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Eisenbahnräder

Was hindert die Räder daran, aus den Schienen zu springen? Der Spurkranz; aber erst im Notfall. Bei kleinen Abweichungen bringt die konische Bauweise - innen dicker als außen - die Räder sanft auf den richtigen Weg.


Jedermann benutzt die Eisenbahn mit der Zuversicht, der Zug werde sich strikt an die Schienen halten. Wer eine kurvenreiche Strecke wie die von Karlsruhe durchs Albtal hinauf in den Schwarzwald fährt, dem können die heftigen Stöße von beiden Seiten, mit denen die Schienen den Zug in die Spur zwingen, manchmal Zweifel an der Sicherheit der Schienenführung einflößen. Wie stark müsste denn ein Stoß sein, der einen Wagen oder vielleicht den ganzen Zug zum Entgleisen bringt?

Ähnliches mag vor mehr als hundert Jahren dem Karlsruher Oberbaurat Klingel durch den Kopf gegangen sein, der wohl als Erster 1883 den Schräg- oder Sinuslauf von Schienenfahrzeugen mit wissenschaftlicher Gründlichkeit untersuchte. Er empfand "die Oscillationen" der Wagen "um eine durch den Schwerpunkt gelegte Vertikalachse" (das "Gieren" in der Schienenebene) als "eine im höchsten Grade unangenehme Bewegung" und stellte fest, dass ihnen "am schwierigsten zu begegnen" sei.

Geringe Abweichungen von der Geradeausfahrt sind nicht nur bei den Fernbahnen wegen der hohen Geschwindigkeiten unvermeidlich, es gibt sie auch bei den vergleichsweise langsamen Stadt- und Straßenbahnen. Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts fuhren in den Großstädten noch zahlreiche ältere Straßenbahnwagen, deren Wagenkasten – wegen der engen Kurven in den winkligen Straßen – von einem einzigen zweiachsigen Fahrgestell mit verhältnismäßig kurzem Radstand getragen wurde. Beim Anfahren und Bremsen und in Kurven neigte und drehte sich der Fahrgastraum auf seiner Federung in alle Himmelsrichtungen. Um notwendige Drehungen wirkungsvoll einleiten und unerwünschte mit kleinsten Kräften korrigieren zu können, ruhen die Personenwagen bei heutigen Schienenbahnen auf zwei Drehgestellen, die sich so weit an den Enden der Wagen befinden, wie es mit der seitlichen Ausladung ihrer langen Wagenkästen in den Kurven verträglich ist.

Außer mit Bewegungen in der Schienenebene musste sich Klingel seinerzeit auch mit dem Nicken oder "Galoppieren" der Wagen beschäftigen, das von den so genannten "Schienenstößen" herrührte, kleinen Unterbrechungen zwischen aufeinander folgenden Schienenstücken, die dem Stahl für die Sommermonate zu seiner nicht unerheblichen Wärmedehnung gelassen wurden. Unter zu hohem Druck in Längsrichtung, so fürchtete man damals, würden die Schienen zur Seite ausknicken. Da die Lücken beider Schienen in der Regel parallel lagen, vermittelten sie beim Überfahren ein Gefühl, als ob die Räder jedes Mal eine kleine Stufe herabfielen, wozu sie den Begleitrhythmus "Tam-tata-tam" auf die Schienen klopften.

Heute schweißt man die Schienen bei einer Referenztemperatur von etwa zwanzig Grad Celsius möglichst spannungsfrei aus sechzig Meter langen Strängen zu einem "endlosen" Band zusammen, damit sie weder im Sommer unter zu große Druck- noch im Winter unter zu große Zugspannung geraten. Dadurch erhöht sich der Fahrkomfort, und gleichzeitig verringern sich der Verschleiß der Schienen und die lästigen Fahrgeräusche in der näheren und weiteren Umgebung der Bahnstrecke.

Ein Radsatz als Spielzeug: Ein Eisenbahnzug besteht aus so vielen Komponenten, dass ihr Zusammenspiel bei der Fahrt theoretisch kaum zu durchdringen und für den Praktiker nur mit viel Erfahrung zu beherrschen ist. Je zwei von den Schienen geführte Räder bilden mit der Radwelle eine feste Einheit, den Radsatz. (Was der Laie eine "Achse" nennt, heißt bei den Ingenieuren "Welle", weil sie mitrotiert.) Zwei Radsätze laufen in jedem Drehgestell. Auf zwei Drehgestellen ruht ein Wagenkasten, und die Wagen sind durch Kupplungen miteinander zum Zug verbunden. Nur die Bewegung des kleinsten Elements dieser Wirkungskette, des einzelnen Radsatzes, lässt sich ohne eingehenderes technisches Studium verstehen. Man verwandelt es in ein Spielzeug, indem man die Spurkränze weglässt und die konischen Laufflächen der Räder zu einem symmetrischen Doppelkegel ergänzt.

In dieser Form findet man es als Spielgerät in manchem Technik-Museum. Man kann es sich aber mit einfachsten Mitteln auch selbst herstellen: aus zwei konischen Plastikbechern, die man an ihren Öffnungen zu einem beidseitig abgestumpften Doppelkegel zusammenklebt. Als provisorische Schienen eignen sich zwei glatt gehobelte Dachlatten im Abstand von etwa zehn Zentimetern, passend zur Größe des Doppelkegels. Man stellt sie leicht geneigt auf und lässt das Spielgerät die Schienen von alleine herunterrollen.

