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Eingeengte Forschung, verprellter Nachwuchs

Um erfolgreich sein zu können, braucht Forschung eine Art kritische Masse. Doch mit schrumpfendem Freiraum schwindet das Interesse von Studenten an den Naturwissenschaften.

In einem rohstoffarmen Land wie der Bundesrepublik Deutschland kann und muß gerade auch die Forschung einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung des Wohlstandes leisten. Ihre Förderung durch die Gesellschaft – und zwar nicht allein in finanzieller Hinsicht, sondern auch bezüglich ihres Freiraumes – stellt deshalb eine der wichtigsten Investitionen in die Zukunft dar.

"Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei", wie Artikel 5 Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes gewährleistet. Gemäß der darin enthaltenen objektiven Wertentscheidung der Verfassung ist der Staat verpflichtet, Wissenschaft, Forschung und Lehre zu schützen und zu pflegen; gesellschaftliche Kräfte sowie – diesen folgend – der Gesetzgeber können diese Wertentscheidung weder vom Grundsatz her in Frage stellen noch durch eine beliebige Schöpfung von Gegenwerten relativieren. Sollte die Legislative die Freiheit der Forschung einschränken wollen, so ginge das nur, wenn andere Verfassungswerte (etwa bestimmte Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Persönlichkeit oder Eigentum) bedroht wären und deshalb eines erweiterten Schutzes bedürften.

Ganz allgemein können Gesellschaft, Staat und Politik Forschung ermöglichen, sich dienstbar machen oder auch begrenzen – gegebenenfalls sogar völlig verhindern. Funktional gesehen geschieht das durch

- Bereitstellen oder Vorenthalten von Ressourcen,

- Gestalten der Forschungsinstitutionen und schließlich durch

- die normative Eröffnung und Gewährleistung oder aber die Begrenzung von Freiräumen.

An diesen Mechanismen hat das vielfältige Wirken politischer und gesellschaftlicher Kräfte erheblichen Anteil.


Wissenschaft und Forschung im gesellschaftlichen Spannungsfeld

Wenn die Forschung heute trotz der in der Verfassung verankerten Freiheit zunehmend eingeengt wird in einem stets dichter werdenden Netz von Bindungen, das ihre Handlungsmöglichkeiten auf immer neue Weise und auf immer neuen Feldern einschränkt, so hat das vor allem zwei Gründe.

Zum einen werden die Konflikte in der modernen Gesellschaft immer mehr ausdifferenziert und verdichtet, und eine immer größere Vielfalt von Werten und Gütern tritt in das Bewußtsein. Damit nimmt das Erfordernis zu, diese Konflikte mit den Instrumenten des Rechts zu entscheiden und zu befrieden.

Zum anderen hat die Gesellschaft gegenüber der Forschung eine immer zwiespältigere Haltung eingenommen. Zwar blieb die Erwartung bestehen, Forschung könne gesellschaftliche Probleme lösen, doch scheinen im öffentlichen Bewußtsein die Risiken heute bedeutsamer zu sein als die Chancen.

Die spezifische Problematik des Konflikts der Forschung mit den Werten, Gütern und Interessen der Gesellschaft äußert sich primär in all den Regelungen, welche die Beziehung der Forschung zu ihrem Umfeld ordnen. Zunächst einmal ist jedwede Forschungstätigkeit wie alle anderen Handlungen von Personen und Institutionen an gewisse Grundsätze gebunden – so ist sie einbezogen in das Bau- und Planungsrecht, in das Naturschutzrecht, in die Regelungen der Gefahrenabwehr und der Sicherheit sowie in das Arbeitsrecht. Zudem gelten für die Forschung nicht nur dieselben Maßstäbe (zum Beispiel das Chemikalienrecht) wie für Betriebe, mit deren Tätigkeit besondere Gefährdungen einhergehen können, sondern sie ist gegebenenfalls noch weitergehenden Regularien unterworfen – außer dem Datenschutzrecht vor allem dem Gentechnik-, dem Tierschutz- und dem Embryonenschutzrecht.

