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Eine Technische Universität als Vorreiter der Hochschulreform

Die junge und kleine Technische Universität Hamburg-Harburg (TUHH) setzt ihren Ehrgeiz darein, in wichtigen Fragen der Hochschulreform Beispiele zu geben. So wird von den Studenten erwartet, daß sie einen Teil ihres Studiums im Ausland absolvieren; geboten bekommen sie dazu ein in Deutschland seltenes System der Anrechenbarkeit der Semester und neuerdings einen modularen Studiengang. Der Interdisziplinarität von Forschung und Lehre dient eine offene Organisationsstruktur. Zur Anwendung der Forschungsergebnisse in der regionalen und überregionalen Wirtschaft wurde eigens eine Gesellschaft gegründet.

Gegründet wurde die TUHH 1978. Die Forschungsarbeiten begannen 1980, seit l982 läuft der Lehrbetrieb. Derzeit sind rund 2300 Studenten eingeschrieben. Die Betreuungsrelation ist recht anspruchsvoll: Von den 938 Planstellen waren im vorigen Jahr mit 92 Professoren und 209 wissenschaftlichen Mitarbeitern im wissenschaftlichen sowie mit 541 im technischen Bereich und in der Verwaltung 842 besetzt; hinzu kamen 208 aus Drittmitteln finanzierte Stellen.

Das Ausbauziel ist mit 2800 Studierenden und 64 (derzeit 58) Arbeitsbereichen relativ bescheiden. Zu den knapp 98 Millionen Mark Etatmitteln, welche die TUHH im Rahmen eines Globalhaushalts vom Hamburger Senat erhält, kamen 1994 aus Drittmitteln 31,9 Millionen Mark. Der neugebaute Campus befindet sich mitten im Hamburger Stadtteil Harburg in einer ehemaligen Parklandschaft (Bild).

Als Modell auch für andere Universitäten beobachtet die Hochschulrektorenkonferenz den Harburger modularen Studiengang "Allgemeine Ingenieurwissenschaften" kritisch. Im Wintersemester 1994/1995 haben die ersten 20 Eingeschriebenen mit diesem breit angelegten ingenieurwissenschaftlichen Grundstudium begonnen. Sie müssen sich erst nach zwei Semestern und nicht schon zu Beginn, bar jeglicher Hochschulerfahrung, an einem künftigen Fachstudium orientieren; zur Zeit sind dies Elektrotechnik, Systemtechnik, Materialwissenschaften und allgemeine Verfahrenstechnik. Haben sie das Vordiplom (nach vier Semestern) erworben, können sie mit weiteren zwei Semestern Fachstudium das Zwischendiplom (Bachelor) erreichen.

Danach stehen ihnen vier Möglichkeiten offen:

- Sie können vorübergehend berufstätig sein und dann wieder zur Hochschule zurückkehren, wo innerhalb von drei Semestern der endgültige Abschluß mit dem Grad Diplom-Ingenieur zu erreichen ist;

- sie können aber auch an einer ausländischen Partnerhochschule der TUHH an einem Programm teilnehmen, das zu dem anerkannten Abschluß des Master of Science führt;

- vorgesehen, jedoch noch nicht umgesetzt, ist als drittes Modul ein von der TUHH und einer europäischen Partnerhochschule gemeinsam betriebenes dreisemestriges Joint Master Programme, das mit der Doppelqualifikation Diplom-Ingenieur und Master of Science abschließt;

- schließlich kann der Diplom-Ingenieur in einem dreisemestrigen Fachstudium innerhalb des klassischen Hauptstudiums erreicht werden.

Der Präsident der TUHH, Hauke Trinks, stellt schon bei einigen Unternehmen ein positives Echo fest. Sie seien bereit, Bachelors mit ihrem breiten ingenieurwissenschaftlichen Grundlagenwissen auf eine gewisse Zeit einzustellen. Vor allem hofft er, das neue Modul-Modell werde dazu beitragen, die derzeitigen ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge zu verkürzen und flexibler zu gestalten. Das komme auch den Wünschen der Industrie an die Ingenieurausbildung entgegen. Zudem würden damit Auslandsaufenthalte von Studenten effizient. Zu den unkonventionellen Ideen gehört, daß die örtliche Volkshochschule ab Herbst dieses Jahres als Entgelt für die Nutzung der TU-Rechner den Studenten Sprachkurse anbieten soll.

Mit acht ausländischen Hochschulen bestehen regelrechte Austauschabkommen, insbesondere seit 1994 mit der Technischen Chalmers-Universität in Göteborg im Rahmen des Kooperationsprogramms Hanseatic Baltic Research Universities of Technology. Wer den neuen modularen Studiengang bis zum Bachelor-Niveau durchläuft, kann jeweils an der Partnerhochschule sein Studium innerhalb von drei Semestern zu Ende führen.

Prinzipiell soll jeder TUHH-Student, auch jener der klassischen Studiengänge, mindestens ein Semester im Ausland studieren. Mobilitätsstipendien im bisherigen EU-Programm ERASMUS und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, aber auch von zwei privaten Stiftungen machen das möglich. Schwierigkeiten bereitet hingegen noch immer das deutsche Hochschulrahmengesetz, weil es verlangt, daß das Studium an einer deutschen Hochschule beendet werden soll. Trinks will deshalb einen Vorstoß zur Änderung dieser chauvinistischen Klausel unternehmen.

