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Entsorgung und alternative Produktion im Landkreis Pinnow


In der DDR stand das Leitmotiv der Friedensbewegung, "Schwerter zu Pflugscharen" (nach der Predigt des alttestamentlichen Propheten Jesaja in Kapitel 2, Vers 4), unter staatlichem Bann – eine Ironie, denn die Sowjetunion selbst hatte der UNO ein Denkmal mit diesem Sinnbild geschenkt. Der mittlerweile Realität gewordene Wunsch, daß die militärische Hochrüstung beendet und die dafür verwendeten Ressourcen zivil genutzt würden, hat einen neuen Aspekt bekommen: Große Regionen ringen um das wirtschaftliche Überleben, weil Entwicklungs- und Fertigungsstätten wehrtechnischer Güter nun auf alternative Produkte umstellen müssen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren beide deutschen Staaten mit einem Netz von Kasernen, Übungsplätzen und Rüstungsbetrieben überzogen worden. Außer der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee (NVA) prägten Streitkräfte der jeweiligen Alliierten mit ihrer Infrastruktur große Landstriche. Von ihrem Abzug nach der Vereinigung Ost- und Westdeutschlands, der Auflösung der NVA und dem Rückgang wehrtechnischer Produktion sind die alten und neuen Bundesländer unterschiedlich stark betroffen; insbesondere Rheinland-Pfalz, das Saarland und Brandenburg stehen vor einer enormen strukturellen Herausforderung.

Rund um Berlin waren etwa acht Prozent der Landfläche militärisch genutzt. Die Rote Armee hatte dort eine Vielzahl von Kasernen errichtet oder übernommen; manche datieren schon aus der Kaiserzeit. Die Brandenburger Landesregierung hat deshalb ein Referat gebildet, das alle mit dem Abzug der russischen Truppen und der Konversion zusammenhängenden Fragen koordinieren soll; dazu wurde eine ministerienübergreifende Arbeitsgruppe geschaffen.

Gemäß dem Beschluß der DDR-Volkskammer und dem Erlaß des damaligen Ministers für Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, hatten alle Betriebe, die wehrtechnisches Gerät entwickelt, produziert und gewartet oder Ausrüstungen und Gerät für die Logistik der NVA und des Warschauer Paktes lieferten, zum 1. August 1990 ihre Arbeit eingestellt. Ausnahmen regelte der sogenannte Zwei-plus-vier-Vertrag der beiden deutschen Staaten mit den USA, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, durch den die Souveränität Deutschlands völkerrechtlich hergestellt wurde.

Mit etwa 1650 Mitarbeitern war das Instandsetzungswerk Pinnow (IWP) das größte Unternehmen seiner Art im heutigen Bundesland Brandenburg. Im äußersten Nordosten gelegen, etwa 100 Kilometer von Berlin entfernt, hatte es alle Merkmale eines typischen Rüstungsunternehmens der DDR:

- Es beschäftigte 55 Prozent der Industriearbeiter des Altkreises Angermünde, war mithin Hauptarbeitgeber in einer strukturschwachen Region;

- um auch bei Ausfall oder Verspätung der Zulieferungen Termine einhalten zu können, wurden enorme, heute kaum benötigte Materialbestände bevorratet;

- die Belegschaft war überdurchschnittlich gut ausgebildet, und die Fertigung unterlag dabei höchsten Qualitätsansprüchen;

- Infrastruktur, Maschinen und Anlagen waren im Vergleich zur übrigen Wirtschaft der DDR in sehr gutem Zustand.

Übernahme und erste Konversionsansätze

Am 31. Juli 1991 übernahm das schwäbische Familienunternehmen Buck Werke den Industriestandort Pinnow unter dem neuen Namen Buck Inpar. Fast ein Jahr lang hatten die Verhandlungen mit der Treuhand darüber gedauert, wie das IWP aus dem ehemaligen Kombinat Spezialtechnik Dresden herausgelöst werden könne. Für die Mehrzahl der Mitarbeiter galt zu Verhandlungsbeginn Kurzarbeit; in 17 Geschäftsfeldern gab es Bemühungen, den Weg in die Marktwirtschaft zu finden.

