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Entwicklung: Mit Vollgas erwachsen

Werden Kinder regelmäßig Opfer von Gewalt oder ­erleiden andere Traumata, scheint sich ihr Gehirn schneller zu ­entwickeln. Was kurzfristig Vorteile bringen mag, verursacht auf lange Sicht Probleme.
Ein Teddybär liegt auf der Straße

Mit Erinnerungen ist es wie mit ­alten Fotografien: Im Lauf der Zeit beginnen sie zu verblassen. Wir vergessen dann den Namen des alten Klassenkameraden und wissen nicht mehr genau, ob er eine Brille trug. Dennoch können wir uns oft erstaunliche Details aus der Vergangenheit vor Augen rufen, wenn wir nur tief genug im Gedächtnis kramen – die kratzige Hose, die wir zur Erstkommunion tragen mussten; die Leckereien in unserer Schultüte oder die Farbe unseres Ranzens.

Doch wenn wir im Album unseres Lebens weit genug zurückblättern, stoßen wir irgendwann auf Seiten, die vollständig leer sind. Wer erinnert sich noch an den ersten Tag im Kindergarten? Die Geburt der zwei Jahre jüngeren Schwester? Die ersten Schritte? Die Bilder aus unseren ersten drei oder vier Lebensjahren fehlen meist komplett. Sie wurden zwar ursprünglich eingeklebt (Kleinkinder können sich ja sehr wohl an vergangene Erlebnisse erinnern), dann aber offenbar wieder entfernt oder in irgendeinen Zettelkasten verbannt, in dem sie sich nicht wiederfinden lassen. In der Wissenschaft trägt das Phänomen den Namen Kindheitsamnesie.

Die Ursache dieses Gedächtnisschwunds ist noch nicht vollständig bekannt. Viele Forschende gehen aber davon aus, dass er etwas mit der Reifung des Gehirns zu tun hat. Wir Menschen sind übrigens nicht die einzige Spezies, die darunter leidet. Erwachsene Ratten, die in einem farblich gekennzeichneten Teil ihres Käfigs einen leichten Elektroschock erhalten, meiden diesen Bereich noch Wochen später. Junge Ratten haben das schmerzhafte Erlebnis dagegen nach kurzer Zeit vollständig vergessen.

Allerdings können traumatische Erfahrungen kurz nach der Geburt offenbar dafür sorgen, dass die Jung­tiere sich Erfahrungen fast so dauerhaft einprägen wie ausgewachsene Nager. In einem Experiment trennte die australische Psychologin Bridget Callaghan neugeborene Ratten drei Stunden täglich von ihrer Mutter, und das über einen Zeitraum von zwei Wochen. Die so gestressten Tiere zeigten später bei Elektroschock-Tests kaum Anzeichen der typischen Kindheitsamnesie. Ihr Gehirn verhielt sich diesbezüglich nun ähnlich wie das von erwachsenen Ratten – fast so, als wäre es schneller gereift  ...

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Gehirn&Geist – Verbrechen: Die Psychologie des Bösen

Warum faszinieren wahre Verbrechen? True Crime ist ein Spiegel unserer psychologischen Neugier: Was macht Menschen zu Tätern – und wie gelingt es Ermittlern, die Wahrheit ans Licht zu bringen? In dieser Ausgabe geht es um die Kräfte, die Menschen in den Abgrund treiben oder zurückholen. Wir zeigen, warum Rache selten Frieden bringt, wie gefährliche Häftlinge in Sicherungsverwahrung leben, was das Stockholm-Syndrom über Überlebensstrategien verrät und mehr.

Gehirn&Geist – Multiple Persönlichkeit: Was hinter der dissoziativen Identitätsstörung steckt

Manche Menschen scheinen verschiedene Ichs in sich zu tragen, die im Wechsel die Kontrolle über den Körper übernehmen – mit jeweils eigenem Alter, Namen und Geschlecht. Unsere Experten, die zu dissoziativen Phänomenen forschen, stellen die wichtigsten Fakten zur »Multiplen Persönlichkeit« vor. Ergänzend dazu geht die Psychologin Amelie Möhring-Geisler der Frage nach, ob rituelle Gewalt in der Kindheit gezielt Persönlichkeitsspaltungen herbeiführt. In dieser Ausgabe beginnt zudem eine neue Artikelserie zum Thema »Long Covid und ME/CFS«. Im Interview spricht Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité über Ursachen von ME/CFS, den Versorgungsmangel in Deutschland und Hoffnung auf Medikamente. Darüber hinaus berichten wir über das Glücksparadox, das besagt: Je mehr wir dem Glück hinterherjagen, desto weiter entfernt es sich. Wir stellen das Thema psychotherapeutische Patientenverfügung vor, die im psychischen Krisenfall eine große Hilfe sein kann, sowie die noch immer rätselhafte Schmerzerkrankung Fibromyalgie, über deren Ursachen noch viel spekuliert wird.

Spektrum Kompakt – Chronische Schmerzen

Wiederkehrende Schmerzen kennt etwa jeder fünfte Deutsche und schon einfache Methoden wie ein Aufenthalt in der Natur oder ein Spaziergang können helfen. Neue Schmerztherapien konzentrieren sich inzwischen darauf, Leid statt Schmerz zu reduzieren. Das Fasziengewebe spielt dabei eine wichtige Rolle.

  • Quellen

Anegroaie, P. et al.: Development of somatosensory-evoked potentials in foetal sheep: effects of betamethasone. Acta Physiologica 220, 2017

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Chechik, G. et al.: Synaptic pruning in development: a computational account. Neural Computation 10, 1998

Colich, N. L. et al.: Biological aging in childhood and adolescence following experiences of threat and deprivation: A systematic review and meta-analysis. Psychological Bulletin 146, 2020

Colich, N. L. et al.: Biological aging in childhood and ado-lescence following experiences of threat and deprivation: A systematic review and meta-analysis. Psychological Bulletin 146, 2020

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Gee, D. G. et al: Adversity accelerates amygdala–PFC development. PNAS 110, 2013

Greifzu, F. et al.: Environmental enrichment extends ocular dominance plasticity into adulthood and protects from stroke-induced impairments of plasticity. PNAS 111, 2014

Guadagno, A. et al.: Effects of early life stress on the developing basolateral amygdala-prefrontal cortex circuit: The emerging role of local inhibition and perineuronal nets. Frontiers in Human Neuroscience 15, 2021

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Tyborowska, A. et al.: Early-life and pubertal stress differentially modulate grey matter development in human adolescents. Science Reports 8, 2018

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Vo, N. et al.: A cAMP-response element binding protein-induced microRNA regulates neuronal morphogenesis. PNAS 102, 2005

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