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Künstliche Intelligenz: Berechnete Gefühle

Technologieunternehmen setzen zunehmend KI ein, um die Emotionen und Persönlichkeiten von Menschen zu analysieren. Aber die Methoden sind oft anfällig für rassistische, kulturelle und geschlechtsspezifische Vorurteile. Wo führt die Reise hin?
Zwei Überwachungskameras

Im Februar 2020 fand in Liverpool eine Konferenz zum mäßig reizvollen Thema »öffentliches Beschaffungswesen« statt. Wie bei solchen Veranstaltungen üblich, schlenderten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Ausstellungs- und Verkaufsständen vorbei, blieben an einigen stehen, während sie andere umgingen. Was jedoch nicht allen Besuchern bewusst war: Sie wurden dabei genau beobachtet. 24 diskret angebrachte Kameras verfolgten die Bewegungen jeder einzelnen Person und zeichneten mit fünf bis zehn Bildern pro Sekunde die subtilen Spannungen ihrer Gesichtsmuskeln auf, während sie die verschiedenen Ausstellungsstücke beäugten. Die Aufnahmen wurden in ein Computernetzwerk eingespeist, in dem KI-Algorithmen das Geschlecht und die Altersgruppe der Beobachtungsobjekte schätzten und die Mimik auf emotionale Anzeichen wie »Neugier« und »Freude« absuchten.

Ungefähr ein Jahr nach der Veranstaltung war Panos Moutafis, CEO des in Texas ansässigen Unternehmens Zenus, das hinter der dort genutzten Technologie steht, immer noch begeistert von den Ergebnissen. »Ich habe nicht viele kommerzielle Systeme gesehen, die so präzise sind«, äußerte er während eines Videoanrufs und zeigte ein Foto der untersuchten Menschenmenge, bei dem jedes Gesicht mit einem Kästchen umrandet ist. Die Zenus-Ingenieure hatten die Software zuvor auf das Erkennen von Emotionen trainiert, indem sie ihr einen riesigen Datensatz von Gesichtsausdrücken mit Beschriftungen, die relevante Gefühle beschreiben, vorlegten. Das Unternehmen hat den Algorithmus auf verschiedene Weise überprüft, unter anderem in Live-Tests, bei denen Menschen berichteten, wie sie sich fühlten, während man sie fotografierte. Das System funktioniert laut Moutafis überall: in Innenräumen, ohne Beleuchtung und im Freien sowie wenn die Personen Masken, Hüte oder Sonnenbrillen tragen.

Die Software von Zenus ist nur eines von vielen Beispielen für eine neue Technologie: die emotionale KI oder affektive Datenverarbeitung, bei der man Kameras und andere Geräte mit künstlicher Intelligenz kombiniert, um Gesichtsausdrücke, Körpersprache, Stimmlage und weitere Merkmale zu erfassen. Das Ziel ist es, über die reine Gesichtserkennung hinauszugehen und etwas zu enthüllen, das für Maschinen zuvor unsichtbar war: die inneren Gefühle, Motivationen und Einstellungen der Menschen …

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Gehirn&Geist – Wer entscheidet? Wie das Gehirn unseren freien Willen beeinflusst

Was bedeutet es, ein Bewusstsein zu haben? Haben wir einen freien Willen? Diese Fragen beschäftigt Neurowissenschaft, Philosophie und Theologie gleichermaßen. Der erste Artikel zum Titelthema zeichnet die Entwicklung der neurowissenschaftlichen Forschung nach und zeigt, wie das Gehirn das subjektive Erleben formt. Anschließend geht es im Interview mit dem Neurophilosophen Michael Plauen um die Frage, ob wir frei und selbstbestimmt handeln, oder nur Marionetten unseres Gehirns sind. Die Antwort hat Konsequenzen für unser Selbstbild, die Rechtsprechung und unseren Umgang mit KI. Daneben berichten wir, wie virtuelle Szenarien die traditionelle Psychotherapie erfolgreich ergänzen und vor allem Angststörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen lindern können. Ein weiterer Artikel beleuchtet neue Therapieansätze bei Suchterkrankungen, die die Traumata, die viele Suchterkrankte in ihrer Kindheit und Jugend erfahren haben, berücksichtigen. Zudem beschäftigen wir uns mit der Theorienkrise in der Psychologie: Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer erklärt, warum die Psychologie dringend wieder lernen muss, ihre Theorien zu präzisieren.

