetationstyp von Gehölzen in der tropischen Gezeitenzone, daneben aber auch einige der Baumarten selbst; dann spricht man etwa von Rot- oder von Schwarzmangroven. Gemeinsam ist den verschiedenen Arten eine Reihe physiologischer Mechanismen, dank derer sie im seichten Meereswasser der Gezeitenzone gedeihen können. Zum Beispiel vermögen sie sich gegenüber Salz abzuschotten beziehungsweise es über Drüsen auszuscheiden. Und sie bilden zum Gasaustausch Luftwurzeln aus, die aus dem sauerstoffarmen Grund herausragen. An sich würden diese Arten auch in weniger salzigem Milieu gedeihen, doch können sie sich in Süßwassersümpfen nicht gegenüber anderen Gehölzen behaupten.

Außerdem brauchen es Mangroven, ähnlich wie Riffkorallen, recht gleichmäßig warm: Die durchschnittliche Wassertemperatur darf etwa 23 Grad Celsius nicht unterschreiten. Deswegen säumen beide Lebensgemeinschaften tropische Küsten so oft nebeneinander. Doch nicht zwangsläufig gehört zu einem Mangroven- ein Korallengürtel oder umgekehrt. Wo Flüsse große Mengen an Sediment einschwemmen (wie an der Westküste Afrikas) oder wo kaltes Wasser aus der Tiefe aufsteigt (wie vor der Ostküste Venezuelas), findet man keine Korallenriffe, wohl aber ausgedehnte Mangrovensümpfe. Diese wiederum fehlen auf manchen abgelegenen Koralleninseln im Pazifik, bis zu denen Brutkörper in Form bereits ausgekeimter Samen – das übliche Verbreitungsstadium von Mangrovenbäumen – offenbar nicht driften.

Gewöhnlich lassen sich grob zwei Sorten von Mangrovensumpf unterscheiden, je nachdem ob der Standort Festland oder eine kleine Insel im Ozean ist. An einer Festlandküste, wo Flüsse kontinuierlich Süßwasser zutragen, herrscht zwischen der land- und der meerwärtigen Seite eines Mangrovengürtels gewöhnlich ein steiler Salzgradient. Weiter draußen im Ozean, auf flachen Bänken und in Lagunen, besteht das Problem hingegen eher darin, daß die Salinität infolge hoher Verdunstung und häufiger Tropenschauer unregelmäßig wechselt (Bild 3).

Das naturkundliche Interesse an Mangroven reicht zwar mindestens bis in die Zeit Alexanders des Großen (356 bis 323 vor Christus) zurück, der Expeditionen zum Arabischen Meer veranlaßte. Doch sind die Kenntnisse über dieses einzigartige Ökosystem immer noch sehr lückenhaft und selbst manche grundlegenden Fragen weitgehend offen. Sind zum Beispiel Mangrovengemeinschaften ebenso vielfältig und produktiv wie andere tropische Biotope? Spielen sie als Schutzzone für den Nachwuchs kommerziell genutzter Fischbestände tatsächlich die bedeutende Rolle, die man ihnen vielfach zuschreibt? Schützen Mangrovengürtel die Küste vor Erosion? Man hat zwar eine Fülle wissenschaftlicher Details über viele unterschiedliche Mangrovensümpfe in aller Welt, doch kaum Erkenntnisse, wie die verschiedenen Rädchen eines solchen komplexen Systems ineinandergreifen.


Ein Laboratorium in der Karibik

Um endlich ein Gesamtverständnis für diesen Extremlebensraum zu gewinnen, wollten wir in einer umfassenden Langzeitstudie den Artenbestand und die Ökologie eines einzigen Gebiets untersuchen. Dazu wählten wir eine für uns relativ gut zugängliche Gegend – das spektakuläre Barriere-Riff im Karibischen Meer vor der Küste von Belize, dem jungen mittelamerikanischen Staat auf der Halbinsel Yucatan (vormals Britisch-Honduras). Dank eines glücklichen Zufalls konnten wir dort auf einer winzigen Koralleninsel rund 15 Kilometer vor der Küste eine feste Forschungsstation errichten (Bild 2).