Ursprünglich wollten die Buck Werke – selbst in der Rüstungsproduktion aktiv und auf der Suche nach zivilen Anwendungsfeldern – nur einen Teil des 270 Hektar umfassenden Betriebsgeländes erwerben, um dort eine Anlage zur umweltgerechten Entsorgung von NVA-Munition aufzubauen. Diesem Konzept stimmte die Treuhand nach der Devise "alles oder nichts" nicht zu. Dahinter stand die Sorge, nach Herauslösen der fraglichen modernen zentralen Fertigungsstätte für Panzerabwehrraketen keine weiteren Investoren für die verbleibenden Standortbereiche zu finden.

Das Firmen-Vorhaben wurde deshalb zum einen dahingehend erweitert, auch die Geschäftsbereiche Medizintechnik und Systembau weiter zu entwickeln. Beide waren durch Pinnower Mitarbeiter nach entsprechenden Marktstudien bereits aufgebaut worden, ohne jedoch wirtschaftlich selbständig am Markt bestehen zu können. Eine Umschulungs- und Ausbildungseinrichtung für die ganze Region ergänzte das Konzept; dieses Projekt wird vom Internationalen Bund für Sozialarbeit/Jugendsozialwerk, einem der größten Ausbildungsträger der Bundesrepublik, mitgetragen.

Zudem stellten die neuen Eigner Wissenschaftler des ehemaligen Kombinats PCK Schwedt ein, einer der größten Raffinerien Deutschlands, als dort die Forschungsabteilung abgebaut wurde. Das Unternehmen hatte Verfahren zur biologischen Sanierung von kohlenwasserstoff-kontaminiertem Erdreich und Wasser entwickelt. In wenigen Monaten entstand so in Pinnow ein modernes Labor als Voraussetzung eines Geschäftsfeldes Boden- und Wassersanierung.

Die Munitionsentsorgung sollte die Anschubfinanzierung für den Umbau des gesamten Standortes sicherstellen. Die erforderliche Anlage wurde im Spätsommer 1991 aufgebaut und schon Mitte Oktober in Betrieb genommen. Die Entsorgung beschränkte sich anfangs auf Wirkmassen und Treibladungen von fünf Millionen Handleuchtzeichen.

Insgesamt betrug das Vermächtnis der NVA 295000 Tonnen Munition, von denen etwa die Hälfte zur Verwendung durch die Bundeswehr oder Dritte vorgesehen ist. Von dem Restbestand von 159000 Tonnen sind bereits 70000 Tonnen verarbeitet worden.

Die Anlage mit der Bezeichnung "418" (Bild 1) wurde speziell für die Vernichtung von Problemstoffen, die bei der Munitionsdemontage anfallen, entwickelt. Mittlerweile wurden außer den Wirkmassen von Handleuchtzeichen mehrere tausend Tonnen Raketen-Festtreibstoff – eine Mischung aus Nitroglycerin und Nitrocellulose – in Pinnow entsorgt (Bild 2). Er wird zunächst unter Wasser in Portionen zersägt und dann in der Anlage verbrannt. Ein System von Reaktionskammern und Filtern garantiert, daß freigesetzte Reaktionsprodukte den Bestimmungen der 17. Bundesimmissionsschutzverordnung entsprechen. Die Pinnower Anlage ist die einzige genehmigte ihrer Art in Deutschland.

Technologische Herausforderungen

Von den bislang demontierten 360000 Raketen waren 6000 Großraketen mit einer Länge von mehr als vier Metern. So unterschiedlich wie ihr konstruktiver Aufbau ist auch ihr oft von den vertraglich festgelegten Vereinbarungen abweichender Zustand; demgemäß sind bei der Demontage verschiedene Abläufe zu beachten. Bei allem Know-how der Mitarbeiter über die Konstruktion russischer Raketen – viele waren im Werk selbst hergestellt worden, so 15000 Lenkraketen vom Typ "Konkurs" – mußte doch jedes Exemplar so behandelt werden, als seien alle Spreng- und Pyromittel noch vorhanden, zumal die Originaldokumentation von der NVA häufig vernichtet worden war. Zudem erwies sich die Demontage verschiedener Waffensysteme als äußerst kompliziert, weil deren Entwickler eine Entsorgung gar nicht vorgesehen hatten.