Spektrum der Wissenschaft – Dunkle Energie - ein Trugbild?

Eine geheimnisvolle Kraft treibt alles im Universum immer schneller auseinander. Doch niemand weiß, was hinter dieser Dunklen Energie steckt, und neue Messdaten mehren grundsätzliche Zweifel am kosmologischen Standardmodell. Bieten alternative Ansätze eine Erklärung? Außerdem: Neue Verfahren erlauben es, Immunzellen direkt in unserem Körper so zu verändern, dass sie Krebszellen attackieren – bisher mussten sie Patienten dafür entnommen und wieder zurückgeführt werden. Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie beruhen auf unvereinbaren Weltbildern. Neue Experimente an der Schnittstelle zwischen Quantenphänomenen und Gravitation sollen helfen, diesen Widerspruch zu überwinden. In der Pangenomik wird das Erbgut zahlreicher Individuen verglichen – mit weitreichenden Folgen für Forschung und Züchtung von Nutzpflanzen. Und wie immer in der Dezemberausgabe berichten wir vertieft über die Nobelpreise des Jahres für Physiologie oder Medizin, Physik und Chemie, ergänzt durch einen kritischen Blick darauf, welche Verantwortung mit großen Entdeckungen einhergeht.

Gehirn&Geist – Multiple Persönlichkeit: Was hinter der dissoziativen Identitätsstörung steckt

Manche Menschen scheinen verschiedene Ichs in sich zu tragen, die im Wechsel die Kontrolle über den Körper übernehmen – mit jeweils eigenem Alter, Namen und Geschlecht. Unsere Experten, die zu dissoziativen Phänomenen forschen, stellen die wichtigsten Fakten zur »Multiplen Persönlichkeit« vor. Ergänzend dazu geht die Psychologin Amelie Möhring-Geisler der Frage nach, ob rituelle Gewalt in der Kindheit gezielt Persönlichkeitsspaltungen herbeiführt. In dieser Ausgabe beginnt zudem eine neue Artikelserie zum Thema »Long Covid und ME/CFS«. Im Interview spricht Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité über Ursachen von ME/CFS, den Versorgungsmangel in Deutschland und Hoffnung auf Medikamente. Darüber hinaus berichten wir über das Glücksparadox, das besagt: Je mehr wir dem Glück hinterherjagen, desto weiter entfernt es sich. Wir stellen das Thema psychotherapeutische Patientenverfügung vor, die im psychischen Krisenfall eine große Hilfe sein kann, sowie die noch immer rätselhafte Schmerzerkrankung Fibromyalgie, über deren Ursachen noch viel spekuliert wird.

  • Quellen

Stanley, J.: The Dawn of Roboter Surveillance. American Civil Liberties Union, 2019

Picard, R. W.: Affective Computing. MIT Media Laboratory Perceptual Computing Section Technical Report 321, 1995

Schwemmer, C. et al.: Diagnosing Gender Bias in Image Recognition Systems. Socius: Sociological Research for a Dynamic World 6, 2020

Jack, R. E. et al.: Facial expressions of emotion are not culturally universal. PNAS 109, 2012

Barrett, L. F. et al.: Emotional Expressions Reconsidered: Challenges to Inferring Emotion From Human Facial Movements. Psychological Science in the Public Interest, 2012

Laajaj, R. et al.: Challenges to capture the big five personality traits in non-WEIRD populations. Science Advances 5, 2019

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