Aus diesen Regelungen – und den das Recht ausführenden administrativen und gerichtlichen Praktiken – ist ein dichtes Geflecht von Voraussetzungen und Auflagen entstanden, dessen Fülle und Differenziertheit den Wissenschaftlern erheblichen Zeitaufwand aufbürden und angesichts des oftmals ungewissen Ausgangs der bürokratischen Verfahren eine vernünftige Planung der Forschungsvorhaben behindern; zugleich wird es den Forschern immer schwerer gemacht, in diesem Dickicht den oftmals schmalen Grat zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Tun zu erkennen und nicht zu überschreiten – alles Faktoren, die nicht selten das Forschungsgeschehen beträchtlich stören.

Zu dieser angespannten Situation kommt hinzu, daß die Öffentlichkeit Forschung in zunehmendem Maße nicht von der Erkenntnis an sich, sondern – ihrem Wesen zuwider – allein von den erwarteten Ergebnissen her wahrnimmt und bewertet. Je mehr die Erwartungshaltung (etwa die Hoffnung auf eine bestimmte medizinische Therapie) den Einsatz von Ressourcen zu rechtfertigen scheint, um so höher ist im allgemeinen die Bereitschaft, diese auch zur Verfügung zu stellen. Immer dort aber, wo das Ergebnis nicht schon greifbar nahe zu sein scheint, werden verstärkt die Risiken betont und neue Erkenntnisse der Forschung als schwer kontrollierbare Gefahr eingestuft. In solchen Fällen erscheinen die potentiellen Nachteile und Risiken, die auch mit Forschung einhergehen können, als immer weniger akzeptabel.

Schwinden der Akzeptanz – Verlust der Kompetenz

Politische und gesellschaftliche Widerstände sind die Folge – meist beginnend mit Kampagnen, welche die öffentliche Meinung bewegen. Ein Beispiel sind die Aktionen, die den internationalen Hirnforschungskongreß "Brain 95" Anfang Juli letzten Jahres begleiteten, den das Max-Planck-Institut für neurologische Forschung in Köln organisiert hatte. Etwa 1200 Fachleute aus aller Welt waren in der Domstadt zusammengekommen, um fünf Tage lang für verschiedene Hirnerkrankungen die Erforschung der Ursachen, die Entwicklung von Tiermodellen zur Erprobung neuer Therapiekonzepte und die bereits im klinischen Test befindlichen Therapien zu diskutieren – für Leiden von der Alzheimer-Krankheit bis zu Hirntumoren, vom Schlaganfall bis zur Epilepsie. Begleitet wurde diese wissenschaftliche Veranstaltung von einer Zeitungsanzeige, die sie als "Kongreß des Grauens" charakterisierte. Damit war nicht etwa das Elend der zahlreichen hirnkranken Patienten gemeint, sondern es sollte auf die Tierversuche der Hirnforscher aufmerksam gemacht werden, die für viele Affen, Katzen, Hunde, Ratten und Mäuse Qualen mit sich brächten. Aufgegeben hatten die Anzeige die Tierversuchsgegner Nordrhein-Westfalens.

Zu den Kampagnen gesellen sich oft Diskriminierungen von Wissenschaftlern oder gar Angriffe auf Forschungseinrichtungen und auf die in ihnen tätigen Menschen sowie die Herausbildung negativer Werturteile in der Gesellschaft. All das mündet schließlich in rechtlichen und administrativen Behinderungen, im Rückgang finanzieller Mittel, aber auch in einer abnehmenden Nachfrage nach Studienplätzen und im nachlassenden Interesse des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Eine häufige Folge dieser Entwicklung ist gleichsam eine Ausbürgerung von Forschung. Ein mittlerweile schon klassisches Beispiel dafür ist die Kernreaktorforschung. Ähnliches ist heute in der Genetik und Gentechnik zu verfolgen; und vergleichbaren Anfeindungen ist alles ausgesetzt, was Tierversuche erfordert. Im Sommer 1995 präsentierte die Partei Bündnis 90/Die Grünen einen Entwurf zur Reform des Tierschutzgesetzes, der sogar vorsah, Tierversuche grundsätzlich zu verbieten und Genehmigungen nur noch in Ausnahmefällen zu erteilen. Die Anzahl der Bereiche, in denen aufgrund solcher Restriktionen die Forschung in Deutschland im internationalen Vergleich an Reputation verloren hat, ist im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte bedenklich gestiegen.