Der Tag, als wir diesen verwunschenen Flecken fanden, ist unvergessen. Eines Morgens im Februar des Jahres 1972 war ich (Rützler) in aller Frühe mit meinem Kollegen Arnfried Antonius von der Hafenstadt Belize aus, die 80 Kilometer weiter nördlich liegt, zu einer Exkursion ans Riff aufgebrochen. Wir hatten ein kleines Boot gechartert und suchten nun nach einer Passage durch die Korallen- und Sandbänke, die wir schon öfter benutzt hatten. Nur war die Besatzung mit den örtlichen Gewässern nicht vertraut.

Wir hörten schon die sich an den flachen Bänken brechenden Wellen der offenen See, aber keine der beiden Inseln, die wir vor uns sahen, schien uns bekannt. Als wir auf der kleineren zu unserer Verblüffung mehrere Gebäude ausmachten, beschlossen wir, dieses unerwartete Zeichen von Zivilisation mitten im Meer näher anzuschauen. Augenblicke später machten wir am Betonpier fest und marschierten schnurstracks zum größten der Gebäude. Niemand empfing uns, abgesehen von einigen leicht irritierten Pelikanen; dafür hing über der Pforte ein Schild: "Willkommen auf Carrie Bow Island".

Damals wußten wir noch nicht, daß der Eigentümer dieses Fleckchens Sand mit drei Hütten und zwei Nebengebäuden Henry T. A. Bowman war; der Citrusplantagen-Besitzer mit einer Liebe zum Meer hatte die Insel 1943 für seine Frau Carrie gekauft und den Sommersitz gebaut. Schon gar nicht konnten wir ahnen, daß die Familie Bowman es aus Wertschätzung für die Naturwissenschaften ermöglichen würde, binnen acht Jahren aus dem einsamen Feriendomizil eine feste Forschungsstation zu machen, von der aus inzwischen gut 70 Wissenschaftler 40 verschiedener Institutionen Hunderte von Studien über das Riff durchgeführt haben.

Seit Mitte der achtziger Jahre konzentrierten sich unsere Untersuchungen auf Twin Cays, einen großenteils unberührten Mangrovenbestand von mehr als einem Quadratkilometer Fläche inmitten einer seichten Lagune des Riffplateaus (Bild 2). Mehr als 20 Kollegen vom amerikanischen Nationalen Museum für Naturgeschichte der Smithsonian Institution in Washington – und mindestens noch einmal so viele aus anderen Ländern Amerikas, Europas und Australiens – arbeiten hier regelmäßig speziell über die Mangrovenlebensgemeinschaften.


Gewachsene Gestalt

Die Art, wie solche Mangroveninseln in der weiten Lagune zwischen den Teilen des Riffs verstreut liegen, ließ uns zunächst vermuten, die ersten Bäume von Twin Cays hätten sich einst auf isolierten Korallenbänken angesiedelt. Unser Kollege Ian G. Macintyre von der Geologie hat dies dann allerdings anhand verschiedener Proben der Sedimentschichtung widerlegt. Vielmehr etablierte sich der Bestand vor etwa 7000 Jahren auf aus dem Wasser ragendem Grund, der keine Korallen trug. Seither hat sich mit dem Anstieg des Meeresspiegels eine sieben Meter mächtige Schicht aus organischem Schlick und Sand zwischen den Wurzeln aufgebaut.

Auch die heutige Gestalt der niederen, sandbank-ähnlichen Insel spiegelt seine mehrtausendjährige Geschichte; vor allem zeugt sie von der Gewalt unzähliger Sturmfluten und Hurrikane. Belege für mindestens ein jüngeres Ereignis dieser Art liefert beispielsweise der seichte Kanal, der die Insel zweiteilt (daher der englische Name Zwillingsinsel beziehungsweise -bank). Ungefähr auf halber Strecke gabelt er sich in zwei Arme, von denen einer blind endet. Der tote Arm weist an den Biegungen unter Wasser tiefe Rinnen und Höhlungen auf, die noch nicht wieder von Schlick oder Sand verfüllt sind. Starke Strömungen müssen sie früher einmal ausgewaschen haben, als das Wasser dort noch ungehindert fließen konnte – bis bei irgendeinem Unwetter aufgewühltes Sediment zu einer Art Damm aufgeschüttet wurde.

