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Raketenabwehr: Ende der Illusion?

Die ehrgeizigen Pläne der Vereinigten Staaten, eine landesweite Raketenabwehr zu entwickeln, sind nach dem Scheitern eines wichtigen Abfangversuchs in Bedrängnis geraten.


Am Abend des 7. Juli startete von einem Luftwaffenstützpunkt in Kalifornien eine Minuteman-II-Rakete und nahm Kurs gen Westen. Knapp 8000 Kilometer entfernt, auf dem Kwajalein-Atoll im Westpazifik, wartete unterdessen eine andere Rakete auf ihren Einsatzbefehl. Auf ihrer Spitze trug sie einen Abfangflugkörper, ein so genanntes Exoathmospheric Kill Vehicle (EKV). Als Radarsysteme den Anflug des Minuteman-Gefechtskopfs registrierten, hob die Abfangrakete ab. Das kill vehicle sollte in großer Höhe abgetrennt werden, dem Angreifer entgegenfliegen und ihn durch direkten Aufprall zerstören – wegen der hohen Kollisionsgeschwindigkeit von rund fünf Kilometern pro Sekunde ein sehr effektiver Prozess.

Doch nichts geschah. Der Abfangflugkörper löste sich nicht von seiner Trägerrakete und stürzte schließlich ins Meer. Der Gefechtskopf des Angreifers – eine harmlose Attrappe – erreichte ungehindert sein Zielgebiet. Ein echter Gefechtskopf hingegen hätte eine Explosion entfesselt, die eine ganze Großstadt in Schutt und Asche hätte legen können.

Diese Übung, die nicht nur von den beteiligten Militärs, sondern auch weltweit mit großer Spannung verfolgt wurde, sollte die technische Machbarkeit eines Raketenabwehrsystems demonstrieren. Solche Pläne, ihr Territorium vor angreifenden Atomraketen zu schützen, hegen die Vereinigten Staaten bereits seit den sechziger Jahren. Anfangs sollte ein solcher "Schutzschirm" über einzelne Kommandozentren und Militärbasen gespannt werden. In den achtziger Jahren kam dann die Idee eines umfassenden Abwehrsystems auf, das selbst einen massiven Angriff mit Interkontinentalraketen wirkungslos verpuffen lassen sollte. Die heutigen Pläne sehen zwar auch eine das gesamte US-Territorium umfassende Abwehr vor, doch das veränderte Feindbild nach Ende des Kalten Krieges rechnet nunmehr nur mit einzelnen anfliegenden Raketen. Nicht mehr Russland oder China werden als maßgebliche Bedrohung dargestellt, sondern kleinere technisch aufstrebende Staaten, die den USA nicht wohl gesonnen sind – wie etwa Nordkorea, Iran oder Irak.

Das "National Missile Defense"-System (NMD), das die Vereinigten Staaten gegenwärtig planen, sorgt nicht nur dort für innenpolitische Diskussionen, sondern auch für erheblichen außenpolitischen Zündstoff. Der zwischen Russland und den USA bestehende "Vertrag über die Begrenzung der Systeme zur Abwehr ballistischer Flugkörper" – nach dem englischen anti-ballistic missile meist kurz ABM-Vertrag genannt – verbietet ausdrücklich landesweite Raketenabwehrsysteme. Sollten die USA ihre Pläne tatsächlich umsetzen wollen, müsste dieses Abkommen gekündigt oder zumindest wesentlich modifiziert werden. Damit würde aber ein wichtiges Element der internationalen Rüstungskontrolle beseitigt. Russland und China haben bereits angekündigt, sich bei einem amerikanischen Verstoß gegen den ABM-Vertrag aus anderen Rüstungskontrollverträgen zurückzuziehen und ihre eigenen Kernwaffenarsenale auf dem jetzigen Niveau zu halten oder sogar weiter auszubauen. Selbst die europäischen Verbündeten der USA lehnen den Aufbau eines Raketenabwehrsystems ab, weil sie befürchten, ein solches Vorhaben könnte zu einem neuen nuklearen Wettrüsten führen, insbesondere in Asien. Zudem teilen bisher weder die Europäer noch die Russen und Chinesen die amerikanische Einschätzung bezüglich der künftigen Bedrohung der USA durch so genannte "Schurkenstaaten".

Dieser Problematik ist sich die US-Regierung natürlich bewusst. Präsident Bill Clinton hatte bereits im letzten Jahr vier Kriterien festgelegt, von denen die Stationierung des NMD-Systems abhängig gemacht werden solle:

- die Einschätzung der Bedrohung der USA durch Langstreckenraketen,

- die technische Machbarkeit einer Raketenabwehr,

- die voraussichtlichen Kosten dafür sowie

- die möglichen Konsequenzen für die internationale Sicherheit.