Beim Abrollen des Doppelkegels auf gerader Strecke beschreibt sein im größten Querschnitt gelegener Mittelpunkt S eine Wellenlinie. Bei kleinen Schwingungsweiten um die Mittelachse zwischen den Schienen ist diese Wellenlinie in guter Näherung eine Sinuskurve. Auch ohne zu rechnen sieht man ein, dass die Radien der beiden Kegel zur Mitte hin wachsen müssen, damit die Bahnkurve immer wieder zur Mitte zurückkehrt. Nur dann nämlich ist der Doppelkegel, wenn er beispielsweise nach rechts ausgelenkt ist, auf der rechten Schiene dicker als auf der linken, legt deshalb auf der rechten Seite pro Umdrehung einen größeren Weg zurück als auf der linken und wendet sich nach links, womit der Auslenkung entgegengewirkt wird.

Eisenbahnräder haben die entsprechenden konischen Laufflächen. Wären sie zylindrisch (wie die Räder einfacher Spielzeugeisenbahnen), könnte ein aus der Mitte ausgelenkter Radsatz erst dadurch auf den Pfad der Tugend zurückkehren, dass einer seiner Spurkränze eine Schiene träfe, und der Sinuslauf würde zum Zickzackweg. Für große Bahnen wäre das sicher problematisch. Ein Doppelkegel, dessen Durchmesser von innen nach außen zunimmt, läuft gar nicht in der Spur. Fehlen ihm außen Spurkränze, rollt er sogar schnurstracks von den Schienen.

Um die Länge der Sinuskurve auszumessen, startet man den Doppelkegel von einer Position außerhalb der Schienenmitte mit seiner Achse im rechten Winkel zu den Schienen (mit anderen Worten: im Scheitel der Sinuskurve). Die Strecke in Fahrtrichtung, die er bis zum folgenden Wendepunkt auf der gegenüberliegenden Seite zurücklegt, ist gerade die halbe Wellenlänge. Überraschenderweise schwankt der Doppelkegel selbst dann noch periodisch in seiner Bahn hin und her, wenn sein Zentrum die Schienen abwechselnd rechts und links überschreitet. Vorsicht: Beim Passieren der Mittellinie (der Klebefuge zwischen den Plastikbechern) kommt er leicht ins Rutschen.

Spiel und Wirklichkeit: Der Sinuslauf des Doppelkegels macht spielerisch verständlich, wie ein freier Radsatz auf zwei Schienen rollen könnte. Unter realen Bedingungen des Bahnverkehrs ist die Modellvorstellung von kreisrunden Rädern, die auf geraden Schienen rollen und sie nur in einem einzigen Punkt berühren, allerdings gar zu einfach. Sowohl die Radlaufflächen als auch die Schienen verformen sich unter der großen Belastung, im einfachsten Fall elastisch, berühren sich nicht nur in einem Punkt, sondern flächenhaft und gleiten aufeinander. Aus der kinematischen Aufgabe wird ein dynamisches Problem, das hier nicht gelöst werden kann.

Das Rad-Schiene-System hat sich seit über einem Jahrhundert im Massentransport bewährt und erstaunlich anpassungsfähig gezeigt. Es toleriert, dass die Schienen auf schnell befahrenen Strecken während ihrer Lebensdauer um mehrere Zentimeter abgetragen werden und die Raddurchmesser sich während der Laufzeit der Räder um fünf bis zehn Zentimeter abnutzen (von 104 auf 95 Zentimeter bei ICE-Triebköpfen laut einem DB-Bericht von 1992). Zur Sicherheit der Schienenbahn bei sehr hohen Geschwindigkeiten fehlen noch Erfahrungen. Möglicherweise gehört die Zukunft des Hochgeschwindigkeitstransports auf dem Landweg dem Transrapid: mit berührungsfreier Führung der Fahrgastzellen durch Magnetkräfte unter externer Regelung.

Magnet-Jojo: Dieses kleine Spielzeug verwirklicht in zahlreichen Varianten den kinematischen Wellenlauf eines Doppel-kegels in einem Schwungrad von etwa sechs Zentimeter Durchmesser, das mit seiner an den Enden konischen Welle auf zwei Stahldrähten von zwei bis drei Millimeter Durchmesser als Schienen läuft. Anstelle des Gewichts sorgen Magnete in der Welle dafür, dass das Rad an die Schienen gepresst wird. Einerseits machen die Magnete das Spielzeug überhaupt erst spielbar, anderer-seits ruft der bewegte Magnet Wirbelströme her-vor, die das Schwungrad bremsen.

Der Name "Jojo" weckt Erinnerungen an den weit verbreiteten Schnurkreisel, der nach der Wende am Ende der Schnur in die Hand zurückkehrt. Beim Magnet-Jojo wendet das Schwungrad, weil die Spur sich an den beiden Umkehr-stellen geringfügig erweitert. Beim Wenden rollt das Rad auf die andere Seite der Schienen wie ein klassisches Jojo auf die andere Seite der Schnur. So kann man das Rädchen hin und her schicken und bei Anregung im Takt der Schwingung auf große Geschwindigkeit bringen.

Vor einigen Jahren erschien auf der Nürn-berger Spielwarenmesse eine neue Spielart des Magnet-Jojos. Der Draht ist zu einer Schraube aufgewickelt. Je zwei einander folgende Windungen dienen als Schienenpaar – eine Art Einschienen-Jojo mit langem Laufweg bei kompakter Bauweise. Dreht man die Schraube hin und her, lässt sich auch bei diesem Spielzeug das Schwungrad rasant in Bewegung bringen.

Der sorgfältige Beobachter sieht bei beiden Spielzeugen deutlich den Sinuslauf des Schwungrads, mit Wellenlängen von wenigen Zentimetern.

Literaturhinweis


Ueber den Lauf der Eisenbahnwagen auf gerader Bahn. Von Oberbaurath Klingel zu Karlsruhe in: Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens in technischer Beziehung, Neue Folge XX, Bd. 4, S. 113, 1883.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2002, Seite 111
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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