Die Ränder der Insel und der Kanäle säumen hohe Rotmangroven (Rhizophora mangle). Ihre Stelzwurzeln suchen auch noch in tieferem Wasser Halt, jenseits des Schlickgrundes, auf dem die Bäume stehen (Bild 4 unten). Landwärts schließt sich die Schwarzmangrove (Avicennia germinans) an – sie wurzelt dort, wo die zurückweichende Flut flache Tümpel und Marschen zurückläßt –, und ihr folgt dann die Weißmangrove (Laguncularia racemosa). Wegen der intensiven Sonneneinstrahlung verdunstet solch stehendes Wasser schnell zu einem großen Teil, so daß die verbliebene Sole oft extrem salzig wird. Wie Karen L. McKee von der Staatsuniversität von Louisiana in Baton Rouge herausgefunden hat, besitzen die Keimlinge der Schwarzmangrove die größte Toleranz dagegen und behaupten sich deswegen an solchen Standorten am besten. Die der Weißmangrove hingegen halten weder derart hohe Salzkonzentrationen aus noch die zweimalige tägliche Überflutung. Folglich wächst die Art nur an etwas höher gelegenen Stellen. Daß die Rotmangrove in den tiefsten Bereichen der Gezeitenzone vorherrscht, verdankt sie nicht nur ihren Stelzwurzeln, sondern auch Anpassungen der Jungpflanzen an Widrigkeiten wie Nährstoffmangel oder die Bedrohung durch unzählige Fraßfeinde. Nur die Rotmangroven haben diese Stelzwurzeln, die allerdings funktionell gleichzeitig Luftwurzeln sind, somit den Atemwurzeln – Pneumatophoren – der Schwarz- und der Weißmangroven gleichwertig.

Überall auf der Insel gibt es diese salzigen seichten Tümpel und Schlicksümpfe. Mitunter wächst dort kein Baum, was aber offenbar nicht immer so gewesen sein muß, denn manche dieser freien Stellen bergen noch halbverwitterte große Stümpfe. An anderen morastigen Flecken stehen Rotmangroven im Miniaturformat. Viele der kaum einen Meter hohen Exemplare sind, wie wir feststellten, dennoch wohl mehrere Jahrzehnte alt. Der Zwergwuchs geht aber nicht, was wir zunächst annahmen, auf physiologischen Stress zurück – durch den hohen Salzgehalt des nassen Grundes bei tropischen Temperaturen. Ich (Ilka Feller) habe vielmehr mit experimentellen Eingriffen vor Ort nachgewiesen, daß solchen Kümmerformen auf Twin Cays und ähnlichen Inseln der Lagune schlicht ein essentieller Nährstoff fehlt: Phosphor.

Leben auf Etagen

Bei der naturkundlichen Beschreibung festländischer Mangrovenwälder wird seit jeher viel Wert auf die horizontale Zonierung gelegt – vom Küstenbereich über das Delta von Flußmündungen bis zur reinen Süßwasserregion, wo das Reich des Regenwaldes beginnt. Unterschiede dieser Art sind auf Twin Cays natürlich gering. Recht deutlich ist aber eine vertikale Zonierung: Das Walddach bildet die oberste Etage, der Bereich im Gezeitenhub die mittlere und der tiefste riffähnliche, der niemals trockenfällt, schließlich die unterste.