Noch diesen Herbst wollte Clinton eine Entscheidung treffen. Der Test im Juli sollte dazu eine wesentliche Bewertungsgrundlage schaffen. Zwei Abfangversuche hatte es zuvor bereits gegeben. Nur der erste, im Oktober 1999, wurde als Erfolg gewertet, der zweite, im Januar 2000, schlug fehl. Ursprünglich hieß es im US-Verteidigungsministerium, zwei gelungene Versuche seien Voraussetzung, um das Kriterium "technische Reife" zu erfüllen. Wenige Wochen vor dem dritten Test im Juli hatte aber Verteidigungsminister William Cohen schon einmal vorsorglich erklärt, auch im Falle eines Scheiterns könne das Abwehrsystem als solches durchaus positiv bewertet werden. Es käme unter anderem auf die Ursache eines möglichen Misserfolgs an.

Indes steht Clinton un-ter starkem innenpolitischen Druck des von den Republikanern dominierten Kongresses. Im Präsidentschaftswahlkampf hat der republikanische Kandidat George W. Bush angekündigt, unter seiner Führung ein noch weit anspruchsvolleres Raketenabwehrsystem verfolgen zu wollen. Hinzu kommt der enge Zeitplan, dem zufolge die erste Ausbaustufe des NMD-Systems bereits 2005 einsatzfähig sein soll. Dazu müsste mit dem Bau einer wichtigen Frühwarnradaranlage auf der Aleuteninsel Shemya bereits im Frühjahr 2001 begonnen werden – eine positive Entscheidung für den Fortgang der Planungen noch in diesem Jahr wäre also unerlässlich.

Wie ist nun der fehlgeschlagene dritte Test zu bewerten? Es handelte sich um einen so genannten "integrierten Systemtest", bei dem erstmals auch Frühwarnsatelliten, die Kommandozentrale in Colorado und ein Prototyp des hochauflösenden X-Band-Radars auf Kwajalein in den Ablauf eingebunden waren. Auf diese Weise sollte das Zusammenspiel aller Basiskomponenten überprüft werden. Vorherige Versuche hatten lediglich das kill vehicle selbst erprobt. Die Informationen über Flugbahn und Position des anfliegenden Gefechtskopfs hatte dieser dabei aktiv über einen speziellen Sender der Abfangrakete übermittelt.

Ein solches "kooperatives" Verhalten ist von einer echten feindlichen Rakete gewiss nicht zu erwarten. Für die Entwicklung eines komplexen technischen Systems sind aber solche Erleichterungen anfangs durchaus üblich. Auch entsprachen bei dem Experiment im Juli noch nicht alle eingesetzten Komponenten den geplanten Endversionen. So wird die starke Raketenstufe, die den Abfangflugkörper im Ernstfall in den nahen Weltraum schießen soll, frühestens 2001 getestet werden können. Somit bleibt vorerst auch die Frage offen, ob der Abfangflugkörper die wesentlich höheren Beschleunigungen dieser neuen Trägerrakete aushält.

Als zusätzliche Erleichterung fanden alle Abfangtests in den Abendstunden statt, sodass die Sonne die Zielobjekte auf ihren westwärts verlaufenden Flugbahnen gut ausleuchtete. Deshalb konnten die Infrarotsensoren des kill vehicles eine ausgeprägte thermische Signatur wahrnehmen. Zudem kannte das Abfangteam die Eigenschaften des Ziels, den Startzeitpunkt und die Flugbahn der angreifenden Rakete. Wenn also selbst unter solchen Idealbedingungen und nach langen Monaten der Vorbereitung Experimente fehlschlagen, ist dies bezeichnend für die Komplexität eines Abwehrsystems und die Schwierigkeiten, es verlässlich zum Funktionieren zu bringen.

Die Ursache des Scheiterns lag in einem eigentlich unkritischen System, nämlich in der verwendeten Raketenstufe für den Abfangflugkörper. In ersten Stellungnahmen erklärten Vertreter des US-Verteidigungsministeriums, es habe mit diesem Träger gleich zwei Probleme gegeben. Das erste trat auf, als die Rakete während des Zielanflugs ihre Geschwindigkeit reduzieren musste. Nach diesem Manöver begann sie zu taumeln sowie von ihrem Kurs abzuweichen. Nur wenig später, nach dem Ausbrennen der zweiten Stufe, erwartete das kill vehicle das Signal zum Abkoppeln, das aber nicht gesendet wurde. Deshalb löste es sich nicht von der Trägerrakete und konnte so die entscheidende Phase des Abfangvorgangs erst gar nicht beginnen.

Aus diesem Grunde ist das Scheitern dieses Tests für das Pentagon besonders ärgerlich. Wäre ein Fehler in der kritischen Schlussphase des Experiments aufgetreten, dem autonomen Auffinden und Zerstören des Ziels, hätten sich zumindest neue Erkenntnisse über kritische Systemkomponenten ergeben, aus denen die Entwickler hätten lernen können. Nun dürfte es schwer fallen, dem NMD-System das Reifezeugnis auszustellen.