Nach Möglichkeit sollen Wertstoffe zurückgewonnen und in den Wirtschaftskreislauf rückgeführt werden. Dem stehen diverse Widrigkeiten entgegen. So treten Metalle meist als Legierungen auf, deren Einschmelzen und Recycling kompliziert ist. Gleiches gilt für Flüssigkeiten: Es sind häufig Gemische, die aufwendige und kostenintensive Trennverfahren erfordern. Andererseits kommen wirtschaftlich interessante Materialien oft nur in geringen Mengen vor. Ein in diesem Zusammenhang wenig bekanntes Problem ist, daß beispielsweise bei einem Panzer vom Typ T-55 außer Eisen, Blei und Aluminium auch 60 Kilogramm behandeltes Holz, 27 Kilogramm Glas, 638 Kilogramm Gummi, 10 Kilogramm Batteriesäure, 3 Kilogramm Ölpapier und unterschiedliche Öle anfallen. Insbesondere das PCB-haltige Holz muß als Sondermüll entsorgt werden.

Bei der Raketendemontage fallen außer dem Sprengstoff im Gefechtskopf auch pyrotechnische Zündmittel an, die ebenfalls umweltgerecht entsorgt werden müssen. Dazu bedient man sich einer Technik, bei der die Stoffe in einem Vakuum zur Detonation gebracht und die Reaktionsprodukte katalytisch nachverbrannt werden (Bild 3). Derzeit erwägt das Unternehmen, die freiwerdende Energie zur Entsorgung anderer Problemstoffe – etwa aus dem Pharmabereich – einzusetzen.

In 22 Liegenschaften der NVA waren zudem 4500 Tonnen Raketen-Flüssigtreibstoff gelagert, der aus dem krebserzeugenden und hochgiftigen Samin sowie hochkonzentrierter Salpetersäure besteht. Im Unterauftrag der Buck Inpar trennten Spezialfirmen die beiden Komponenten wieder, zerlegten das Samin in seine chemischen Bestandteile und führten diese einer industriellen Nutzung zu; die Salpetersäure ließ sich unter anderem zu Düngemitteln weiterverarbeiten. Die teilweise unterirdischen Tanks wurden von Buck neutralisiert und das Spülwasser in der Anlage 418 entsorgt. Eine abschließende Prüfung der verschiedenen Liegenschaften stellte sicher, daß die nächsten Nutzer keinerlei Gefährdung ausgesetzt sind.


Nahziele

Die Entsorgung der NVA-Munition wird Ende 1995 im wesentlichen abgeschlossen sein. Bereits im vergangenen Jahr verschob sich der Schwerpunkt der Aktivitäten dementsprechend hin zum Systembau – insbesondere fertigt das IWP Gebäude-Module, die den heimkehrenden russischen Soldaten Wohnraum bieten (Bild 4).

Die verschiedenen Geschäftsfelder wurden unter zwei Gesichtspunkten konzipiert. Zum einen sollte Zugang nur zu solchen Märkten gesucht werden, die sich kurz- und mittelfristig vermutlich überdurchschnittlich schnell entwickeln: Entsorgung und Sanierung, Medizintechnik (etwa mit Spezialmöbeln für Pflegebedürftige) und Systembau. Zum anderen soll die öffentliche Hand als Auftraggeber verstärkt angesprochen werden, denn mehr als 40 Jahre Fertigung von Produkten für das DDR-Verteidigungsministerium bedeuten auch profundes Wissen über behördliche Planungsprozesse, Budgetierungen und Kriterien für die Vergabe von Aufträgen.

Kann Pinnow als Modell dienen?

Pflugscharen aus Schwertern haben keinen Markt, denn sie wären zu teuer; das dürfte für die meisten militärischen Produkte gelten. Maschinen oder Anlagen aus der wehrtechnischen Fertigung sind zudem nur in Ausnahmefällen für die effiziente und betriebswirtschaftlich sinnvolle Herstellung alternativer Produkte geeignet. Das Kapital, auf dem das Projekt Pinnow baut, sind die Mitarbeiter mit ihrer Motivation und Ausbildung, ihren Erfahrungen und Qualitätsansprüchen. Konversion ist somit eine Vision, die zu verwirklichen uns nur dann gelingt, wenn alle diese Faktoren zusammentreffen.

Häufig bedeutet Konversion in Deutschland, sich mit Produkten und Dienstleistungen auf Märkte zu begeben, die bereits besetzt und gesättigt sind; immer heißt es, sich ohne Schonzeit dem Wettbewerb zu stellen. Dies unterscheidet den Prozeß grundsätzlich von der Lage in Osteuropa, vor allem in Staaten der GUS, wo sich der Markt erst entwickeln muß. Mithin ist die Politik gefordert, auch die Rüstungskonversion zu fördern.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 107
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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