Der Tier- und Pflanzenwelt dieser drei verschiedenartigen Lebensräume galt ein wesentlicher Teil unserer Arbeit. In den oberen Etagen der Bäume leben Insekten, Eidechsen, Schlangen und Vögel in großer Zahl. Daß Insekten den größten Anteil stellen, wird man allerdings nicht leicht erkennen, denn sehr viele Arten verstecken sich in diesem schonungslosen Klima mit chronischem Süßwassermangel tagsüber vor Sonne und Hitze und verlegen ihre Aktivitäten in die Nacht, andere bleiben gleich, auch zum Fressen, im Innern der Pflanzen. Die üblichen Fangmethoden des Entomologen – Fallen aufstellen, Köder ausbringen oder die Vegetation mit Pestiziden einnebeln und die Kerbtiere in Netzen auffangen – sind deshalb wenig ergiebig. Statt dessen haben wir Pflanzenteile aufgeschnitten oder Raupen und andere Larven eingesammelt und die Tiere dann aufgezogen. Die Insektenwelt dieser Mangroven entpuppte sich als wesentlich vielfältiger und ökologisch bedeutender als bislang vermutet.

Zum Beispiel beherbergen die lebenden Äste der Rotmangrove mehrere Käfer- und Nachtschmetterlingsarten, die auf Holzbohren spezialisiert sind. Ihre Larven fressen Zweige von innen aus, die absterben. Diese Gänge werden von anderen Gliedertieren vielfältig genutzt – von manchen zum Weiterfressen, von vielen aber auch als Zufluchtsort vor der Sonne, als Jagdrevier oder als Bau. Rund 70 Arten von Ameisen, Spinnen, Milben, Schaben, Termiten, Skorpionen und Nachtschmetterlingen haben wir gezählt.

Die tierische Gemeinschaft der Mangrovenkrone über der Hochwassermarke, so mannigfaltig und interessant sie auch sein mag, unterscheidet sich im Prinzip doch nicht allzusehr von der anderer Tropenwälder. Darunter aber, zwischen den verzweigten Stelzwurzeln der Rot- und den Atemwurzeln der Schwarzmangroven, wie auch im Schlick und Morast hausen Lebewesen, die man nur in diesen Sümpfen antrifft.

Auf Twin Cays beträgt der Tidenhub gewöhnlich zwar nur um die 20 Zentimeter, doch dies genügte offensichtlich dafür, daß sich in dieser flachen Etage eine unverwechselbare Tier- und Pflanzengemeinschaft entwickelte. So tragen die Luftwurzeln – also je nach Mangrovenart Stelz- wie auch Atemwurzeln – typischerweise eine besondere Gesellschaft von Rotalgen (das Bostrychietum), die bei Ebbe Wasser zurückzuhalten vermag. Auf den Wurzeln dieser Zone haben zudem Entenmuscheln, Austern und Krabben ihren Platz (Bild 5).

Besonders merkwürdig ist der Mangrove-Bachling (Rivulus marmoratus), den eine Forschergruppe um William P. Davis von der Umweltschutzbehörde der Vereinigten Staaten und D. Scott Taylor von der Mosquito-Bekämpfungsstelle in Brevard County (Florida) hier in Gezeitentümpeln und Krabbenlöchern gefunden haben. Der kleine Zahnkärpfling meidet während der Trockenzeit hohe Konzentrationen von Schwefelwasserstoff, indem er aus dem Schlamm zu besser belüfteten Verstecken zieht, beispielsweise in feuchte Spalten unter herabgefallenen Blättern oder in aufgelassene Termitenbohrkanäle von abgebrochenen Zweigen.

Der Fisch gehört zu den wenigen Wirbeltierarten, die Zwitter (Hermaphroditen) sind. Zudem vermehrt er sich natürlicherweise – als einziges dokumentiertes Wirbeltier – durch Selbstbefruchtung: Die Populationen sind genetisch identische Individuen, praktisch Klone.

Das bunteste, dichteste Leben aber herrscht in der dauerüberfluteten Zone der Stelzwurzeln der Rotmangrove (Bilder 1 und 6), wo sich nur wenig Feinsediment absetzt. Ein dichter Aufwuchs aus verschiedensten Algen, Schwämmen, Seescheiden und Seeanemonen bedeckt dieses kostbare feste Substrat und bietet weiteren Siedlern Nahrung und Zuflucht, unter anderem Schlangensternen, Krebsen und Borstenwürmern.