Kritiker bezweifelten indes schon vor dem Test, dass die bis zum Sommer gewonnenen Daten ausreichen würden, die Leistungsfähigkeit des Abwehrsystems unter "operativen", das heißt unter Kriegsbedingungen, beurteilen zu können. Sie bemängelten vor allem, dass bei den Abfangtests nicht ernsthaft versucht wurde, die Infrarotsensoren und Radaranlagen des Systems mit Gegenmaßnahmen zu täuschen. Derartige countermeasures würde ein Angreifer einsetzen, um seinen Gefechtsköpfen das Durchdringen einer Raketenabwehr zu erleichtern. Einige dieser Gegenmaßnahmen – wie etwa das Tarnen von Gefechtsköpfen im Inneren von metallbeschichteten Ballonen oder das Aussetzen von Attrappen – wären vergleichsweise einfach zu entwickeln. Ein Staat, der über das Know-how zum Bau von Langstreckenraketen und Gefechtsköpfen verfügt, könnte ohne weiteres zu solchen Mitteln greifen (siehe Spektrum der Wissenschaft, 11/1999, S. 66).

Ein renommierter Kritiker des NMD-Systems, der MIT-Professor Ted Postol, geht in seinen Vorwürfen an die Testplaner sogar noch weiter. Nach einer Analyse von Unterlagen über den ersten Sensortest mit einem Prototypen des Abfangflugkörpers im Jahre 1997 kam er zu dem Schluss, dass das zu geringe Auflösungsvermögen der Sensoren es unmöglich mache, einen Gefechtskopf selbst von den primitivsten Attrappen zu unterscheiden. Mehr noch: Dies sei den beteiligten Unternehmen und dem Pentagon schon damals bekannt gewesen.

Fakt ist, dass bei den drei bisherigen NMD-Abfangtests nur je ein größerer, heller Ballon als Attrappe eingesetzt wurde, der sich von seiner äußeren Form, der reflektierenden Fläche und damit von seiner thermischen Signatur deutlich von einem kegelförmigen Gefechtskopf unterscheidet.

Es verwundert deshalb nicht, dass bereits wenige Stunden nach dem Misserfolg im Juli erste Stimmen laut wurden, die Entscheidung über eine Stationierung zu verschieben. Innenpolitisch wäre dies wegen der Fehlschläge nunmehr ohne Gesichtsverlust für Präsident Clinton möglich. Befürworter des NMD-Systems fordern allerdings, zumindest die Vorbereitungen für den Bau der Radaranlage in Alaska zu genehmigen, sodass bis zur endgültigen Entscheidung – die vermutlich der Amtsnachfolger von Clinton zu treffen hat – keine weitere Verzögerung auftritt. Die Außenministerin Madeleine Albright ließ verlauten, eine Verschiebung sei "unverantwortlich", weil dann Staaten wie Nordkorea oder Iran mehr Zeit hätten, ihre Raketen zu entwickeln.

Außenpolitisch hätte ein Aufschub der Stationierungsentscheidung indes einen großen Vorteil: Es gäbe mehr Spielraum für weitere Verhandlungen mit Russland und China. Die Reaktionen im Ausland nach dem Misserfolg reichten von Erleichterung bis zur offenen Genugtuung. So sagte der Oberbefehlshaber der russischen strategischen Raketenstreitkräfte, General Wladimir Jakowlew, der Test habe gezeigt, dass das NMD-System keinen Schutz für das Territorium der USA bieten könne. Das Projekt sei schlicht eine "Verschwendung amerikanischer Steuergelder".

Während eines Gipfeltreffens Mitte Juli wiederholten der russische Präsident Wladimir Putin und der chinesische Staats- und Parteichef Jiang Zemin ihre Vorbehalte gegen den Bau des Systems. In einer gemeinsamen Erklärung sprachen sie von der Gefahr eines "Umsturzes der weltweiten strategischen Stabilität" und von "schweren Konsequenzen", welche die amerikanischen Pläne nicht nur für die nationale Sicherheit ihrer beiden Länder, sondern auch für die der USA selbst hätten.

Abgesehen von den möglichen politischen Konsequenzen stellt sich nunmehr immer dringender die Frage, ob denn ein Rake-tenabwehrsystem überhaupt funktionieren kann. Dass der Abschuss eines einzelnen, ungetarnten Gefechtskopfs im Weltraum in naher Zukunft technisch möglich wäre, wird heute – trotz der jüngsten Rückschläge – kaum noch bezweifelt. Nur reicht eine solche Fähigkeit im Ernstfall bei weitem nicht aus. Seine Effektivität gegen zu erwartende offensive Gegenmaßnahmen hat das System indes noch zu beweisen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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