Indes wurde – und wird – Forschung nicht nur hinausgedrängt aus der Bundesrepublik, die Industrieforschung ist teils von sich aus ausgewandert. Die Globalisierung der Produktion und des Wettbewerbs, der große Reiz, an dem hochkarätigen Forschungspotential in den USA direkt teilzuhaben, aber auch die Vorteile, unter den vor allem in asiatischen Schwellenländern günstigen Bedingungen zu arbeiten, haben immer mehr industrielle Forschungsstätten emigrieren lassen. Dadurch wird das Zusammenspiel von Forschern auf verschiedensten Feldern in Deutschland zunehmend beeinträchtigt.

Die Max-Planck-Gesellschaft bemerkt diese Entwicklung unmittelbar und besonders schmerzlich an dem in einigen Bereichen dramatischen Wegfall an Arbeitsplätzen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, den sie gemeinsam mit den Universitäten heranbildet. Das aber hat bedrohliche Rückwirkungen bis hin zu den Studienbewerbungen an den Universitäten: Naturwissenschaftliche Kernfächer wie Physik und Chemie werden von immer weniger Studenten belegt. Manche Fakultäten melden pro Jahr lediglich noch zehn Neuanmeldungen. Besonders heimtückisch, weil schwerer wahrzunehmen, ist denn auch die von dieser Entwicklung ausgehende Gefahr für die Forschungsvielfalt sowie für die Motive und Kriterien, kraft derer Forschung betrieben und bewertet wird.

Indes hängt der Erfolg eines nationalen Forschungssystems auch davon ab, ob darin eine hinreichende Mannigfaltigkeit von Forschungseinrichtungen und -absichten vertreten ist und ob diese so-zusagen eine kritische Masse bilden. Dabei entscheiden vor allem das Klima des Wettbewerbs um die fruchtbarsten Ideen und die Bereitschaft zur Unterscheidung einer innovativen und einer weniger innovativen Forschung darüber, ob sich eine derartige kritische Masse bildet und was sie zu leisten vermag.

In den USA beispielsweise ist dies gelungen. Dort ist eine Fülle von Forschungen zu finden, und zugleich werden mit den härtesten Auswahlverfahren die Ressourcen auf die jeweils innovativsten Vorhaben konzentriert. Die Kompetenz der Besten und ihre unbarmherzige Bereitschaft zur Unterscheidung machen die Spitzen der amerikanischen Forschung deutlich – und legen tiefe Schatten auf alles darunter und dahinter.

Der alte Kontinent, zur Europäischen Union zusammengeschlossen, hat Vergleichbares bis jetzt nicht geleistet – Europa enthält seiner Forschung sachgerechte Mechanismen des Wettbewerbs und überzeugende komparative Rahmenbedingungen vor. Die europäische Forschungspolitik orientiert sich unmittelbar an wissenschaftsfremden Zielen: von der Forschungsnachfrage der Industrie bis zum ("Kohäsion" genannten) Ausgleich der Wohlstandsgefälle zwischen den Mitgliedsstaaten; und die Forschungsadministration der Europäischen Union macht die Unterschiede zwischen der besseren und der schlechteren Forschung nicht transparent.

Zu alldem kommt noch hinzu, daß auch von der europäischen Entwicklung Einschränkungen des Freiraums der Forschung zu befürchten sind, denn im Europarecht ist von einer Anerkennung der Forschungsfreiheit oder auch nur von einem Bewußtsein dieser Probleme nicht die Rede.

So bleibt die Herausbildung einer kritischen Masse der Forschung noch weitgehend eine nationale Aufgabe. Was Forschung in einem Lande zu leisten vermag, hängt – wie eingangs erwähnt – immer von drei Faktoren ab: den Ressourcen, den Strukturen und den Freiräumen. Diese Bedingungen günstig zu gestalten ist nicht nur eine Leistung der Politik, des Rechts und der öffentlichen Verwaltung – es ist vielmehr eine Leistung der gesamten Gesellschaft. Deshalb müssen alle – Forscher, Politiker, Medien, gesellschaftliche Kräfte und Gruppen – zusammenarbeiten, wenn Dichte und Dynamik der Forschung in Deutschland nicht weiter abnehmen sollen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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