Man könnte meinen, daß das Wurzelwerk die bewuchsbildenden Organismen irgendwie durch spezielle Wirkstoffe anlockt, denn der lebende Überzug scheint teilweise vor holzbohrenden Tieren zu schützen, wie Aaron M. Ellison vom Mount-Holyoke-College in South Hadle und Elizabeth J. Farnsworth von der Harvard-Universität in Cambridge (beides in Massachusetts) nachgewiesen haben. Aber jedes andere Objekt, das hier nur eine Zeitlang im Wasser liegt und nicht gerade giftig ist, ob aus Holz, Plastik oder Glas, wird schon nach einer Woche mit einem schleimigen Mikrobenrasen überzogen sein und nach kurzer Zeit auch mit Algen und festsitzenden Tieren (Bild 6 rechts).

Auf dem weichen Grund hingegen, besonders in sonnendurchfluteten Furchen, wächst üppig Seegras, und verschiedentlich finden sich Algen und Cassiopea, eine auf dem Rücken liegende Qualle. Nicht selten trifft man dort Seekühe beim Grasen an. Sie helfen mit, das lockere Sediment aus Sand, Schlamm und allerlei organischen Resten aufzupflügen, das durch die Wasserbewegung ohnehin immerfort verwirbelt wird.

Weniger augenfällig, aber viel bedeutender ist die Grab- und Wühltätigkeit von Bodenorganismen wie Vielborstenwürmern (Polychaeten) und bestimmten Krebstieren. Sie übernehmen gewissermaßen die Rolle der Regenwürmer oder Maulwürfe an Land. Wie Peter Dworschak und Jörg Ott von der Universität Wien beobachtet haben, legen einige Krebse verzweigte, fast zwei Meter tiefe Bauten an.

Zur Stabilisierung des Schlamms hingegen wie auch zum Abtragen organischer Partikel tragen dichte hellgrüne Matten aus verflochtenen Kleinstlebewesen bei, die ein Schleimbett absondern und zahlreiche Bakterien, Wimpertierchen und Würmer (Nematoden und Polychaeten) beherbergen. Diese Filze bestehen hauptsächlich aus photosynthetisch aktiven Fadenbakterien und einzelligen Algen, Dinoflagellaten der Gruppe Dinophyceae. Sobald morgens die Sonne darauf scheint und sie Sauerstoff erzeugen, tragen die Gasbläschen sie zur Wasseroberfläche, wo der Wellengang die Matten aufbricht, so daß die in ihnen enthaltenen Nahrungsstoffe und der Sauerstoff freigesetzt werden. Nach Sonnenuntergang sinken die Mikroorganismen wieder zu Boden und schließen sich erneut zu einem dichten Flechtwerk zusammen.

Wir haben auf Twin Cays schon erstaunlich viele bislang unbeschriebene Tier- und Algenarten entdeckt. Von fast 200 solchen Spezies haben wir im letzten Jahrzehnt in wissenschaftlichen Publikationen berichten können. Selbst von manchen eigentlich recht gut erforschten Gruppen, etwa den doch gründlich bekannten Krebstieren, waren um die 10 Prozent der bislang von uns auf der Insel gefundenen Spezies neu.

Erst unlängst konnte ich (Rützler) zusammen mit der von uns eingeladenen Schwammexpertin Walentina de Weerdt vom Zoologischen Museum in Amsterdam und unserer Kollegin Kathleen Smith die Taxonomie der Geweihschwämme (Chalinidae) revidieren. Wie wir feststellten, leben auf den Mangrovenwurzeln von Twin Cays acht Arten dieser Familie; allein vier davon haben wir neu entdeckt. Eine von ihnen nannten wir, in Würdigung des Fundortes, Haliclona twincayensis.

Nach unserer Schätzung könnten 20 oder 30 Prozent der Mikroben, Algen, Schwämme und Würmer dieses Biotops bislang unbekannt sein. Genauere Prognosen sind derzeit schwierig, weil für viele Gruppen der Wirbellosen keine aktuellen umfassenden Abhandlungen vorliegen. Einmal mehr macht sich bemerkbar, daß für Forschung und Ausbildung in den entsprechenden biologischen Fachrichtungen seit langem zu wenig Mittel bereitgestellt werden – obwohl man längst erkannt hat, daß die Artenvielfalt sich ohne die Hilfe von Systematikern nicht wird schützen lassen. Allerdings versprechen wir uns jetzt auch einen Fortschritt von den modernen Möglichkeiten der Datenverarbeitung und der elektronischen Kommunikation.