In Norddeutschland besteht ein großes Defizit an ingenieurwissenschaftlicher und technologischer Infrastruktur. Im Hamburger Raum haben traditionell Handelsfirmen Vorrang; Industrieunternehmen sind dort weniger angesiedelt als in anderen Regionen Deutschlands. Die Harburger Hochschule sieht es deshalb als wichtige Aufgabe an, mit neuen Formen des Technologietransfers mit der Wirtschaft zusammenzuarbeiten: Seit 1993 ist die TUHH-Technologie GmbH, eine hundertprozentige Tochter der Universität, auf diesem Gebiet tätig. Ihre Aufgabenfelder sind Einwerbung von Auftragsforschung, Verwertung von Ergebnissen in der industriellen Forschung und Entwicklung, Technologieberatung, Informationsvermittlung, Weiterbildung, Kongreß- und Messe-Aktivitäten sowie technisch-wissenschaftliche Dienstleistungen.

In den ersten beiden Jahren hat die Gesellschaft 84 Aufträge von privaten Unternehmen – zu rund zwei Dritteln von Klein- und Mittelunternehmen vor allem im Hamburger Raum – mit einem Volumen von knapp drei Millionen Mark akquiriert. Insgesamt umfaßte die Auftragsforschung allein im letzten Jahr 32 Projekte, für die Mittel in Höhe von 7,5 Millionen Mark neu bewilligt wurden. Die TUHH-Gesellschaft unterstützt die Arbeitsbereiche der Hochschule auch bei Förderanträgen an die EU sowie beim Projektmanagement und bei der Koordination. Von den zwölf während des 3. Rahmenprogramms der EU gestellten Anträgen aus Harburg wurden sieben bewilligt.

So liegt die wissenschaftliche Koordination des europäischen Projekts "Biotechnology of Extremophiles", an dem 36 Forschungsgruppen aus verschiedenen Ländern teilnehmen, bei Garabed Antranikian im Arbeitsbereich Biotechnologie I; die Wissenschaftler untersuchen die Möglichkeiten des Einsatzes von Mikroorganismen, die unter extremen Bedingungen leben, in Chemie, Biotechnologie und Umweltschutz. Die Gesellschaft ist auch federführend bei dem in Fachkreisen gut bekannten Norddeutschen Forschungsinformationssystem.

Im Technologiezentrum Hamburg-Finkenwerder sind zwei systemtechnisch orientierte Arbeitsbereiche der TUHH angesiedelt, die dort seit September 1994 mit der Daimler-Benz-Firma Aerospace Airbus zusammenarbeiten. Im Mikroelektronik-Anwendungszentrum, das seit November 1994 in Hamburg-Harburg besteht, vermitteln Wissenschaftler der TUHH ihre Fachkenntnisse und Forschungskompetenz in der Breitbandkommunikation sowie der digitalen Bild- und Signalverarbeitung Klein- und Mittelbetrieben. Bisher drei Stiftungsprofessuren verbinden die TUHH mit der Wirtschaft: Wasserwirtschaft und Wasserversorgung, Flugzeugsystemtechnik sowie die jüngste im Zusammenhang mit der Entwicklung des Transrapid.

Die Organisationsstruktur der TUHH unterscheidet sich gründlich von derjenigen der anderen deutschen Hochschulen. Sie gliedert sich nicht in Fakultäten oder Fachbereiche; vielmehr ist die Lehre in vier Studiendekanate eingeteilt: Maschinenbau, Elektrotechnik, Verfahrens- und Chemietechnik sowie Bauwesen. Jedes umfaßt eines oder mehrere Themen der sechs interdisziplinären Forschungsschwerpunkte Stadt, Umwelt und Technik, Systemtechnik, Bau- und Meerestechnik, Informations- und Kommunikationstechnik, Werkstoffe-Konstruktion-Fertigung beziehungsweise Verfahrenstechnik und Energieanlagen. Diese Schwerpunkte sind wiederum in mehrere kleine Arbeitsbereiche mit einem oder zwei Professoren, einigen wissenschaftlichen Mitarbeitern (von denen die meisten nur befristet eingestellt werden), wenigen Assistenten und einer Sekretärin unterteilt.

Die TUHH verfügt auch über drei Sonderforschungsbereiche der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG): Mikromechanik mehrphasiger Werkstoffe, Prozeßnahe Meßtechnik und systemdynamische Modellbildung für mehrphasige Syteme sowie Reinigung kontaminierter Böden. Außerdem wird ein Sonderforschungsbereich Paralleles Rechnen in technischen Anwendungen vorbereitet. Außer einer von der DFG geförderten Gruppe zur Schadensforschung und Schadensbeseitigung an Stahlkonstruktionen im Wasser gibt es zwei gemeinsam mit der Universität Hamburg organisierte Graduiertenkollegs, Meerestechnische Konstruktionen und Biotechnologie.

Ebenfalls zusammen mit der Universität Hamburg hatte die TUHH 1989 das Zentrum für Biomechanik errichtet. Es verknüpft interdisziplinär ingenieurwissenschaftliche und medizinisch-biologische Forschung, sowohl in grundlagenorientierten als auch in kliniknahen Projekten zur Osteosynthese, zur Endoprothetik und zu Biomaterialien. Diese Arbeit legt es nahe, bei einer fälligen Neudefinition von Forschungsschwerpunkten auch an der Harburger Hochschule darüber nachzudenken, wie die Verbindung von Medizin und Technik künftig zu gestalten wäre – das Bochumer Modell (Spektrum der Wissenschaft, April 1995, Seite 112), das ohne eigenes Universitätsklinikum auskommt, könnte wiederum dafür ein Vorbild sein.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1995, Seite 110
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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