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Einsicht ins Gehirn. Wie Denken und Sprache entstehen

Aus dem Amerikanischen
von Hartmut Schickert.
Hanser, München 1995.
392 Seiten, DM 58,-.

Mit diesem Buch wird einmal mehr der Versuch unternommen, einen diffizilen wissenschaftlichen Sachverhalt in der Dialog- und Erzählform zu vermitteln. Der Ich-Erzähler William H. Calvin (vergleiche sein Buch "Die Symphonie des Denkens", besprochen in Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1993, Seite 135) ist Neurobiologe, sein Koautor George A. Ojemann Neurochirurg und Neuropsychologe; beide arbeiten an der Universität von Washington in Seattle.

Im Buch nehmen neurochirurgische Eingriffe am wachen, wenngleich lokal betäubten Patienten breiten Raum ein. Die Situation erlaubt es, Reizelektroden an geöffnete Hirnbereiche heranzubringen und Reaktionen auf Schwachstromimpulse zu erfahren. Der Patient wird dabei nicht nennenswert belastet oder gar gefährdet. Er muß auf seine Rolle sorgfältig vorbereitet werden und wird so zu einem regelrechten Kooperanten. Stimulationsexperimente dieser Art können diagnostisch wichtig sein, indem sie das weitere Vorgehen des Operateurs bestimmen; die Reizantworten sind aber allemal auch wissenschaftlich interessant. Viele Kenntnisse über die räumliche Verteilung von Hirnfunktionen verdanken wir solchen direkt am Menschen erhobenen Befunden, zumal man Sprache und subjektive Stimulationseffekte ohnehin nicht im Tierversuch erforschen kann.

Der Held der vorgelegten Neuro-Story (im Original: "Conversation with Neil s Brain", 1994) ist "Neil", ein fiktiver Patient, der durch seine naiven oder auch klugen Fragen die Geschichte in Gang hält und dabei dem Erzähler Gelegenheit gibt, Erkenntnisse und Hypothesen der klinischen und naturwissenschaftlichen Hirnforschung einem breiten Publikum darzulegen. Das Buch beginnt mit "Ein Fenster zum Gehirn" – in diesem Falle durchaus wörtlich zu verstehen – und setzt sich fort mit Fragen, wie Bewußtsein entsteht, wie man es verliert und wo die Sprache ihren Sitz hat. Dazu ein Zitat (Seite 59): "Endlich hat die Diaschau begonnen; alle paar Sekunden tauchen auf dem Projektionsbildschirm Objekte auf, die Neil mit Namen kennt. Das hat er fleißig geübt, und wir wissen, daß er sämtliche Dias korrekt benennen kann. ,Ich weiß, was das ist ', sagt Neil. ,Das ist ein, äh, ein...' George entfernt den elektrischen Stimulator vor Neils Kortex. Ein Elefant , sagt Neil schließlich etwas gereizt. Das nächste Dia erscheint auf dem Schirm. ,Das ist ein Apfel', sagt Neil routiniert. George hat zwar wiederum den Kortex dabei stimuliert, aber an einer anderen Stelle, ein kleines Stück neben der ersten. Diese neue Stelle scheint mit der Namensnennung nichts zu tun zu haben. Die Stromstärke ist so eingestellt, daß ein kleiner Bereich des Gehirns etwa von der Größe eines Bleistift-Radiergummis durcheinandergebracht wird. Diese Stimulation veranlaßt Neil zu Fehlern, und wir glauben, es geschieht dadurch, daß jener kleine Hirnbereich (oder Gebiete, die eng damit verknüpft sind) inaktiviert oder in Unordnung gebracht wird."

Die Autoren wenden sich im weiteren dem Was und Wo des Gedächtnisses zu, dem Denken und Fühlen und deren Störungen, kommen aber immer wieder auf neurolinguistische Fragen zurück. Zwar werden auch zelluläre und molekulare Grundlagen berührt, im Vordergrund des Buches aber stehen die klinisch-neurologischen Fälle – und was man daraus lernen kann. Psychologische Tests werden vorgestellt, Dialoge zwischen Patienten und Ärzten, hier und da auch neurophysiologische Einzelheiten, und dies alles mit Rundum-Kenntnis, dem Mut zur Vereinfachung und mit sehr viel didaktischem Geschick. Im Anhang finden sich zu jedem Kapitel Literaturhinweise, auch hilfreiche Kommentare. Das Buch endet mit einem zwölfseitigen Register.

Ein Nadelstich am Schluß: Das romanhafte Passepartout wirkt, jedenfalls nach meinem Geschmack, eher dürftig, die Rahmenhandlung aufgesetzt und künstlich. Aber de gustibus non est disputandum, und tatsächlich ist Jostein Gaarder mit "Sofies Welt", einem Jugend-Roman über die Geschichte der Philosophie, der ebenfalls in der Dialogform geschrieben wurde, ein ganz großer Wurf gelungen. Sollte Calvin und Ojemann gar etwas Ähnliches gelingen?



Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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