Vielfalt in Gefahr

Ein so verwobenes, feinabgestimmtes und zugleich hochempfindliches Ökosystem wie der Mangrovenwald muß schwere Einbußen erleiden, wenn der Mensch dort zuschlägt. Sehr fraglich ist, ob ein solches Biotop sich von einem größeren Kahlschlag überhaupt erholt, weil sich seine grundlegende Struktur sogleich irreversibel verändert. Und das bedeutet Verlust an Biodiversität. Auf Twin Cays konnten wir ein solches Desaster selbst verfolgen, nachdem eine Fläche mit Schwarzmangroven im westlichen Teil von Fischern illegal gerodet worden war.

Auf dem nackten Boden der Gezeitenzone wucherte binnen kurzem Meerfenchel (Batis maritima), auch Strandbazil genannt, ein stark verzweigter, niedriger Strauch, der hohe Salzkonzentrationen aushält. Er ließ für den Nachwuchs der Schwarzmangroven, die sich nicht so rasch vermehren, wenig Raum. Dort, wo der natürliche Gürtel der Rotmangroven zerschlagen worden war, trugen Wind und Wellen bald die organisch durchsetzte weiche Schlickschicht ab. Auf dem erodierten Grund hatten die typischen Verbreitungsstadien der Bäume, die noch auf der Mutterpflanze auskeimen und sich dann ablösen, aber Schwierigkeiten, sich zu verankern. Die Sämlinge benötigen allerdings möglichst auch Schatten. Wir konnten zeigen, daß sie sich im Schutz älterer Bäume viel leichter festsetzen und besser gedeihen als ohne Pflanzendach über sich. Ob ein Mangrovenwald unter diesen Vorraussetzungen schneller nachwachsen kann, als der Nährboden verloren geht, ist ungewiß.

Wie empfindlich diese tropischen Ökosysteme an der Grenze zwischen Meer und Land sind, hat auch die Regierung von Belize erkannt. Die Mangrovenarten sind dort gesetzlich geschützt, aber wie überall auf der Welt steht der Durchsetzung der Mensch mit seinen kommerziellen Interessen entgegen. Wie an anderen Küsten rund um die Erde werden Bäume oft abgeholzt und tiefere Bereiche aufgefüllt, um Wohn- und Industriebauten darauf zu errichten.

Vielleicht läßt sich Einsicht schneller und leichter erreichen, wenn man klarmacht, daß der Mensch sich mit den artenreichen Mangrovenwäldern selbst eine der reichsten Nahrungsquellen schmälert: die Fischbestände und andere Meeresfrüchte der Küstengewässer und der offenen See, die oft aus Mangrovensümpfen regenerieren oder über Nahrungsnetze davon abhängen.

Doch es gibt auch Hoffnung. Die wachsende Besorgnis über die rasante Umweltzerstörung in den Entwicklungsländern bewirkt, daß unter anderem die Mangrovenwälder wieder mehr wissenschaftliche Beachtung finden. Nicht zuletzt die langjährige Forschung auf Twin Cays trägt zu einem zwar langsamen, aber doch immer besseren Verständnis der Zusammenhänge bei. Es sollte die Rolle der tropischen Meeresküsten und die Tragweite von Eingriffen besser erkennen helfen und zu gesetzlichen Maßnahmen anregen, die diese faszinierenden Lebensgemeinschaften bewahren.

Literaturhinweise

- The Ecology of Mangroves. Von A. E. Lugo und S. C. Snedaker in: Annual Review of Ecology and Systematics, Band 5, Seiten 39 bis 64, 1974.

– Mangrove Swamp Communities. Von K. Rützler und I. C. Feller in: Oceanus (Woods Hole Oceanographic Institution), Band 30, Heft 4, Seiten 16 bis 24, Winter 1987/1988.

– The Botany of Mangroves. Von P. B. Tomlinson. Cambridge University Press, 1995.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 60
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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